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Entscheidungen

StPO

Fahrlässige Körperverletzung, Nachermittlungen im Zwischenverfahren

Gericht / Entscheidungsdatum: AG Reutlingen, Beschl. v. 07.10.2022 -5 Cs 29 Js 20198/22

Eigener Leitsatz:

1. Für Ermittlungen nach § 202 StPO ist dann kein Raum, wenn erst durch eine Ermittlungsanordnung des Gerichts ein hinreichender Tatverdacht geschaffen werden muss.
1. Zum Nachweis einer fahrlässigen Körperverletzung infolge eines Verkehrsunfalls.


5 Cs 29 Js 20198/22

Amtsgericht Reutlingen

Beschluss

In dem Strafverfahren gegen
wegen fahrlässige Körperverletzung

hat das Amtsgericht Reutlingen durch den Richter am Amtsgericht am 7. Oktober 2022 beschlossen:

Der Antrag auf Erlass eines Strafbefehls wird abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Beschuldigten werden der Staatskasse auferlegt.

Gründe:

Der im Strafbefehlsantrag angenommene hinreichende Tatverdacht einer fahrlässigen Körperverletzung ist nicht gegeben.

1. Die Beschwerden des Zeugen S. sind jedenfalls nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen nicht genügend sicher auf das Unfallgeschehen zurückzuführen. Der Zeuge S. schon wurde zu seinen körperlichen Beschwerden nicht vernommen. Zwar hat der Zeuge ein ärztliches Zeugnis zur Akte gebracht, das ist freilich oberflächlich und teilt lediglich eine Erstdiagnose mit, die im Rahmen der Prüfung einer möglichen Arbeitsunfähigkeit erhoben wurde, allerdings nicht von einem Facharzt oder einer Fachärztin für Neurologie oder wenigstens Orthopädie. Lediglich anzumerken ist, dass der weitere Verlauf der angeblichen Verletzung weder dokumentiert noch ermittelt wurde.

2. Die bei der Akte befindlichen Lichtbilder lassen nicht ansatzweise auf eine besonders heftige biomechanische Belastung schließen. Im Gegenteil: Der Unfallhergang selbst wird von den unfallaufnehmenden Beamt*innen als „unklar“ beschrieben. Der knappen Unfallaufnahme können kaum irgendwelche Anknüpfungstatsachen entnommen werden, die eine unfallanalytische Beweisaufnahme überhaupt ermöglichten. Die mit dem diagnostizierten Verletzungsbild einhergehenden medizinischen Herausforderungen blieben im Ermittlungsverfahren ebenfalls unbedacht.

a) Es besteht für das Amtsgericht auch keine Rechtspflicht nach § 202 StPO, durch eigene (umfangreiche) Ermittlungen im Zwischenverfahren die Grundlage für den hinreichenden Tatverdacht erst noch zu schaffen. Nach dem Wortlaut des Gesetzes stehen Ermittlungen im Zwischenverfahren im Ermessen des Gerichts. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich bei den in § 202 StPO benannten Beweiserhebungen um solche zur einzelnen Ergänzung oder Überprüfung eines im Ermittlungsverfahren grundsätzlich bereits aufgeklärten Sachverhalts handelt. Für Ermittlungen nach § 202 StPO ist dann kein Raum, wenn erst durch eine Ermittlungsanordnung des Gerichts ein hinreichender Tatverdacht geschaffen werden muss (vgl. LG Köln — Beschluss vom 16. November 2011- 110 Qs 19/11).

Das Gericht ist nämlich nicht der „Libero der Anklagebehörde” (KK-Schneider, 7. Aufl. 2013, § 202 StPO Rn. 3; LG Köln — 111 Qs 497/09).

Im Zwischenverfahren kommen eingedenk der strukturellen Aufgabenverteilung zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht nur einzelne ergänzende richterlich veranlasste Beweiserhebungen in Betracht. Ermittlungen größeren Umfangs zur Komplettierung des von der Staatsanwaltschaft unzulänglich belegten Anklagevorwurfs sind gesetzlich nicht vorgesehen (KK-Schneider, 7. Aufl. 2013, § 202 StPO Rn. 2; OLG Karlsruhe wistra 2004, 276, 279; OLG Saarbrücken NStZ-RR 2009, 88; OLG Celle StV 2012, 456, 457; LG Berlin NStZ 2003, 504 mit Anm. NStZ 2003, 568; Meyer-Goßner, § 202 Rn 1; Stuckenberg LR Rn 3; Radtke/Hohmann/Reinhart Rn 1; Eisenberg JZ 2011, 672; Beulke Rn 355). Gleichermaßen unstatthaft sind umfangreiche Beweisaufnahmen wie etwa die Vernehmung zentraler Zeugen zur Vorabklärung der Belastbarkeit ihrer Angaben; hierin läge ein von Rechts wegen nicht vorgesehener Vorgriff auf die Hauptverhandlung (Paeffgen SK StPO Rn. 3; Stuckenberg LR Rn. 2).

Das gilt hier umso mehr, als die Einholung zweier Sachverständigengutachtens notwendig wäre (hierzu: Balke: Medizinische Begutachtung in der Verkehrsunfallregulierung, SVR 2019, 246 m.w.N.).

b) Dem Angeschuldigten müsste nachgewiesen werden, dass der Unfall kausal zu einer Verletzung der Gesundheit eines anderen Menschen geführt hat, mithin die geklagten Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule mit der notwendigen Wahrscheinlichkeit ursächlich zur Folge hatte. Besonderes Augenmerk müsste dabei freilich auf die Befragung durch die Polzeibeamt:innen gerichtet werden, da in der forensischen Praxis zu beobachten ist, dass Beschwerdebilder durch die bloße oder (darüber hinaus ungeschickte) Befragung an der Unfallstelle erst erzeugt werden.

aa) Ein „Beweis des Ersten Anscheins“, der sich im Strafverfahren spätestens mit dem Abschluss der Ermittlungen geradezu verbietet, spricht gerade nicht für solche Verletzungen, da die medizinische Beurteilung derartiger Unfälle und die dabei entstehenden biomechanischen Belastungen in der wissenschaftlichen Literatur stark umstritten sind (Überblick zum Problemfeld, m.w.N.: NZV 2011, S. 326 und Ördekci: Die Beweisführung beim HWS-Trauma, NJW-Spezial 2017, 73). Die Annahme eines „Beweises des ersten Anscheins“ verbietet sich im Übrigen schon deswegen, weil die von den Zeugen geschilderten Beschwerden eine ganz große Vielzahl von Ursachen haben können. Diese reichen von seelischen Belastungen bis hin zu Fehlhaltungsschäden oder entzündlich-rheumatischen Erkrankungen. Der Geschädigte S., geboren 1986, geht auf die Vierzig zu.

bb) Alleine der von dem Zeugen angegebene zeitliche Zusammenhang lässt einen Rückschluss nicht zu, zumal Rückenleiden in sehr komplexen und vielfältigen Erscheinungsformen auftreten. Es besteht zudem die ernsthafte Möglichkeit, dass sich die Beschwerden schicksalhaft entwickelt haben oder bereits vorhanden waren. Deswegen reicht allein die zeitliche Nähe zwischen dem Unfallereignis und der Entstehung der Beschwerden und die daran anknüpfende „gefühlsmäßige“ Wertung, dass beide Ereignisse irgendwie miteinander im Zusammenhang stehen, nicht aus. Zugunsten des Angeschuldigten nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Unfall und die in der Bevölkerung allgemein verbreitete Fehlvorstellung über die gesundheitlichen Folgen eines Auffahrunfalls (“Schleudertrauma“) zu einer intensiveren Beschäftigung des Zeugen mit vorhandenen Grundbeschwerden oder Befindlichkeiten ohne Krankheitscharakter führten. Vorliegend schließt die in der Akte dokumentierte Befragung suggestive Einflüsse nicht aus. Dabei darf zugunsten des Angeschuldigten nicht unberücksichtigt bleiben, dass der mutmaßlich Geschädigte, ein Verkäufer, eine Woche arbeitsunfähig geschrieben wurde, dies alleine auf Grundlage subjektiver Schilderungen, ohne äußere Anzeichen einer Verletzung.

cc) Ein unfallanalytisches Gutachten wurde von der Staatsanwaltschaft nicht eingeholt. Ebenfalls wurde auf die Einholung eines medizinischen Gutachtens im Ermittlungsverfahren verzichtet. Das widerspricht anerkannten Grundsätzen, die von den Gerichten im Zivilverfahren entwickelt wurden, wobei das Verletzungsbild an sich und die von einer Überzeugung des Richters getragene Annahme der Richtigkeit eines Beweisergebnisses von der angewendeten Prozessordnung wohl unabhängig sein dürften. Fehlerfrei können eine Beweiswürdigung und die Annahme eines hinreichenden Tatverdachtes, wie hier, nur dann sein, wenn sie auf einer tragfähigen, verstandesmäßig einsichtigen Tatsachengrundlage beruhen und die vom Gericht gezogenen Schlussfolgerungen sich nicht als bloße Vermutung erweisen. Wie umfangreich und „genau“ die Tatsachengrundlage erschlossen werden muss, wobei auf die Ausführungen des Bundesgerichtshofes zu verweisen ist, hängt keinesfalls von der Art der Rechtsfolge ab, die an den Tatbestand einer unfallursächlichen Verletzung knüpft. Dem stehen schon der Untersuchungsgrundsatz und der Zweifelssatz entgegen.

dd) Allein die Angaben des Geschädigten, für diesen zumindest vorteilhaft und mit einer „Krankschreibung“ verbunden, und die Angaben der behandelnden Ärzte genügen nicht zur Beweisführung. Berücksichtigt man vorliegend die offenbar geringen biomechanischen Belastungen (Lichtbilder, Bl. 15 ff. d. Akten), kann den Angaben des (Durchgangs-)Arztes kein ausschlaggebender Beweiswert beigemessen werden. Dabei wird nicht übersehen, dass sich oft Beschädigungen unter der Kunststoffverkleidung der Stoßfänger verbergen. Dagegen spricht aber das Unfallgeschehen, wie es sich in der Akte wiederfindet. Die vorgelegten ärztlichen Atteste dokumentieren lediglich die Angaben des Zeugen für eine Diagnose als Behandlungsgrundlage. Der behandelnde Arzt ist in erster Linie als Therapeut und nicht als Gutachter tätig. Der unterstellt zu Recht die geklagten Beschwerden seines Patienten als zutreffend und therapiert auf Grundlage der subjektiven Angaben. Er wird bei einer Diagnose regelmäßig den „sichersten Weg“ wählen und schon aus haftungsrechtlichen Gründen im Zweifel eine Verdachtsdiagnose stellen und zum Beispiel eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausstellen oder eine „Cervikalstütze“ verordnen.

3. Es bleibt abschließend zu bemerken, dass sich jedenfalls aus der Verfahrensakte, die dem Strafbefehlsantrag beigefügt wurde, nicht ergibt, dass auch der Unfallbeteiligte J. konsequenterweise als Beschuldigter geführt wurde. Er fuhr auf das vom Zeugen S. geführte Fahrzeug auf.

Den Unfallbeteiligten J. nicht als Beschuldigten zu führen (Bl. 21 d.A.), ist rechtstatsächlich inkonsequent, als dass die mutmaßlichen Verletzungen des Herrn S. auch alleine von Herr J. verursacht, zumindest aber nebentäterschaftlich fahrlässig (mit-)verantwortet sein könnten: Eine Unaufmerksamkeit oder ein zu geringer Sicherheitsabstand des Herrn J. sind nicht ausgeschlossen, sondern sogar wahrscheinlich. Dass der Unfall für ihn technisch unabwendbar war, wurde trotz der Notwendigkeit einer Feststellung im Verfahren gegen den hier Angeschuldigten, sei es auch nur für die Frage seiner Schuld, nach Aktenlage verabsäumt.

Der gegen den Auffahrenden sprechende Verdacht kann zwar erschüttert werden, wenn der Vorausfahrende unvorhersehbar und ohne Ausschöpfung des Anhaltewegs „ruckartig” - etwa infolge einer Kollision - zum Stehen gekommen und der Nachfolgende deshalb aufgefahren ist. Daran fehlt es aber, wenn das vorausfahrende Fahrzeug, durch eine Vollbremsung oder Notbremsung zum Stillstand kommt, denn - was vorliegend zwanglos zu einer Nebentäterschaft führen dürfte - ein plötzliches scharfes Bremsen des Vorausfahrenden muss ein Kraftfahrer grundsätzlich einkalkulieren (BGHSt 17, 223 [225] = NJW 1962, 1308; Senat, VersR 1968, 670 [672] und NJW 1987, 1075 = VersR 1987, 358 m.w. Nachw.). Das setzt aber zwingend eine Unfallrekonstruktion voraus.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 StPO.


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