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Entscheidungen

OWi

Pflichtverteidiger, Bußgeldverfahren, Analphabetismus des Betroffenen

Gericht / Entscheidungsdatum: BayObLG, Beschl. v. 21.11.2022 - 201 ObOWi 1363/22

Leitsatz des Gerichts:

Eine Pflichtverteidigerbestellung in Bußgeldverfahren ist nur in Ausnahmefällen geboten. Einem Analphabeten ist aber für die Hauptverhandlung ein Verteidiger zu bestellen, wenn eine sachgerechte Verteidigung Aktenkenntnis erfordert oder eine umfangreiche Beweisaufnahme dem Betroffenen Anlass gibt, sich Notizen über den Verhandlungsablauf und den Inhalt von Aussagen zu machen, weil er sie als Gedächtnisstütze benötigt. In diesem Fall liegt nach § 140 Abs. 2 StPO, § 46 Abs. 1 OWiG ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, weil ersichtlich ist, dass sich der Betroffe-ne nicht selbst verteidigen kann.


In pp.

I. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Rosenheim vom 08.08.2022 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
II. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kos-ten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht Rosenheim zurückverwiesen.

Gründe

I.

Das Amtsgericht hat den Betroffenen in der Hauptverhandlung vom 08.08.2022 in seiner An-wesenheit und in Abwesenheit seines Wahlverteidigers mit Urteil vom 08.08.2022 wegen fahrlässiger Missachtung des Rotlichts der Lichtzeichenanlage unter Gefährdung anderer, begangen am 08.01.2022, zu einer Geldbuße von 200 Euro verurteilt und ein mit einer Anordnung gemäß § 25 Abs. 2a StVG versehenes Fahrverbot für die Dauer eines Monats verhängt. Mit Schriftsatz vom 08.08.2022, eingegangen beim Amtsgericht am selben Tag, hatte der Verteidiger des Betroffenen einen Beweisantrag gestellt und beantragt, wenn das Verfahren nicht eingestellt wer-den sollte, dem Betroffenen als Pflichtverteidiger beigeordnet zu werden, da der Be-troffene nicht lesen und schreiben könne. Mit seiner gegen das Urteil vom 08.08.2022 gerichteten Rechtsbeschwerde rügt der Betroffene die Verletzung for-mellen und materiellen Rechts, insbesondere die Ablehnung des Beweisantrags und die Nichtbeiordnung eines Pflichtverteidigers. Die Generalstaatsanwaltschaft hat mit Stellungnahme vom 21.10.2022 beantragt, auf die Rechtsbeschwerde des Betroffe-nen das Urteil des Amtsgerichts aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen. Dazu hat sich der Vertei-diger mit Gegenerklärung vom 15.11.2022 geäußert.

II.

Die gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 OWiG statthafte und auch sonst zulässige Rechtsbeschwerde des Betroffenen hat - zumindest vorläufig - Erfolg. Mit der noch hinreichend ausgeführten Verfahrensrüge der Verletzung des § 338 Nr. 5 StPO i.V.m. § 140 Abs. 2 StPO wird zu Recht geltend gemacht, dass die Hauptverhand-lung ohne Verteidiger durchgeführt wurde, obwohl ein Fall notwendiger Verteidigung vorlag. Eines Eingehens auf die weitere Verfahrensrüge und auf die Sachrüge bedarf es damit nicht mehr.

1. Die Rüge wurde zulässig erhoben. Insbesondere sind die Begründungsanforde-rungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG noch ausrei-chend erfüllt. So wurde in der Rechtsbeschwerdebegründung ausgeführt, dass der Wahlverteidiger des Betroffenen in der Hauptverhandlung abwesend war und durch das Gericht keine Entscheidung über den Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidi-gers erfolgte, desgleichen welche Verfahrenshand-lungen an diesem Tag vorge-nommen wurden. Den Grund der Abwesenheit des Wahlverteidigers an diesem Tag musste die Rechtsbeschwerde nicht mitteilen, da er für die Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO ohne Belang ist. Aus dem Vortrag der Rechtsbeschwerde ergibt sich zudem noch hinreichend, dass der Betroffene nicht lesen und schreiben kann und dies dem Gericht bekannt war. Für die Prüfung der Verfahrensrüge kann der Senat zudem aufgrund der erhobenen Sachrüge ergänzend auf die Gründe des Urteils zu-rückgreifen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt StPO 65. Aufl. § 344 Rn. 20).

2. Die Rüge hat auch in der Sache Erfolg. Der (absolute) Rechtsbeschwerdegrund nach § 338 Nr. 5 StPO i.V.m. § 140 Abs. 2 StPO ist gegeben, da die Hauptverhand-lung in Abwesenheit eines Verteidigers stattfand, obwohl ein Fall notwendiger Vertei-digung vorlag.

a) Aufgrund der Verweisung des § 46 Abs. 1 OWiG gelten die Vorschriften über die notwendige Verteidigung nach §§ 140, 141 StPO auch im gerichtlichen Bußgeldver-fahren (h.M.; vgl. u.a. Löwe/Rosenberg StPO 26. Aufl. § 140 Rn. 42; KK/Senge O-WiG 5. Aufl. § 71 Rn. 17; Göhler/Seitz/Bauer OWiG 18. Aufl. vor § 67 Rn. 14; BayObLG, Beschl. v. 18.09.1978 - 1 Ob OWi 476/78 = BayObLGSt 1978, 144 = NJW 1979, 771 = DAR 1979, 81 = AnwBl 1979, 38 = Rpfleger 1978, 452 = VRS 56 [1979], 148), jedenfalls dann, wenn es zu einer Hauptverhandlung kommt. Eine Pflichtverteidigerbestellung in Bußgeldverfahren ist aber nur in Ausnahme-fällen ge-boten.

b) Nach §§ 140 Abs. 2 StPO, 46 Abs. 1 OWiG liegt ein Fall der notwendigen Vertei-digung u.a. dann vor, wenn ersichtlich ist, dass sich der Betroffene nicht selbst ver-teidigen kann. § 140 Abs. 2 StPO ist schon anwendbar, wenn an der Fähigkeit zur Selbstverteidigung erhebliche Zweifel bestehen (Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. § 140 Rn. 30a; OLG Frankfurt StV 1984, 370). Zwar folgt nicht allein aus dem Umstand, dass der Betroffene nach Verteidigerangaben nicht lesen und schreiben kann, dass sich der Betroffene nicht selbst verteidigen kann. Bei einem Analphabeten ist nicht stets von Verteidigungsunfähigkeit, sondern regelmäßig nur von einer verminderten Verteidigungsfähigkeit auszugehen (LG Berlin, Beschl. v. 15.06.2021 - 525 Qs 34/21 = StraFo 2021, 345 = StV Spezial 2021, 109; LG Verden, Beschl. v. 29.03.2011 - 1 Qs 34/11 = BeckRs 2012, 15259). Einem Analphabeten ist aber für die Hauptver-handlung ein Verteidiger zu bestellen, wenn eine sachgerechte Verteidigung Akten-kenntnis erfordert oder eine umfangreiche Beweisaufnahme dem Betroffenen Anlass gibt, sich Notizen über den Verhandlungsablauf und den Inhalt von Aussagen zu ma-chen, weil er sie als Gedächtnisstütze benötigt (LG Berlin a.a.O.; OLG Celle, Beschl. v. 01.09.1992 - 1 Ss 256/92 bei juris). Diese Voraussetzungen liegen hier vor.

c) Die Urteilsfeststellungen sprechen nicht gegen die Richtigkeit der Behauptung, der Betroffene sei Analphabet, auch wenn sich dadurch die Frage der Fahrtauglichkeit sowie die Frage, wie der Betroffene eine Fahrerlaubnis erwerben konnte, aufdrängt.

d) Es ist bereits fraglich, ob der von dem Amtsgericht festgestellte Sachverhalt an-gesichts der Fußgängerfurt, des Linksabbiegens und der Ampelschaltung nicht ein schwieriger Sachverhalt ist. Jedenfalls bestehen aufgrund der Einvernahme mehre-rer Zeugen und der Inaugenscheinnahme einer polizeilichen Skizze mit Text auf-grund des nicht widerlegten Analphabetismus bei dem Betroffenen erhebliche Zweifel daran, dass er sich selbst angemessen verteidigen konnte. Maßgeblich für den Tat-nachweis waren die Zeugenaussagen und die in Au-genschein genommenen Licht-bilder und Skizzen. Die Einlassung des Betroffenen sah das Gericht durch die Be-weismittel als widerlegt an. Die beantragte Zeugeneinvernahme hat das Gericht ab-gelehnt, weil eine behauptete Tatsache als wahr unterstellt wurde und im Übrigen keine Beweistatsachen, sondern nur Beweisziele behauptetet worden seien. Ange-sichts der nicht ganz einfachen Beweisaufnahme mit detailreichen Aussagen von drei Zeugen, Skizzen mit Text und Ablehnung des Beweisantrags ist der Vortrag der Rechtsbeschwerde, der Betroffene habe sich zumindest die Zeugenaussagen notie-ren müssen, um diese zu vergleichen und auf Widersprüche untersuchen zu können, nicht von der Hand zu weisen. Die mündliche Darstellung durch die Tatrichterin ge-nügte angesichts der nicht ganz einfachen Verfahrenslage nicht. Dafür spricht auch, dass der Betroffene ausweislich der Urteilsfeststellungen zu den Ausführungen der Zeugin nickte, um wenige Minuten später zu betonen, es sei ganz anders, als es die Zeugen geschildert hätten.

Dem steht nicht entgegen, dass der Betroffene mit der Verhandlung ohne seinen Wahlverteidiger einverstanden war und mit ihm telefonieren konnte. Die Beachtung von Verfahrensvor-schriften, deren Verletzung einen absoluten Rechtsbeschwer-degrund darstellt, steht nicht zur Disposition der Prozessbeteiligten (vgl. BayObLG, Beschl. v. 08.02.1990 - 3 St 11/90 = NStZ 1990, 250 = BeckRS 9998, 85905).
e) Der Verstoß gegen § 140 StPO stellt nach Maßgabe des § 338 Nr. 5 StPO einen absoluten Rechtsbeschwerdegrund dar, wobei diese Norm auch die Fälle des § 140 Abs. 2 StPO betrifft. Dies gilt auch dann, wenn die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO vorliegen, der Vorsitzende aber keinen Verteidiger bestellt hat. Dabei ist oh-ne Belang, dass der Betroffene einen Wahlverteidiger hatte, und aus welchem Grund dieser im Termin der Hauptverhandlung nicht erschien. Das Verfahrensrecht gewährt dem Betroffenen die im Fall der notwendigen Verteidigung sich ergebenden Rechte, darunter den unbedingten Rechtsbeschwerdegrund des § 338 Nr. 5 StPO im Fall des Ausbleibens des Verteidigers, ohne sie von der Vorsorge, der Umsicht oder dem gu-ten Willen eines anderen, auch nicht des Verteidigers selbst, ab-hängig zu machen.
f) Die Abwesenheit des Verteidigers betraf die gesamte Hauptverhandlung und damit auch einen wesentlichen Teil der Hauptverhandlung i.S.d. § 338 Nr. 5 StPO.

III.

Aufgrund des aufgezeigten Verfahrensfehlers ist auf die Rechtsbeschwerde des Be-troffenen hin das angefochtene Urteil mit den zugrunde liegenden Feststellungen und in der Kostenentscheidung aufzuheben (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 353 StPO). Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kos-ten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht Rosenheim zurückver-wiesen (§ 79 Abs. 6 OWiG).

IV.

Der Senat entscheidet durch Beschluss gemäß § 79 Abs. 5 Satz 1 OWiG.

Gemäß § 80a Abs. 1 OWiG entscheidet der Einzelrichter.


Einsender: RiBayObLG Dr. G. Gieg, Bamberg

Anmerkung:


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