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Entscheidungen

Corona

Corona, Verfahrensverzögerung, Entschädigung, angemessene Verfahrensdauer

Gericht / Entscheidungsdatum: BFH, Urt. v. 27-10.2021 - X K 5/20

Leitsatz des Gerichts: 1. Nach den Erwägungen des Gesetzgebers setzt der (verschuldensunabhängige) Entschädigungsanspruch i.S. des § 198 GVG voraus, dass die Umstände, die zu einer Verlängerung der Verfahrensdauer geführt haben, innerhalb des staatlichen bzw. dem Staat zurechenbaren Einflussbereichs liegen müssen.
2. Eine zu Beginn der Corona-Pandemie hierdurch verursachte Verzögerung beim Sitzungsbetrieb führt nicht zur Unangemessenheit der gerichtlichen Verfahrensdauer i.S. des § 198 Abs. 1 GVG, da sie nicht dem staatlichen Verantwortungsbereich zuzuordnen ist.
3. Bei der Corona-Pandemie und den zur Eindämmung getroffenen Schutzmaßnahmen handelt es sich nicht um ein spezifisch die Justiz betreffendes Problem, da sie was ihr Personal und die Verfahrensbeteiligten anbelangt ebenso betroffen ist wie andere öffentliche und private Einrichtungen und Betriebe.


In pp.

Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen.

Tatbestand

I.

Der Kläger begehrt gemäß § 198 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) Entschädigung wegen der von ihm als unangemessen angesehenen Dauer des ab dem 19.01.2018 beim Finanzgericht (FG) Berlin-Brandenburg anhängigen und am 14.09.2020 durch Zustellung des Urteils an den Kläger beendeten Klageverfahrens 5 K 5009/18.

Dem Ausgangsverfahren liegt der folgende Sachverhalt zugrunde:

Der Kläger war in den Streitjahren 2009 bis 2011 als Medienberater selbständig tätig.


Nach einer im Jahr 2008 geschlossenen Rahmenvereinbarung mit der in der Schweiz ansässigen G GmbH (GmbH) sollte der Kläger für diese Medienberatungsleistungen übernehmen. In der Folge erbrachte der Kläger gegenüber verschiedenen deutschen Unternehmen Beratungsleistungen, denen Vereinbarungen zwischen diesen Unternehmen und der GmbH zugrunde lagen. Der Kläger rechnete seine Tätigkeit gegenüber der GmbH ab, wobei er in den Rechnungen keine Umsatzsteuer auswies, da er die Umsätze nicht für steuerbar hielt. Nach einer Außenprüfung ging das Finanzamt (FA) in geänderten Umsatzsteuerbescheiden davon aus, dass es sich bei den Medienberatungsleistungen um im Inland steuerbare und steuerpflichtige sonstige Leistungen gehandelt habe.

Mit seiner am 19.01.2018 erhobenen Klage begehrte der Kläger u.a. die Herabsetzung der Umsatzsteuer für die Streitjahre auf jeweils 0 €. Nach einem Schriftsatzwechsel zwischen den Beteiligten beantragte der Kläger mit Schriftsatz vom 23.05.2018 die Anberaumung eines Termins zur Durchführung der Beweisaufnahme und mündlichen Verhandlung, da die Sache ausgeschrieben sei.

Am 15.01.2020 erhob der Kläger eine Verzögerungsrüge, da Anlass zur Besorgnis bestehe, dass das Verfahren nicht in angemessener Zeit abgeschlossen werde, und beantragte nachdrücklich, die Sache unverzüglich zu laden.

Am 23.01.2020 forderte der Berichterstatter die den Streitfall betreffenden Verwaltungsakten an, die das FA am 05.02.2020 vorlegte. Mit Verfügung vom 08.07.2020 bestimmte der Vorsitzende den Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 21.08.2020.

Mit Urteil vom 21.08.2020 wies das FG die Klage ab, da die GmbH lediglich als Abrechnungsstelle fungiert und selbst keine Leistungen gegenüber den deutschen Unternehmen erbracht habe. Für diese Einschätzung machte es sich die zivilgerichtlichen Feststellungen über die Leistungsbeziehungen im rechtskräftigen Urteil des Landgerichts (LG) B vom 07.09.2011 zu eigen, gegen die der Kläger keine substantiierten Einwendungen erhoben habe. Die vom Kläger benannten Zeugen, den in der Schweiz ansässigen Gesellschafter-Geschäftsführer der GmbH sowie die frühere Steuerberaterin des Klägers, habe das FG nicht laden müssen.

Nach Rücknahme einer vorzeitig am 02.07.2020 erhobenen Entschädigungsklage hat der Kläger am 20.10.2020 erneut Klage wegen des von ihm als verzögert angesehenen Rechtsstreits erhoben. Er trägt vor, sachliche Gründe für die Dauer des frühzeitig entscheidungsreifen Verfahrens von insgesamt 31 Monaten seien nicht gegeben. Soweit sich der Beklagte auf Einschränkungen des Gerichtsbetriebs infolge der Corona-Pandemie berufe, hätten die vom Beklagten selbst verordneten sitzungsfreien Zeiten und die Umbaumaßnahmen im Finanzgericht weder zu einem Stillstand der Rechtspflege führen dürfen, noch könnten sie im Rahmen des § 198 GVG zum Nachteil des Klägers gewertet werden. Da es sich um einen sehr einfachen Fall gehandelt habe, hätte der Senat zur Beschleunigung den Rechtsstreit einem seiner Mitglieder als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen können. Darüber hinaus hätte das FG jederzeit die Beteiligten zum Verzicht auf eine mündliche Verhandlung gemäß § 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auffordern oder auch selbst nach § 90a FGO durch Gerichtsbescheid entscheiden können.

Der Kläger beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger wegen überlanger Dauer des beim FG Berlin-Brandenburg unter dem Aktenzeichen 5 K 5009/18 geführten Verfahrens eine Entschädigung in Höhe von mindestens 600 € zuzüglich Zinsen seit Rechtshängigkeit in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Bei Betrachtung der konkreten Abläufe sei die Verfahrensdauer des Ausgangsverfahrens nicht unangemessen gewesen. Das FG habe gut zwei Jahre nach Klageeingang mit auf eine Verfahrensbeendigung zielenden Maßnahmen begonnen. Auf Anforderung des Berichterstatters im Januar 2020 habe das FA die Verwaltungsakten im Folgemonat vorgelegt. Eine denkbare Terminierung im 2. Quartal 2020 sei aufgrund der Einschränkungen durch die Pandemie nicht zustande gekommen. Die im Laufe des März 2020 angeordneten Schutzmaßnahmen für Bedienstete und Beteiligte hätten zunächst zur Errichtung eines Notbetriebs geführt, der bis zum 20.04.2020 verlängert worden sei. Ein Sitzungsbetrieb sei während dieses Zeitraums nicht möglich gewesen. Am 21.04.2020 hätten die zur Einhaltung von Kontaktbeschränkungen und Abstandsregelungen notwendigen Umbaumaßnahmen begonnen. Es sei wie auch noch gegenwärtig die Nutzung nur eines Sitzungssaals pro Etage möglich gewesen. Nachdem ab dem 04.05.2020 der allgemeine Gerichtsbetrieb des FG in Stufen habe wiederaufgenommen werden können, seien zunächst die pandemiebedingt ausgefallenen Sitzungssachen zur mündlichen Verhandlung geladen worden. Dementsprechend habe der 5. Senat des FG am 19.06.2020 und am 03.07.2020 erste mündliche Verhandlungen durchgeführt. Die im Juli 2020 erfolgte Ladung des in Rede stehenden Klageverfahrens für den Termin am 21.08.2020 stelle sich daher als der unter Berücksichtigung der besonderen Situation der Pandemie nächstmögliche dar.

Entscheidungsgründe

II.

Die Klage ist unbegründet.

Nach den hierfür in der Senatsrechtsprechung entwickelten typisierenden Grundsätzen (dazu unten 1.), deren Anwendung nicht durch etwaige Besonderheiten des vorliegend zu beurteilenden Falles ausgeschlossen wird (unten 2.), war die Dauer des Ausgangsverfahrens nicht unangemessen, da die pandemiebedingten Verzögerungen dem FG nicht zurechenbar sind (unten 3.).

1. Wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet, wird angemessen entschädigt (§ 198 Abs. 1 Satz 1 GVG). Gemäß Satz 2 der Vorschrift richtet sich die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter.

Diese gesetzlichen Maßstäbe beruhen auf der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG). Zur Vermeidung von Wiederholungen wird hierzu und zum Folgenden auf das Senatsurteil vom 07.11.2013 - X K 13/12 (BFHE 243, 126, BStBl II 2014, 179, Rz 48 ff.) Bezug genommen.

Nach dieser Entscheidung ist der Begriff der "Angemessenheit" für Wertungen offen, die dem Spannungsverhältnis zwischen dem Interesse an einem möglichst zügigen Abschluss des Rechtsstreits einerseits und anderen, ebenfalls hochrangigen sowie verfassungs- und menschenrechtlich verankerten prozessualen Grundsätzen wie dem Anspruch auf Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes durch inhaltlich möglichst zutreffende und qualitativ möglichst hochwertige Entscheidungen, der Unabhängigkeit der Richter und dem Anspruch auf den gesetzlichen Richter Rechnung tragen. Danach darf die zeitliche Grenze bei der Bestimmung der Angemessenheit der Dauer des Ausgangsverfahrens nicht zu eng gezogen werden; dem Ausgangsgericht ist ein erheblicher Spielraum für die Gestaltung seines Verfahrens auch in zeitlicher Hinsicht einzuräumen. Zwar schließt es die nach der Konzeption des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG vorzunehmende Einzelfallbetrachtung aus, im Rahmen der Auslegung der genannten Vorschrift konkrete Fristen zu bezeichnen, innerhalb der ein Verfahren im Regelfall abschließend erledigt sein sollte. Gleichwohl kann für ein finanzgerichtliches Klageverfahren, das im Vergleich zu dem typischen in dieser Gerichtsbarkeit zu bearbeitenden Verfahren keine wesentlichen Besonderheiten aufweist, die Vermutung aufgestellt werden, dass die Dauer des Verfahrens angemessen ist, wenn das Gericht gut zwei Jahre nach dem Eingang der Klage mit Maßnahmen beginnt, die das Verfahren einer Entscheidung zuführen sollen, und die damit begonnene ("dritte") Phase des Verfahrensablaufs nicht durch nennenswerte Zeiträume unterbrochen wird, in denen das Gericht die Akte unbearbeitet lässt. Dies gilt nicht, wenn der Verfahrensbeteiligte rechtzeitig und in nachvollziehbarer Weise auf Umstände hinweist, aus denen eine besondere Eilbedürftigkeit des Verfahrens folgt (vgl. Senatsurteil vom 27.06.2018 - X K 3-6/17, BFH/NV 2019, 27, Rz 48).

2. Im Streitfall liegen keine Besonderheiten vor, die dazu führen könnten, von der Anwendung der genannten Regelvermutung für die Angemessenheit der Dauer finanzgerichtlicher Verfahren abzusehen.

a) Die Anwendung der in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG beispielhaft genannten Kriterien führt zu dem Ergebnis, dass es sich beim Ausgangsverfahren um ein durchschnittliches erstinstanzliches Klageverfahren handelte.

aa) Diese Einschätzung ergibt sich zunächst im Hinblick auf die Schwierigkeit des Verfahrens.

(1) Entgegen der Behauptung des Klägers im Schriftsatz vom 20.10.2020 (vgl. S. 22) standen nicht ausschließlich Rechtsfragen im Streit.

Zwar hat sich das FG im Ausgangspunkt mit der Frage befasst, welche Rechtsgrundsätze zur Bestimmung des umsatzsteuerlichen Leistungserbringers bzw. -empfängers gelten, wenn die zivilrechtlichen Vereinbarungen durch Zwischenschaltung eines lediglich "pro forma" agierenden Leistungserbringers von den tatsächlichen Verhältnissen abweichen (vgl. S. 6 f. des Urteilsabdrucks UA ). Den Kernbereich der finanzgerichtlichen Entscheidung bildet indes die Sachverhaltsfeststellung und -würdigung durch das FG (vgl. S. 7 bis 10 UA). Denn das Vorbringen des Klägers richtete sich vor allem gegen die Übernahme der zivilgerichtlichen Feststellungen im Urteil des LG Berlin vom 07.09.2011 durch das FG. Es sollte eine hiervon abweichende Sachverhaltsfeststellung, insbesondere durch (erneute) Vernehmung des Gesellschafter-Geschäftsführers der GmbH als Zeugen, erwirkt und damit eine Neubewertung der Leistungsbeziehungen im Rahmen des hier in Rede stehenden Finanzgerichtsprozesses ermöglicht werden.

(2) Der Einschätzung, dass allein der "Auslandsbezug" wie der Beklagte annimmt eine wesentliche Besonderheit darstellte, die zu einer Qualifizierung als überdurchschnittlich schwieriges Verfahren führen würde, vermag der erkennende Senat ebenso wenig zu folgen wie derjenigen, es habe sich so der Kläger um einen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht "sehr einfachen Fall" gehandelt, bei der sich eine Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter angeboten hätte.

(a) Soweit der Kläger dies aus dem (angenommenen) Umstand ableiten will, das Urteil des FG sei bereits am Tag der mündlichen Verhandlung am 21.08.2020 vollständig abgefasst worden (vgl. S. 4 des Schriftsatzes vom 04.03.2021), ist schon die zugrundeliegende Annahme unzutreffend. Ausweislich der Sitzungsniederschrift wurde zum Ende der mündlichen Verhandlung am 21.08.2020 kein Urteil, sondern der Beschluss verkündet, dass eine Entscheidung den Beteiligten zugestellt werde. Nach der Eintragung in dem auf dem Original der Entscheidung vorhandenen Stempel (vgl. Bl. 202 der FG-Akten) ging das FG-Urteil erst am 28.08.2020 bei der Geschäftsstelle ein. Danach hat die vollständige Abfassung des Urteils bis zur Unterschrift durch sämtliche Berufsrichter mehrere Tage in Anspruch genommen.

(b) Unabhängig von der zeitlichen Dauer der Urteilsabfassung, die auch aufgrund eines bereits vor der mündlichen Verhandlung vorliegenden fundierten Berichts oder Entscheidungsentwurfs, der üblicherweise zum Zweck der Vorberatung der Berufsrichter erstellt wird, sehr kurz ausfallen kann, so dass allein hieraus ein Rückschluss auf den Schwierigkeitsgrad des Verfahrens nicht möglich erscheint, hat das FG die Entscheidung des Rechtsstreits nicht dem Berichterstatter als Einzelrichter übertragen und dadurch selbst zu erkennen gegeben, dass die Sache jedenfalls aus seiner Sicht nicht ohne besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art war (vgl. § 6 Abs. 1 Nr. 1 FGO). Diese Einschätzung überschreitet die Grenzen des dem FG für seine Verfahrensgestaltung zukommenden weiten Gestaltungsraums eindeutig nicht.

Das FG hat zwar keine Sachaufklärung für erforderlich gehalten. Es musste sich aber vorliegend dies ist anspruchsvoll damit befassen, ob es im Hinblick auf die gegebenen Umstände von der Möglichkeit, sich die Feststellungen aus einer anderen Gerichtsentscheidung zu eigen zu machen, Gebrauch machen sollte, unter welchen Voraussetzungen eine solche Übernahme von Feststellungen verfahrensfehlerfrei möglich wäre, ob die Voraussetzungen hier vorlägen und ob den Beweisangeboten des Klägers im Hinblick auf die gerichtliche Sachaufklärungspflicht noch nachzugehen wäre.

bb) Die Bedeutung des Verfahrens für den Kläger ist ebenfalls als durchschnittlich einzuschätzen. Der Streitwert bewegte sich im mittleren Bereich. Konkrete Darlegungen, aus denen sich eine für ihn überdurchschnittliche Bedeutung des Falles ergeben hätte, hat der Kläger dem FG nicht unterbreitet.

b) Besondere Gründe für eine Eilbedürftigkeit hat der Kläger weder innerhalb der zweijährigen Regelfrist noch mit seinen Verzögerungsrügen dem FG gegenüber geltend gemacht.

3. Daher ist eine Betrachtung der konkreten Verfahrensabläufe unter Berücksichtigung der Regelvermutung für die Angemessenheit der Dauer finanzgerichtlicher Klageverfahren vorzunehmen. Diese führt zu dem Ergebnis, dass die Dauer des Ausgangsverfahrens nicht unangemessen war.

a) Die Zeitspanne von gut zwei Jahren, für die in einem durchschnittlichen finanzgerichtlichen Klageverfahren bei typisierender Betrachtung jedenfalls keine unangemessene Verfahrensdauer anzunehmen ist, endete ausgehend von der Erhebung der Klage am 19.01.2018 mit Ablauf des Monats Januar 2020.

b) Nach der Verzögerungsrüge des Klägers forderte der Berichterstatter mit Verfügung vom 23.01.2020 vom FA die den Streitfall 5 K 5009/18 betreffenden Verwaltungsakten mit Fristsetzung bis zum 21.02.2020 an, die am 05.02.2020 beim FG eingingen. Da die Verfügung zeitlich in den Februar 2020 hineinwirkte, ist für diesen Monat von einer Aktivität des FG auszugehen, zumal vor Erhalt und Durchsicht der umfangreichen Akten (drei Bände Steuerakten, zwei Leitzordner) auch unter dem Gesichtspunkt der erforderlichen Bearbeitungszeit keine weitergehenden Maßnahmen erwartet werden konnten.

c) Für die nachfolgenden Monate ab März 2020 bis einschließlich Juni 2020 (dem Monat vor der Ladung zur mündlichen Verhandlung am 08.07.2020) ist von einer pandemiebedingten Verzögerung des Klageverfahrens auszugehen, die dem Beklagten für die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer gemäß § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG nicht zuzurechnen ist.

aa) Diese Wertung beruht auf den gesetzgeberischen Erwägungen, die der Gesetzeshistorie zu § 198 GVG zu entnehmen sind.

(1) Nach der im "Entwurf eines Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren" der Bundesregierung vom 17.11.2010 (BTDrucks 17/3802) enthaltenen Begründung zu § 198 Abs. 1 GVG (S. 18 f.) ist der für einen Entschädigungsanspruch maßgebliche Tatbestand die Verletzung des Anspruchs eines Verfahrensbeteiligten aus Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG), Art. 20 Abs. 3 GG und aus Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention auf Entscheidung eines gerichtlichen Verfahrens in angemessener Zeit.

In der Gesetzesbegründung wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es nicht entscheidend sei, ob sich der zuständige Spruchkörper pflichtwidrig verhalten habe. Die Feststellung unangemessener Verfahrensdauer impliziere dementsprechend umgekehrt auch für sich allein keinen Schuldvorwurf für die mit der Sache befassten Richter. Der Staat könne sich zur Rechtfertigung der überlangen Dauer des Verfahrens nicht auf Umstände innerhalb des staatlichen Verantwortungsbereichs berufen; vielmehr müsse er alle notwendigen Maßnahmen treffen, damit Gerichtsverfahren innerhalb angemessener Frist beendet werden könnten. Deshalb könne bei der Frage der angemessenen Verfahrensdauer nicht auf eine chronische Überlastung eines Gerichts, länger bestehende Rückstände oder eine allgemein angespannte Personalsituation abgestellt werden. Der hier normierte Anspruch sei ein staatshaftungsrechtlicher Anspruch sui generis auf Ausgleich für Nachteile infolge rechtswidrigen hoheitlichen Verhaltens und setze ein Verschulden des Gerichts nicht voraus (vgl. BTDrucks 17/3802, S. 19).

Für die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer sei aber auch das Verhalten sonstiger Verfahrensbeteiligter sowie das Verhalten Dritter relevant. Werde eine Verzögerung durch das Verhalten Dritter ausgelöst, komme es darauf an, inwieweit dies dem Gericht zugerechnet werden könne. Ein Verzögerungen auslösendes Verhalten Dritter, auf das das Gericht keinen Einfluss habe, könne keine Unangemessenheit der Verfahrensdauer begründen (vgl. BTDrucks 17/3802, S. 18).

(2) Nach den vorstehenden Erwägungen des Gesetzgebers setzt der (verschuldensunabhängige) Entschädigungsanspruch hoheitliches Verhalten voraus, dass die Umstände, die zu einer Verlängerung der Verfahrensdauer geführt haben, innerhalb des staatlichen bzw. des dem Staat zurechenbaren Einflussbereichs liegen müssen.

Die Berücksichtigung des Verhaltens der Verfahrensbeteiligten dient insoweit ebenfalls dazu, die Verantwortung für eine eingetretene Verzögerung bei wertender Betrachtung nach Verantwortungssphären zu verteilen. Entscheidend ist, ob eine Ursache letztlich der Sphäre des Beteiligten zugerechnet wird oder ob sie in den Verantwortungsbereich des Gerichts fällt (vgl. Röhl in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, § 198 GVG (Stand: 10.12.2020) Rz 45). Verlängerungen der Verfahrensdauer durch eine Tätigkeit Dritter, die das Gericht nicht beeinflussen kann, begründen keine dem Staat zurechenbare Verzögerung (vgl. Röhl, a.a.O., § 198 Rz 50).

bb) Nach diesen Maßstäben führt eine zu Beginn der Corona-Pandemie hierdurch verursachte Verzögerung nicht zur Unangemessenheit der gerichtlichen Verfahrensdauer i.S. des § 198 Abs. 1 GVG, da sie nicht dem staatlichen Verantwortungsbereich zuzuordnen ist.

Nach Ansicht des erkennenden Senats sind die zu Beginn der Corona-Pandemie eingetretenen Verzögerungen wertungsmäßig den durch das nicht gerichtlich beeinflussbare Verhalten eines Dritten bedingten Verzögerungen gleichzusetzen, da sie weder in die Verantwortungssphäre der Verfahrensbeteiligten noch des Gerichts fallen. Eine solche dem Staat nicht zurechenbare Verfahrensverlängerung soll nach den gesetzgeberischen Erwägungen keinen Entschädigungsanspruch auslösen.

(1) Der weltweite Ausbruch der durch das neue Coronavirus SARS-CoV-2 ausgelösten Erkrankung COVID-19 wurde am 11.03.2020 von der Weltgesundheitsorganisation zur Pandemie erklärt.

Im Hinblick auf die Gefahr der Ansteckung mit dem Coronavirus, der Erkrankung vieler Personen, der Überlastung der gesundheitlichen Einrichtungen bei der Behandlung schwerwiegender Fälle und schlimmstenfalls des Todes von Menschen (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des BVerfG vom 10.04.2020 - 1 BvQ 31/20, juris, Rz 13) haben Bund und Länder frühzeitig durch Verordnungen Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus und zum Schutz der Bevölkerung ergriffen, die ab März 2020 u.a. die Einhaltung von Abständen und Hygienevorschriften, Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen, eine weitgehende Untersagung von Veranstaltungen und Versammlungen, des Betriebs von Gastronomie- und Dienstleistungseinrichtungen sowie von Freizeit-, Kultur-, Sport- und Vergnügungsstätten vorsahen. Dies führte dazu, dass zahlreiche Arbeitnehmer von Präsenzaktivitäten im jeweiligen Betrieb bzw. in der jeweiligen öffentlichen oder privaten Einrichtung zu einer Tätigkeit im Homeoffice übergehen mussten bzw. hierzu angehalten wurden.

(2) Für die Gerichte ergaben sich die vom Beklagten beschriebenen Folgen: Insbesondere kam es zur Einrichtung eines Notbetriebs und zur vorläufigen Einstellung des Sitzungsbetriebs, der erst nach Erstellung von Hygiene- und Schutzkonzepten und Umsetzung der zur Vermeidung von Infektionen erforderlichen Maßnahmen (Einhaltung von Mindestabständen zwischen den teilnehmenden Personen, Vermeidung von Begegnungsverkehr durch Nutzung nur eines Sitzungssaals pro Etage, Beschränkung auf Sitzungsräume mit ausreichender Größe und Belüftung, (bauliche) Anpassung der Sitzungsräume z.B. durch Ausstattung mit Trennwänden, usw.) stufenweise wieder aufgenommen werden konnte.

(3) Bei der Pandemie handelt es sich um ein außergewöhnliches und in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland beispielloses Ereignis (vgl. Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 06.04.2020 - 13 B 398/20.NE, Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter 2020, 251, Rz 61).

(4) Vor diesem Hintergrund kann von einem Organisationsverschulden dergestalt, dass die Justizbehörden im Hinblick auf eine weder in ihrem Eintritt noch in ihren Wirkungen vorhersehbare pandemische Lage Vorsorge für die Aufrechterhaltung einer stets uneingeschränkten Rechtspflege hätten treffen müssen, nicht ausgegangen werden.

Bei der Corona-Pandemie und den zur Eindämmung getroffenen Schutzmaßnahmen handelt es sich nicht um ein spezifisch die Justiz betreffendes Problem, da sie was ihr Personal und die Verfahrensbeteiligten anbelangt ebenso betroffen ist wie andere öffentliche und private Einrichtungen, Betriebe, usw. Die Infektionsgefahr ist zudem nicht arbeitsplatzbezogen (vgl. LG Münster, Urteil vom 08.04.2021 - 115 O 150/20, Recht und Schaden 2021, 589, Rz 37); vielmehr gehört ein gewisses Infektionsrisiko mit dem neuartigen Coronavirus derzeit für die Gesamtbevölkerung zum allgemeinen Lebensrisiko (vgl. Nichtannahmebeschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG vom 19.05.2020 - 2 BvR 483/20, Neue Juristische Wochenschrift NJW 2020, 2327, Rz 9).

cc) Die beschriebenen Folgen der "ersten Welle" der Corona-Pandemie haben auch konkret im Streitfall für die Monate ab März 2020 bis einschließlich Juni 2020 zu einer pandemiebedingten Verzögerung des Klageverfahrens geführt.

(1) Der Argumentation des Klägers, der Beklagte habe sich selbst eine "sitzungsfreie Zeit" verordnet und Umbaumaßnahmen im Finanzgerichtsgebäude veranlasst, so dass er im Rahmen des § 198 GVG als Verursacher der Verzögerungen anzusehen sei, vermag der Senat nach den vorstehenden Darlegungen schon im Ausgangspunkt nicht zu folgen.

Die vom Ministerium der Justiz des Landes Brandenburg und dem Präsidenten des FG getroffenen Einschränkungen und Vorkehrungen stellen sich lediglich als Teil der von den staatlichen Stellen für alle Lebensbereiche getroffenen pandemiebedingten Schutzmaßnahmen hier für den Gerichtsbereich dar. Eine Bewertung solcher unvorhersehbar erforderlich werdender Schutzmaßnahmen als mögliche Ursache für eine unangemessene Dauer des Verfahrens i.S. des § 198 GVG verbietet sich dem erkennenden Senat daher, zumal staatlichen Stellen bei der Erfüllung ihrer Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ein erheblicher Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zukommt (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG in NJW 2020, 2327, Rz 8).

Aus diesem Grund scheidet auch eine an den konkreten Verhältnissen beim jeweiligen Gericht orientierte ex-post-Betrachtung aus, ob der Sitzungsbetrieb im Hinblick auf den vorstehenden Gesichtspunkt des Gesundheitsschutzes früher als geschehen wieder hätte aufgenommen werden können.

(2) Im Streitfall waren aufgrund der besonderen, zu Beginn der Corona-Pandemie gegebenen Verhältnisse für die Monate März 2020 bis einschließlich Juni 2020 keine weitergehenden als die vom FG ergriffenen Maßnahmen erforderlich.

(a) Im Streitfall wäre die nächste auf Verfahrensbeendigung gerichtete Aktivität des FG die Ladung zur mündlichen Verhandlung gewesen, die zur Vermeidung einer unangemessenen Dauer des Ausgangsverfahrens grundsätzlich im März 2020 hätte ergehen müssen.

Im Hinblick auf die bereits im Laufe des Monats März 2020 beginnende Pandemie kann dem FG aber nicht angelastet werden, dass es noch in diesem Monat soweit im Rahmen des Notbetriebs überhaupt möglich keine Ladung für einen auf absehbare Zeit nicht möglichen Sitzungstermin mehr aussprach.

(b) Für den Zeitraum April 2020 bis in den Folgemonat Mai hinein war ein Sitzungsbetrieb nicht möglich. Auch im Hinblick auf die nur stufenweise Wiederaufnahme des Gerichtsbetriebs, insbesondere des Sitzungsbetriebs, wäre es erst im Laufe des Mai 2020 wieder möglich gewesen, zu mündlichen Verhandlungen zu laden.

(c) Auch wenn sich mit zunehmender Verfahrensdauer die Pflicht des Gerichts verdichtet, sich nachhaltig um eine Förderung, Beschleunigung und Beendigung des Verfahrens zu bemühen (vgl. BVerfG-Beschluss vom 27.07.2004 - 1 BvR 1196/04, NJW 2004, 3320, unter II.2.a, m.w.N.; Senatsurteil in BFHE 243, 126, BStBl II 2014, 179, Rz 55), ist im Streitfall nicht zu erkennen, dass das Ausgangsgericht den ihm zur Auflösung des pandemiebedingt entstandenen "Sitzungsstaus" einzuräumenden Einschätzungsspielraum überschritten hätte und daher für die Monate Mai und Juni 2020 eine Verzögerung i.S. von § 198 Abs. 1 GVG vorläge.

Danach war es für diese Monate geboten, für das Ausgangsverfahren einen Sitzungstermin jedenfalls innerhalb des für Ladungen zur mündlichen Verhandlung noch als angemessen anzusehenden Zeitraums von drei Monaten zu bestimmen (vgl. Senatsurteil vom 07.05.2014 - X K 11/13, BFH/NV 2014, 1748, Rz 56, zur Unbedenklichkeit eines Terminierungsvorlaufs von drei Monaten). Der vom FG angesetzte Termin zur mündlichen Verhandlung des in Rede stehenden Klageverfahrens am 21.08.2020 fällt in den im Mai 2020 beginnenden Drei-Monats-Zeitraum.

Es war angesichts der besonderen Situation im ersten Halbjahr 2020 nicht zwingend, das Ausgangsverfahren bereits tatsächlich im Mai 2020 für den August 2020 zu laden. Ebenso wenig war es notwendig, auf den nächstmöglichen Verhandlungstermin zu laden, da die ursprünglich für März/April 2020 anberaumten, wegen der Pandemiebeschränkungen allerdings aufgehobenen, Sitzungen noch nachzuholen waren und zur Ingangsetzung eines normalen Sitzungsbetriebs in ersten mündlichen Verhandlungen am 19.06.2020 und 03.07.2020 abgearbeitet werden mussten.

Vor diesem Hintergrund hält sich der unter den Bedingungen der Corona-Pandemie vom FG gewählte Ladungsgang, von einer möglichen längerfristigen Ladung des Ausgangsverfahrens im Mai bzw. Juni 2020 abzusehen und stattdessen im Juli 2020 kurzfristig für August 2020 einen Termin zur mündlichen Verhandlung zu bestimmen, im Rahmen eines auch hinsichtlich der Monate Mai und Juni 2020 nicht als Verzögerung zu wertenden Verfahrensablaufs.

(3) Soweit der Kläger geltend macht, das FG hätte eine frühere Entscheidung durch Erlass eines Gerichtsbescheides oder nach entsprechender Anfrage bei den Beteiligten durch Urteil ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung herbeiführen können, rechtfertigt dies keine andere Entscheidung.

Eine solche gerichtliche Aktivität kann auch unter entschädigungsrechtlichen Aspekten nicht gefordert werden. Denn die Entscheidung über die Durchführung oder Nichtdurchführung einer mündlichen Verhandlung steht im Ermessen des FG (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs BFH vom 31.08.2010 - VIII R 36/08, BFHE 231, 1, BStBl II 2011, 126, Rz 30). Ebenso liegt es im Ermessen des Gerichts, ob es von der Möglichkeit Gebrauch macht, gemäß § 90a Abs. 1 FGO ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid zu entscheiden (vgl. BFH-Beschluss vom 31.08.2006 - II E 4/06, BFH/NV 2007, 73, unter II.2.).

Unabhängig davon, dass der Kläger selbst derartige Formen der Entscheidung dem FG nicht vorgeschlagen hatte, ist auch zu berücksichtigen, dass der Kläger durchgehend auf die Einvernahme von Zeugen gerichtete Beweisanträge gestellt hatte. Vor diesem Hintergrund musste das FG von vornherein davon ausgehen, dass der Kläger einer Entscheidung ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung, in deren Rahmen die von ihm begehrte Beweisaufnahme allein hätte erfolgen können, nicht zustimmen würde bzw. es mit dem Erlass eines Gerichtsbescheides nicht sein Bewenden haben würde. Indem das FG zur mündlichen Verhandlung geladen hat, hat es dem Kläger Gelegenheit gegeben, den im Ausland wohnhaften und zu einem Auslandssachverhalt benannten Gesellschafter-Geschäftsführer der GmbH zum Zweck der Zeugeneinvernahme zur Sitzung mitzubringen. Dass dem Kläger dies ermöglicht wurde, kann dem FG in entschädigungsrechtlicher Hinsicht daher nicht vorgehalten werden.

4. Besteht kein Entschädigungsanspruch, so scheidet auch ein Anspruch auf Prozesszinsen unter dem Gesichtspunkt der Rechtshängigkeit (vgl. § 291 i.V.m. § 288 Abs. 1 Satz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs, § 66 Satz 2 FGO; Senatsurteil vom 12.07.2017 - X K 3-7/16, BFHE 259, 393, BStBl II 2018, 103, Rz 58) aus.

5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.


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