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Entscheidungen

Haftfragen

U-Haft, Meldeauflage, Fluchtgefahr, Verhältnismäßigkeit, LG Paderborn

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Paderborn, Beschl. v. 19.07.2022 – 8 Qs-43 Js 301/21-32/22

Eigener Leitsatz: 1. Hat der Beschuldigte längere Zeit Meldeauflagen erfüllt, liegt ggf. keine Fluchtgefahr mehr vor.
2. Beschränkungen, die sich aus Maßnahmen nach § 116 Abs. 1 StPO ergeben, sind nur für einen angemessenen Zeitraum hinzunehmen.


In pp.

Auf die Beschwerde der Beschwerdeführerin vom 06.06.2022 wird der Haftbefehl des Amtsgerichts Lippstadt vom 03.03.2022 (21 Ls-48 Js 560/21-2/22) aufgehoben. Die Kosten des Beachwerdeverfahrens werden der Staatskasse auferlegt.

Gründe:

I.

Mit Anklageschrift vom 19.11.2021 wurde der Beschwerdeführerin durch die Staatsanwaltschaft P. Raub in Tateinheit mit Körperverletzung vorgeworfen. Die Anklage wurde erhoben vor dem Amtsgericht Lippstadt - Schöffengericht. Mitangeklagt wurde der Angeklagte R..

Mit Beschluss vom 19.01.2022 wurde die Anklage durch das Amtsgericht Lippstadt - Schöffengericht - zur Hauptverhandlung zugelassen und Hauptverhandlungstermin für den 07.06.2022 bestimmt. Mit Beschluss vom 03.02.2022 wurde das Verfahren mit dem ebenfalls beim Amtsgericht Lippstadt - Schöffengericht - anhängigen Verfahren 21 Ls - 46 Js 320/21 - 61/21 verbunden.

Die Angeklagte K. wurde am 04.03.2022 am Flughafen in A. durch die niederländische Polizei aufgrund internationalen Haftbefehls vom 03.03.2022 festgenommen. Dort befand sie sich zunächst in Auslieferungshaft. Am 24.03.2022 erfolgte die Oberstellung nach Deutschland, wo sie aufgrund der Haftbefehle des Amtsgerichts Lippstadt vom 03.03.2022 (21 Ls-48 Js 560/21-2/22) und vom 07.03.2022 (21 Ls-43 Js 301/21-60/21) durch das Amtsgericht Kleve als nächstes Amtsgericht in Untersuchungshaft genommen wurde. Auf entsprechenden Antrag der Beschwerdeführerin wurde sie am 31.03.2022 vor dem Amtsgericht Lippstadt vorgeführt, wo mit Beschluss vom 31.03.2022 (21 Ls-43 Js 301/21-80/21) die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet wurde.

Auf die am 01.04.2022 gestellte Haftbeschwerde der Beschwerdeführerin wurde der Haftbefehl des Amtsgerichts Lippstadt vom 07.03.2022 (21 Ls-43 Js 301/21-60/21) durch die Kammer mit Beschluss vom 08.04.2022 aufgehoben. Der Haftbefehl des Amtsgerichts Lippstadt vom 03.03.2022 (21 Ls-48 Js 560/21-2/22) wurde durch die Kammer mit Beschluss vom 08.04.2022 unter Auflagen außer Vollzug gesetzt.

Nachdem die Beschwerdeführerin in der Folge ein befristetes Arbeitsverhältnis bei pp.. aufnahm, wurden die Auflagen der Außervollzugsetzung durch die Kammer mit Beschluss vom 06.05.2022 von Amts wegen dahingehend geändert, dass die Beschwerdeführerin nunmehr folgende Auflagen zu erfüllen hat:

1. Die Beschwerdeführerin hat ihren Wohnsitz bei ihren Eltern – pp.- zu nehmen und jeden etwaigen Wohnungswechsel unverzüglich mitzuteilen.
2. Die Beschwerdeführerin darf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland nicht verlassen.
3. Die Beschwerdeführerin hat unverzüglich ihre Ausweispapiere (Personalauswels und Reisepass) bei dem Polizeipräsidium L. abzugeben.
4. Die Beschwerdeführerin hat sich einmal wöchentlich, namentlich jeden Montag, bei der für Ihren Wohnsitz zuständigen Polizeidienststelle zu melden.

Eine zwischenzeitlich durch die Beschwerdeführerin eingelegte weitere Beschwerde gegen den Beschluss der Kammer vom 08.04.2022 wurde in der Folge durch die Beschwerdeführerin zurückgenommen.

Mit Schriftsatz vom 08.05.2022 beantragte der Verteidiger der Beschwerdeführerin beim Amtsgericht Lippstadt nach Rücklauf der Akten vom Landgericht Paderborn Akteneinsicht.

Mit Schriftsatz vom 03.05.2022 hatte zudem bereits zuvor der Verteidiger des Mitangeklagten R. gegenüber dem Amtsgericht Lippstadt Akteneinsicht beantragt.

Gewährt wurde eine Akteneinsicht in der Folge nicht.

Mit Schriftsatz vom 31.05.2022 beantragte der Verteidiger der Beschwerdeführerin daraufhin die Aussetzung der Hauptverhandlung nach § 228 Abs. 1 StPO.

Mit Schriftsatz vom 02.06.2022 beantrage zudem der Verteidiger des Angeklagten R. die Aufhebung des Hauptverhandlungstermins, da er weiterhin keine Akteneinsicht habe nehmen können.

Mit Verfügung vom 02.06.2022 wurde daraufhin der Hauptverhandlungstermin durch das Amtsgericht Lippstadt - Schöffengericht - aufgehoben. In der Folge wurde den Verteidigern Akteneinsicht gewahrt. Ein erneuter Hauptverhandlungstermin wurde nicht bestimmt.

Mit Eingang beim Amtsgericht Lippstadt am 06.06.2022 beantragte die Beschwerdeführerin eine Aufhebung des Haftbefehls vom 03.03.2022, da mittlerweile von keiner Fluchtgefahr mehr auszugehen und zudem die weitere Aufrechterhaltung des Haftbefehls unverhältnismäßig sei.

Eine Entscheidung über den Antrag erging sodann zunächst nicht. Mit Schriftsatz eingegangen am 22.06.2022 erinnerte der Verteidiger der Beschwerdeführerin an den Antrag vom 06.06.2022. Hierzu wurde durch das Amtsgericht Lippstadt mitgeteilt, dass die Akte derzeit versendet sei.

Am 27.06.2022 erkundigte sich der Verteidiger zudem telefonisch nach dem Stand der Sache. Auf die Mitteilung, dass sich der zuständige Dezernent in Urlaub befände, bat er um eine Entscheidung im Vertretungswege.

Die Vertreterin sah die Sache nicht als eilbedürftig an und traf in der Folge keine Entscheidung.

Nach Rückkehr des Dezernenten wurde der Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls mit Beschluss vom 08.07.2022 zurückgewiesen.

Mit Eingang zum 13.07.2022 legte die Beschwerdeführerin daraufhin Beschwerde gegen den Beschluss vom 08.07.2022 ein. Zur Begründung wurde ergänzend vorgetragen, dass es nunmehr zu weiteren Verzögerungen des Verfahrens gekommen sei und der Beschleunigungsgrundsatz in der auch weiterhin nicht erneut terminierten Sache verletzt sei. Zudem sei die Beschwerdeführerin ihren Auflagen ordnungsgemäß nachgekommen.

Die Akte wurde der Kammer sodann durch die Staatsanwaltschaft P. vorgelegt.

II.

Die zulässige Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Lippstadt - Schöffengericht - vom 08.07.2022 ist begründet und führt in der Sache zur Aufhebung des Haftbefehls vom 03.03.2022.

1. Es fehlt bereits an einem Haftgrund, nachdem eine Fluchtgefahr nicht mehr besteht.

Fluchtgefahr ist gegeben, wenn bei Würdigung der Umstände des Falles aufgrund bestimmter Tatsachen eine höhere Wahrscheinlichkeit für die Annahme spricht, der Beschuldigte werde sich - zumindest für eine gewisse Zeit - dem Strafverfahren entziehen, als für die Erwartung, er werde am Verfahren teilnehmen (BGH BeckRS 2014, 14207; KG StV 2012, 350; OLG Hamm StV 2008, 257).

Nach der insoweit zu treffenden Gesamtabwägung geht die Kammer nicht weiter von einer Fluchtgefahr betreffend die Beschwerdeführerin aus.

Die Beschwerdeführerin hat über einen Zeitraum von mehr als drei Monaten seit der Außervollzugsetzung des Haftbefehls vom 03.03.2022 durch die Kammer am 08.04.2022 die in sie anlässlich dieser Außervollzugsetzung gesetzten Erwartungen in vollem Umfang erfüllt. Insbesondere ergab eine Überprüfung der Meldeauflage durch telefonische Kontaktaufnahme mit dem Polizeipräsidium L., dass die Beschwerdeführerin ihrer Meldeauflage verlässlich nachgekommen ist. Angesichts des Umstandes, dass aus den zuverlässigen Meldungen der Beschwerdeführerin zu entnehmen ist, dass diese sich gerade auch zu dem Hauptverhandlungstermin am 07.06.2022 bereit gehalten hat, welcher - ohne dass die Beschwerdeführerin hiervon ausgehen konnte - kurz vor dem Terminstag aufgehoben wurde, sind Anhaltspunkte dafür, dass die Beschwerdeführerin nun zu einem erneuten Hauptverhandlungstermin nicht mehr erscheinen würde, nicht mehr zu erkennen. Diese Annahme wird zudem dadurch gestützt, dass die Beschwerdeführerin inzwischen unzweifelhaft Ihren Lebensmittelpunkt im Uppstadter Raum gebildet hat, dort bei ihren Eltern lebt und entsprechend Ihres Arbeitsvertrages vom pp. bis zum pp. als pp. bei der pp. Bielefeld fest angestellt ist. Gemäß Stellungnahme der pp. vom 18.07.2022 übt sie diese Tätigkeit auch derzeit noch aus, wobei es sich um eine Vollzeitbeschäftigung mit 152 Stunden im Monat handelt und die Probezeit bereits erfolgreich absolviert wurde.

Umstände, welche dagegen konkrete Hinweise auf eine Fluchtgefahr begründen würden, bestehen - auch unter Berücksichtigung der zu erwartenden Strafe - nicht.

2. Darüber hinaus war der Haftbefehl auch aus Gründen der Verhältnismäßigkeit aufzuheben.

Aus rechtsstaatlichen Granden besteht auch bei außer Vollzug gesetzten Haftbefehlen die Pflicht zu einer möglichst zügigen Bearbeitung. Die mit den Maßnahmen nach § 116 Abs. 1 StPO verbundenen Beschränkungen sind auch in Ansehung der Belange einer funktionierenden Strafrechtspflege nur für einen angemessenen Zeitraum hinzunehmen (vgl. BVerfGE 53, 152 = NJW 1980, 1448).

Die an eine zügige Bearbeitung der Sache zu setzenden Maßstäbe sind durch das Amtsgericht Lippstadt - Schöffengericht - in einem solchen Umfang verletzt worden, dass eine Aufrechterhaltung des Haftbefehls nicht mehr verhältnismäßig erscheint.

Hierfür dürfte bereits ausreichend sein, dass nach Aufhebung des für den 07.06.2022 bestimmten Hauptverhandlungstermins am 02.06.2022 bis zum Zeitpunkt dieser Kammerentscheidung kein erneuter Hauptverhandlungstermin bestimmt wurde und auch keine Bemühungen zur Bestimmung eines Hauptverhandlungstermins - wie etwa die Anfrage bezüglich einer Terminsabsprache mit den Verteidigern der Beschwerdeführerin und des Mitangeklagten - aus der Akte zu entnehmen sind. Außer der Gewährung von Akteneinsichten und der - ebenfalls nur verzögert erfolgten - Bearbeitung des Antrags der Beschwerdeführerin auf Haftaufhebung vom 06.06.2022, finden sich insoweit keinerlei Hinweise auf verfahrensfördernde Bemühungen des Amtsgerichts.

Darüber hinaus beruht auch die Notwendigkeit der Aufhebung des Termins vom 07.06.2022 in vollem Umfang auf der fehlenden Verfahrensförderung durch das Amtsgericht Lippstadt - Schöffengericht -. Nachdem nämlich zuvor in berechtigter Weise beantragte Akteneinsichtsgesuche mehrerer Verteidiger nicht beschieden wurden, wurde eine Aufhebung des Termins notwendig, da eine Vorbereitung der Verteidiger in einer für die angemessene Vertretung der Beschwerdeführerin und des Mitangeklagten ohne vorherige Akteneinsicht nicht möglich war. Die hierdurch verursachte Notwendigkeit zur Aufhebung des Hauptverhandlungstermins wiegt umso schwerer, nachdem sich aus der Akte ergibt, dass mit Verfügung vom 02.05.2022 eine digitale Kopie der vollständigen Verfahrensakte durch die Staatsanwaltschaft P. gefertigt wurde, durch welche den Verteidigern zeitnah und parallel Akteneinsicht hätte gewährt werden können.

Schlussendlich konnte im Zusammenhang mit der zügigen Bearbeitung dieser Haftsache auch nicht außer Acht gelassen werden, dass auch der Antrag der Beschwerdeführerin auf Aufhebung des Haftbefehls vom 06.06.2022 zunächst ohne erkennbaren Grund durch den zuständigen Dezernenten am 08.06.2022 auf den Zeitpunkt seiner Rückkehr aus dem anstehenden Urlaub verfristet wurde und durch seine Vertreterin auf entsprechende Nachfrage des Verteidigers der Beschwerdeführerin gemäß Vermerk vom 29.06.2022 als nicht eil- bzw. entscheidungsbedürftig angesehen wurde und ebenfalls auf die Rückkehr des zuständigen Dezernenten verfristet wurde.

Angesichts der hierdurch insgesamt für die Beschwerdeführerin eingetretenen Belastungen - auch unter Berücksichtigung, dass ihr gegenüber zuvor in der Zeit vom 04.03.2022 bis zum 08.04.2022 Untersuchungshaft vollzogen wurde - ist, nachdem insbesondere ein Hauptverhandlungstermin weiterhin nicht in Aussicht ist, eine weitere Aufrechterhaltung des Haftbefehls selbst nach Außervollzugsetzung nicht mehr verhältnismäßig.

3. Die Kammer konnte auch bereits eine Entscheidung in der Sache treffen. Zwar ist aus der Akte keine Nichtabhilfeentscheidung des Amtsgerichts Lippstadt bezogen auf die gegen den Beschluss vom 08.07.2022 eingelegte Beschwerde zu entnehmen, das Beschwerdegericht ist aber an einer Entscheidung nicht durch das Fehlen einer Nichtabhilfeentscheidung des unteren Gerichts gehindert, weil das Abhilfeverfahren keine Verfahrensvoraussetzung ist (vgl. OLG Hamm 11.3.2010 - 2 Ws 39/10). Angesichts der hier bereits eingetretenen Verfahrensverzögerungen hat die Kammer zur Beschleunigung auf eine Rücksendung der Sache an das Amtsgericht Lippstadt - Schöffengericht - zur ggf. zu treffenden Nichtabhilfeentscheidung verzichtet und selbst entschieden.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 Abs. 1 StPO analog.


Einsender: RA P. Urbanek, Bielefeld

Anmerkung:


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