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Rechtsprechung


Aktenzeichen: 2 Ws 111/03 OLG Hamm

Leitsatz: Zur Annahme einer negativen Kriminalprognose i.S.d. § 81 g StPO, wenn seit der Anlasstat längere Zeit verstrichen ist

Senat: 2

Gegenstand: Beschwerde

Stichworte: DNA; Entnahme einer Speichelprobe, negative Kriminalprognose, langer Zeitraum seit der Anlasstat

Normen: StPO 81 g

Beschluss: Strafsache
gegen D.B.
wegen Vergewaltigung u.a. (hier: Beschwerde des Verurteilten gegen die Anordnung der Entnahme einer Speichelprobe und deren molekulargenetischer Untersuchung sowie der Feststellung und Speicherung des DNA-Identifizierungsmusters)

Auf die Beschwerde des Verurteilten vom 12. Februar 2003 gegen den Beschluss der
1. großen Strafkammer des Landgerichts Hagen vom 11. Februar 2003 hat der
2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 14. 05. 2003 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Landgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:

Die Beschwerde wird auf Kosten des Beschwerdeführers verworfen.

Gründe:
I.
Gegen den Verurteilten ist durch rechtskräftiges Urteil der 1. großen Strafkammer des Landgerichts Hagen vom 11. Februar 2003 wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch eines Kindes und sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen in zwei Fällen sowie wegen sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen in einem weiteren Fall auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten erkannt worden. Die Geschädigte ist am 29. Juli 1977 geboren.

Dem Urteil liegen folgende tatsächliche Feststellungen zu Grunde:

„ 1.
Am 06. März 1991 hielt sich der Angeklagte allein mit seiner Stieftochter E. in der Kellerbar auf und veranlasste sie, mehrere Gläser Likör zu trinken. Das Mädchen, das sonst nur gelegentlich Krefelder getrunken oder zum Essen etwas Wein probiert hatte, wurde von dem Likör betrunken und müde. Der Angeklagte schlug ihr deshalb vor, sich auf das Sofa zu legen. Als E. sich hingelegt hatte, forderte der Angeklagte sie auf, sich zu entkleiden, um besser schlafen zu können. Als das Mädchen sich weigerte, riss der Angeklagte, der neben dem Sofa stand, ihr die Hose und den Schlüpfer herunter, zog seine Hose herunter, kniete sich über sie und drückte ihre Beine auseinander. Dann führte er sein erigiertes Glied in die Scheide des Mädchens ein und vollzog mit ihr den ungeschützten Geschlechtsverkehr, der zur Defloration des Mädchens führte. Ob der Angeklagte zum Samenerguss kam, konnte nicht festgestellt werden. Den von ihm erkannten Widerstand des Mädchens gegen sein Verhalten brach der Angeklagte durch Einsatz seiner körperlichen Überlegenheit. Danach stand er auf und zog seine Hose wieder an. E. zog sich auch wieder an und flüchtete in ihr Zimmer.

In den nächsten Tagen vertraute E. sich in der Schule einer Freundin an. Diese erzählte das Gehörte weiter, so dass schließlich eine Lehrerin davon erfuhr. Die Lehrerin rief bei dem Angeklagten an, der den Vorwurf jedoch abstritt. Anschließend stellte der Angeklagte E. zur Rede und verlangte von ihr, in der Schule zu sagen, dass der Vorwurf falsch sei und sie sich nur gestritten hätten. Entsprechend verhielt sich E. auch und wurde daraufhin in der Schule verspottet und beschimpft.

2.
Am darauffolgenden Tag forderte der Angeklagte E. auf, nicht in die Schule zu gehen, und erklärte ihr, er werde ihr jetzt zeigen, was eine Vergewaltigung sei. Er stieß sie in das Schlafzimmer und dort auf das Ehebett und versuchte, ihr die Kleidung vom Leib zu reißen. Als E. um sich trat und um Hilfe rief, hielt er ihr den Mund zu und würgte sie, so dass sie keine Luft mehr bekam. Da das Fenster offenstand, war der Vater des Angeklagten auf die Hilfeschreie aufmerksam geworden. Er klingelte an der Wohnungstür und fragte den Angeklagten, der ihm öffnete, weshalb das Mädchen nicht in der Schule sei und schreie. Es gelang dem Angeklagten, seinen Vater zu beruhigen. Dann kehrte er in das Schlafzimmer zurück und hielt dem weiterhin schreienden Mädchen den Mund zu. Schließlich gelang es ihm, E. die Kleidungsstücke herunter zu reißen. Er legte sich auf sie, hielt ihre Arme fest und drückte ihre Beine auseinander. Dann führte er mit ihr den Geschlechtsverkehr durch.

3.
Am 06.03.1993 hielt sich der Angeklagte wiederum mit E. in der Kellerbar auf und vollzog dort mit ihr den Geschlechtsverkehr, wobei sie unbekleidet auf dem Fußboden lag.“

In der Hauptverhandlung vom 11. Februar 2003 hat die 1. große Strafkammer des Landgerichts Hagen vor der Erklärung des Verurteilten über den Verzicht auf die Einlegung von Rechtsmitteln auf Antrag der Staatsanwaltschaft die Entnahme von Körperzellen zum Zwecke der DNA-Identitätsfeststellung, deren molekulargenetische Untersuchung sowie die Feststellung und Speicherung des DNA-Identifizierungsmusters angeordnet.

Der hiergegen gerichteten Beschwerde des Verurteilten vom 12. Februar 2003 hat das Landgericht Hagen durch Beschluss vom 17. März 2003, auf den wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird, nicht abgeholfen.

II.
Die zulässige Beschwerde ist nicht begründet. Das Landgericht Hagen hat zu Recht die angegriffenen Maßnahmen gegen den Verurteilten angeordnet.

Mit dem Landgericht Hagen ist auch der Senat in Kenntnis der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 14. Dezember 2000 in NStZ 2001, 328 ff. = StV 2001, 145 ff.; Beschluss vom 20. Dezember 2001 in StV 2003, 1 ff.) der Auffassung, dass die Voraussetzungen der §§ 2 DNA-Identitätsfeststellungsgesetz (DNA-IFG), 81 g StPO erfüllt sind. Nach § 2 DNA-IFG dürfen unter den Prämissen des § 81 g StPO auch gegen einen wegen einer der dort aufgeführten Straftaten rechtskräftig Verurteilten die nach dieser Vorschrift zulässigen Maßnahmen angeordnet werden.

Die hiernach erforderliche Anlasstat, die eine Straftat von erheblicher Bedeutung und daher zumindest von mittlerer Kriminalität sein muss, liegt vor. Der Beschwerdeführer
ist durch Urteil des Landgerichts Hagen vom 11. Februar 2003, rechtskräftig seit diesem Tag, wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch eines Kindes und sexuellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen in zwei Fällen und wegen sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen in einem weiteren Fall zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt worden. Damit hat er in drei Fällen Katalogtaten des § 81 g StPO in Form von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung begangen, die bei den beiden Vergewaltigungsdelikten auf Grund des Mindeststrafmaßes von zwei Jahren Freiheitsstrafe nach § 177 StGB a.F. jeweils als Verbrechen zu qualifizieren sind. Bei diesen Regelbeispielen wird die Erheblichkeit der Tat vermutet. Hinweise auf eine von der Regel abweichende Ausnahme von der Erheblichkeit, die etwa bei der Verhängung einer Bewährungsstrafe vorliegen könnte, sind hier nicht ersichtlich.

Nach Ansicht des Senats ist dem Verurteilten in Übereinstimmung mit der Einschätzung des Landgerichts Hagen auch eine negative Kriminalprognose i.S.d. § 81 g StPO zu stellen. Eine solche ist gegeben, wenn wegen der Art oder Ausführung der bereits abgeurteilten Straftat, der Persönlichkeit des Verurteilten oder sonstiger Erkenntnisse Grund zu der Annahme besteht, dass gegen ihn künftig erneut Strafverfahren wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung zu führen sind. Für die Annahme einer derartigen Wiederholungsgefahr bedarf es positiver, auf den Einzelfall bezogener Gründe. Eine tragfähige Entscheidung muss nach zureichender Sachaufklärung auf schlüssigen, verwertbaren und nachvollziehbar dokumentierten Tatsachen beruhen sowie unter Abwägung aller bedeutsamen Umstände die richterliche Annahme der Wahrscheinlichkeit künftiger Straftaten von erheblicher Bedeutung belegen (BVerfG a.a.O.).

Diesen Anforderungen wird der angefochtene Beschluss in Verbindung mit dem Nichtabhilfebeschluss noch gerecht. Zwar beschränkt sich der Anordnungsbeschluss lediglich auf eine formelhafte Wiederholung des Gesetzestextes, die zur Begründung der angeordneten Maßnahmen nicht ausreicht (vgl. BVerfG a.a.O. und NJW 2001, 879 f.). Der Nichtabhilfebeschluss legt aber unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die im Urteil vom 11. Februar 2003 getroffenen Feststellungen hinreichend deutlich dar, dass „Tatbegehung und Täterpersönlichkeit Umstände aufweisen, die trotz des Zeitablaufs von 10 bzw. 12 Jahren zwischen Taten und Urteil Grund zu der Annahme geben“, dass gegen den Verurteilten „künftig Strafverfahren wegen vergleichbarer Taten zu führen sind“.

Diese Beurteilung wird vom Senat geteilt. Die Schwere der Delikte, das Verhalten des Verurteilten vor, während und nach den Taten, seine Beweggründe für deren Begehung sowie die dichte Zeitfolge der beiden Vergewaltigungen offenbaren ein ganz erhebliches Maß an krimineller Energie. Es handelt sich bei allen drei Taten um gravierende Eingriffe in das sexuelle Selbstbestimmungsrecht seiner Stieftochter, die bei den Vergewaltigungen erst 13 Jahre alt war. Bei der ersten Tat machte der Verurteilte sie gezielt mit Likör betrunken, bevor er mit ihr gewaltsam den ungeschützten Geschlechtsverkehr vollzog und sie deflorierte. Als ihm bekannt wurde, dass das Mädchen sich einer Klassenkameradin anvertraut hatte, zwang er es, in der Schule seine gegen ihn erhobenen Vorwürfe wahrheitswidrig zu widerrufen und sich so selbst als vermeintliche Lügnerin bloßzustellen. Hierdurch setzte der Verurteilte das Kind zusätzlich zu den psychischen Belastungen durch die Tat selbst in demütigender Weise bewusst der Häme und dem Gespött seiner Mitschüler aus. Als weitere Strafaktion verging er sich nur wenige Tage nach der ersten Tat erneut an ihr. Diese zweite Vergewaltigung weist gegenüber der ersten ein wesentlich höheres Gewaltpotential auf. Der Verurteilte würgte seine Stieftochter, bis sie kaum noch Luft bekam, und ließ sich auch durch die Zäsur, die durch die Intervention seines Vaters eingetreten war, nicht von der Verwirklichung seines Vorhabens abhalten. Die in diesen Tatmodalitäten dokumentierte erhebliche kriminelle Energie, die der Persönlichkeit des Verurteilten immanent ist, begründet eine hohe Wahrscheinlichkeit für die Annahme, er werde sich künftig wegen gleichartiger Straftaten zu verantworten haben. Dieser Negativprognose steht auch nicht entgegen, dass zwischen den inkriminierten Taten und dem Urteil des Landgerichts Hagen vom
11. Februar 2003 zehn bzw. zwölf Jahre verstrichen sind, in denen der Verurteilte nicht einschlägig strafrechtlich in Erscheinung getreten ist. Zwar ist in der Rechtsprechung (vgl.
LG Hannover, StV 2000, 302 f.; LG Berlin, StV 2000, 302; LG Bremen, StV 2000, 303 f.; LG Aurich, StV 2000, 609; AG Stade, StV 2000, 304 f.) eine negative Kriminalprognose verneint worden, wenn die Anlasstat etliche Jahre zurücklag und der Täter sich in dieser Zeit straffrei geführt hatte. Diese Entscheidungen sind aber auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar. Zum einen stützen sie sich jeweils auf eine grundlegende Veränderung der Lebensverhältnisse des Verurteilten, die hier nicht festgestellt werden kann. Nach den Feststellungen des landgerichtlichen Urteils ist er bereits zu den Tatzeiten wie jetzt einer geregelten Erwerbstätigkeit nachgegangen. Seine Ehe mit der Mutter der Geschädigten ist zwar 1994 geschieden worden mit der Folge, dass der Verurteilte zu seiner ehemaligen Familie keinen Kontakt mehr unterhält. Er hat aber 1995 erneut geheiratet. Ob auch seine zweite Ehefrau Stiefkinder mit in die Beziehung gebracht hat, die Opfer von Sexualstraftaten werden könnten, lässt sich weder dem Urteil noch dem angefochtenen Beschluss oder dem Nichtabhilfebeschluss entnehmen. In Anbetracht der hohen kriminellen Energie des Verurteilten hält der Senat es jedoch für wahrscheinlich, dass er derartige Delikte nicht nur gegen Familienangehörige, sondern bei entsprechender Gelegenheit auch gegen Außenstehende verüben wird. Denn aus der zwischen den ersten Anlasstaten und dem Urteil des Landgerichts Hagen vom 11. Februar 2003 erfolgten Verurteilung wegen Körperverletzung ergibt sich, dass der Verurteilte das Interesse anderer an körperlicher Integrität gering achtet. Zudem hat er nach den nur wenige Tage auseinander liegenden beiden Vergewaltigungen bis zur dritten Straftat zum Nachteil seiner Stieftochter immerhin zwei Jahre verstreichen lassen, in denen er nicht straffällig geworden ist. Dies zeigt, dass bei dem Verurteilten auch eine längere Phase gesetzeskonformen Verhaltens nicht den Schluss erlaubt, es bestehe keine Wiederholungsgefahr mehr.

Bei der erforderlichen Güterabwägung zwischen dem Recht des Verurteilten auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG und dem Recht der Allgemeinheit auf effektive Strafverfolgung sowie Prävention gewinnt ersteres zwar um so mehr Bedeutung, je länger die Anlasstaten zurückliegen (vgl. AG Stade a.a.O.). Andererseits ist aber zu berücksichtigen, dass nach § 2 DNA-IFG gegen einen Verurteilten so lange Maßnahmen nach § 81 g StPO angeordnet werden können, bis die Eintragung der Verurteilung im Bundeszentralregister gelöscht ist. Nach § 46 Abs. 1 Nr. 3 BZRG beträgt die Tilgungsfrist bei Verurteilungen wegen einer Straftat nach den §§ 174 bis 180 StGB zu einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr 20 Jahre. Wenn die Anordnung derartiger Maßnahmen noch in einem solchen Zeitraum nach der Verurteilung möglich ist, erscheint sie angesichts der Schwere und Bedeutung der verfahrensgegenständlichen Taten sowie der Höhe der kriminellen Energie des Verurteilten binnen dieser Zeitspanne nach der Tatbegehung und erst recht wie hier nach etwa der Hälfte dieser Zeit nicht unverhältnismäßig.

Nach allem war die Beschwerde zu verwerfen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.


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