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Entscheidungen

StPO

Zustellung eines Strafbefehls, Zustellungsbevollmächtigter. Wohnsitz in der EU, Wirsamkeit unwirksam

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Heilbronn, Beschl. v. 14.11.2022 – 2 Qs 91/22

Leitsatz des Gerichts:

1. Die Zustellung eines Strafbefehls an einen Zustellungsbevollmächtigten kann die Frist zur Einlegung eines Einspruchs nach § 410 Abs. 1 StPO nicht in Gang setzten, wenn der Adressat seinen Wohnsitz außerhalb der Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen Union hat.
2. Bei der Zustellung eines Strafbefehls an einen Zustellungsbevollmächtigten kommt es für die Frist des § 410 Abs. 1 StPO auf den tatsächlichen Zugang des Strafbefehls beim Empfänger an, wenn dieser seinen Wohnsitz außerhalb der Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen Union hat.


In pp.

Auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss des Amtsgerichts Schwäbisch Hall vom 23. Mai 2022
aufgehoben.
Es wird festgestellt, dass der Einspruch des Angeklagten gegen den Strafbefehl des Amtsgerichts Schwäbisch Hall vom 17. April 2021
fristgerecht erfolgte.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten insoweit erwachsenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe

I.

Die Staatsanwaltschaft Heilbronn führt seit Januar 2021 ein Strafverfahren wegen des Verdachts des unerlaubten Entfernens vom Unfallort gegen den Angeklagten. Im Zuge dessen benannte der Angeklagte am 24. Januar 2021 im Rahmen einer „Niederschrift über eine Sicherheitsleistung“ „Frau T., U-Str., AG S.“ als Zustellungsbevollmächtigte für den Gerichtsbezirk S.. Das fragliche Formular weist folgenden Wortlaut auf:

„Die/Der Zustellungsbevollmächtigte empfängt für mich die Schriftstücke der Staatsanwaltschaft/des Gerichts/der Bußgeldstelle und sendet diese an mich weiter. Die Vollmacht erstreckt sich ausdrücklich auch auf die Empfangnahme von Ladungen meiner Person zur gerichtlichen Hauptverhandlung und anderen gerichtlich anberaumten Terminen.

Die/Der Bevollmächtigte ist ausdrücklich berechtigt Untervollmachten zu erteilen.

Mir ist bekannt, dass ich für den Fall, dass Staatsanwaltschaft und Gericht beabsichtigen, das Verfahren durch schriftlichen Strafbefehl zu erledigen, nach Art. 6 Abs. 3a MRK das Recht habe, zusätzlich zu dem Strafbefehl eine Übersetzung in meiner Hauptsprache zu erhalten.

Ich verlange, dass einem gerichtlichen Strafbefehl eine Übersetzung in meiner Heimatsprache beigefügt wird: □ ja □ nein

Auf meine Rechte und Pflichten bin ich hingewiesen worden. Für den Fall, dass eine Hauptverhandlung anberaumt wird und die Voraussetzungen des § 233 StPO vorliegen, beantrage ich, mich von der Pflicht zum Erscheinen zu entbinden: □ ja □ nein

Mir ist bekannt, dass die gesetzlichen Fristen mit dem Tage der Zustellung an die/den Zustellungsbevollmächtigte(n) zu laufen beginnen. Die/Der Zustellungsbevollmächtigte ist nicht berechtigt, für mich Rechtsmittel einzulegen.“

Auf Antrag der Staatsanwaltschaft Heilbronn erließ am 17. April 2021 das Amtsgericht S. einen Strafbefehl über ein am 24. Januar 2021 vom Angeklagten begangenes unerlaubtes Entfernen vom Unfallort. Wegen dieses Vergehens wurde eine Geldstrafe in Höhe von 40 Tagessätzen zu je 30,00 Euro nebst einem Fahrerlaubnisentzug und einer Fahrerlaubnissperre gegen den Angeklagten festgesetzt. Am selben Tag verfügte der zuständige Richter die Zustellung des Strafbefehls in russischer und lettischer Sprache an die Zustellungsbevollmächtigte, die den Empfang der übersetzten Strafbefehle am 04. Juni 2021 für beide Sprachen bestätigte.

Am 24. Juni 2021 legitimierte sich die Verteidigerin und erhob zugleich Einspruch gegen den Strafbefehl. Nach erhaltener Akteneinsicht beantragte die Verteidigerin durch Schreiben vom 02. Juli 2021 (eingegangen beim Amtsgericht S. am selben Tag) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zugleich erhob sie nochmals Einspruch gegen den Strafbefehl. Zur Begründung trug sie vor, dass der Angeklagte den Schriftsatz des Gerichts vom 21. Mai 2021 erst am 22. Juni 2022 erhalten habe. Zum Beleg dessen fügte die Verteidigerin eine Kopie des Briefumschlags bei, der nur unvollständig abgelichtet ist und deshalb weder den Absender noch den Empfänger erkennen lässt, dem sich indes entnehmen lässt, dass er am 8. Juni 2021 etikettiert und über Salzburg/Österreich versandt wurde. Eine weitere Glaubhaftmachung des Vortrags erfolgte – von einer insoweit irrelevanten anwaltlichen Versicherung der Richtigkeit der vorgebrachten Tatsachen abgesehen – nicht.

Die Staatsanwaltschaft Heilbronn beantragte daraufhin am 02. September 2021, dem Angeklagten unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Urteil vom 14. Mai 2020 (Aktenzeichen C-615/18) Wiedereinsetzung zu gewähren. Mehrere daraufhin verfasste Sachstandsanfragen von Staatsanwaltschaft (vom 13. Oktober 2021, 11. November 2021, 13. Januar 2022, 10. Februar 2022 und 09. März 2022) und der Verteidigerin (vom 24. September 2021) blieben vom Gericht ohne nennenswerte Reaktion. Erst am 2. März 2022 wurde die ‚Akte im Schrank beim Richter lose aufgefunden‘. Auf weitere Anfragen der Staatsanwaltschaft vom 13. April 2022 und 20. April 2022 per Email erging letztlich am 23. Mai 2022 die angefochtene Entscheidung, mit der der Einspruch des Angeklagten als auch dessen Wiedereinsetzungsantrag als unzulässig verworfen wurden. Dieser Beschluss wurde der Zustellungsbevollmächtigten am 24. Mai 2022 und der Verteidigerin am 15. Juni 2022 zugestellt.

Mit Schreiben vom 16. Juni 2022, eingegangen beim Amtsgericht am 20. Juni 2002, erhob die Verteidigerin sofortige Beschwerde gegen den genannten Beschluss.

II.

Die sofortige Beschwerde ist nach §§ 411 Abs. 1, 46 Abs. 3, 311 Abs. 2 StPO zulässig und in der Sache erfolgreich. Der Einspruch des Angeklagten gegen den Strafbefehl des Amtsgerichts S. vom 17. April 2021 ist mangels wirksamer Zustellung desselben nicht verfristet, sodass es auf eine Wiedereinsetzung vorliegend nicht ankommt.

1. Eine wirksame Zustellung des Strafbefehls an einen Zustellungsbevollmächtigten wäre nach § 132 StPO zur Sicherung der Durchführung des Strafverfahrens dann möglich, wenn der Beschuldigte, der einer Straftat dringend verdächtig ist, im Geltungsbereich dieses Gesetzes keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt hat, aber die Voraussetzungen eines Haftbefehls nicht vorliegen. Zuständig für diese Anordnung, die ausweislich der Niederschrift von Amtsanwältin H. angeordnet wurde, ist nach § 132 Abs. 2 StPO indes der Ermittlungsrichter, nur bei Gefahr im Verzuge sind auch die Staatsanwaltschaft und ihre Ermittlungspersonen (§ 152 des Gerichtsverfassungsgesetzes) hierfür zuständig. Der Akte lässt sich nicht ansatzweise entnehmen, aus welchem Grund eine Eilzuständigkeit vorgelegen haben soll. Überdies ist weder ersichtlich, ob der gemäß § 162 Abs. 1 StPO zuständige Richter kontaktiert wurde bzw. aus welchem Grund dies unterlassen wurde. In Betracht käme hierbei beispielsweise, dass der Beschuldigte nicht gegen seinen Willen festgehalten werden kann und daher die mit Verzögerungen verbundene richterliche Anordnung meist zu spät käme (KK-StPO/Schultheis, 8. Aufl. 2019, StPO § 132 Rn. 7). Die Anordnung der Bestellung eines Zustellungsbevollmächtigten durch die Staatsanwaltschaft ist daher rechtswidrig und hat die Unwirksamkeit einer späteren Zustellung an den Bevollmächtigten zur Folge (LG Dresden NStZ-RR 2013, 286), weil sie auf einer groben Verkennung der Voraussetzungen des Richtervorbehalts beruht (KK-StPO/Schultheis, 8. Aufl. 2019, StPO § 132 Rn. 7).

2. Der Einspruch des Angeklagten wäre darüber hinaus aufgrund der Vorgaben der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auch nicht verfristet.

Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache C-615/18 (UY) ergibt sich, dass die im Recht der Mitgliedstaaten festgelegten Modalitäten der Unterrichtung über den Tatvorwurf nicht das unter anderem mit Art. 6 der RL 2012/13 verfolgte Ziel beeinträchtigen dürfen, das, wie sich auch aus dem 27. Erwägungsgrund der Richtlinie ergibt, darin besteht, Personen, die der Begehung einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt werden, die Vorbereitung ihrer Verteidigung zu ermöglichen und ein faires Verfahren zu gewährleisten (EuGH, Urteil vom 14.05.2020 – C-615/18 (UY) Rn. 49 m.w.N.). Dieses Ziel verlangt jedoch ebenso wie die Notwendigkeit der Vermeidung jeder Diskriminierung zwischen den im Anwendungsbereich des betreffenden nationalen Gesetzes wohnhaften Beschuldigten und den nicht dort wohnhaften Beschuldigten, die allein verpflichtet sind, für die Zustellung gerichtlicher Entscheidungen einen Bevollmächtigten zu benennen, dass der Beschuldigte über die volle Frist von zwei Wochen verfügt, um gegen einen Strafbefehl wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Einspruch einzulegen (EuGH a.a.O., Rn. 50, m.w.N.). Daher muss der Beschuldigte ab dem Zeitpunkt, zu dem er von einem solchen Strafbefehl tatsächlich Kenntnis erlangt hat, so weit wie möglich in die gleiche Lage versetzt werden, als sei ihm der Strafbefehl persönlich zugestellt worden, und er muss insbesondere über die volle Einspruchsfrist verfügen (EuGH a.a.O., Rn. 51). Mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens ist es nicht zu vereinbaren, den Angeklagten auf die Möglichkeit einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu verweisen, da in diesem Fall die zweiwöchige Einspruchsfrist in eine einwöchige Frist zur Anbringung eines Wiedereinsetzungsantrags halbiert würde. Die mit einem Wiedereinsetzungsantrag verbundenen Nachweispflichten sind ebensowenig mit den Anforderungen vereinbar, die sich aus Art. 6 der RL 2012/13 ergeben (EuGH a.a.O., Rn. 55 und 57).

Soll die unmittelbare Richtlinienwirkung bei fehlender oder - wie vorliegend gegeben - mangelhafter Umsetzung tatsächlich zum Zuge kommen, muss ein umfassender Anwendungsvorrang des Unionsrechts bestehen (Frenz, Handbuch Europarecht Band V, § 4 Rn. 1131, 1133 m.w.N.). Die Pflicht, entgegenstehende nationale Vorschriften unangewendet zu lassen, besteht zudem unabhängig von der Evidenz des Verstoßes gegen das Europarecht (Burger DVBl. 2011, 985 (988)). Da dem Angeklagten nach deutschem Recht (§ 410 Abs. 1 StPO) eine Frist von zwei Wochen zugebilligt wird, binnen derer er schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle Einspruch einlegen kann, muss aufgrund des Vorrangs des Europarechts eben diese – im Gegensatz zum Wiedereinsetzungsverfahren – an keinerlei besondere Nachweispflichten gekoppelte Einspruchseinlegung auch für den Beschuldigten bis zu zwei Wochen nach seiner Kenntnisnahme von dem Strafbefehl möglich sein. Er darf aufgrund der Darlegungs- und Nachweiserfordernisse sowie der kürzeren Frist nicht auf die Möglichkeit eines Wiedereinsetzungsantrags verwiesen werden.

Bei Anwendung dieser Maßstäbe ist von einer fristgerechten Einspruchseinlegung auszugehen. Da ein konkreter Zugangsnachweis an den Beschuldigten nicht vorhanden ist und dieser (deshalb unwiderlegbar) vorgetragen hat, erst am 22. Juni 2021 Kenntnis von dem Strafbefehl erhalten zu haben, erfolgte die bereits 2 Tage später am 24. Juni 2021 erfolgte Einspruchseinlegung innerhalb der zweiwöchigen Frist des § 410 Abs. 1 StPO.

3. Die Kammer regt aufgrund der erheblich verzögerten Bearbeitung des Verfahrens durch das Amtsgericht S. an, eine Einstellung des Verfahrens nach § 153a StPO in Erwägung zu ziehen.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 2 StPO.


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