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Entscheidungen

Haftfragen

Haft, Fortsetzungsfeststellungsinteresse, Begründungstiefe

Gericht / Entscheidungsdatum: VerfG Bbg, Beschl. v. 18.02.2022 – VfGBbg 63/21

Eigener Leitsatz: 1. Ein fortbestehendes schutzwürdiges Interesse an einer nachträglichen verfassungsrechtlichen Überprüfung und gegebenenfalls einer hierauf bezogenen Feststellung der Verfassungswidrigkeit durch das Verfassungsgericht kann im Falle eines schwerwiegenden Grundrechtseingriffs bestehen. Schwerwiegende, tatsächlich aber nicht mehr fortwirkende Grundrechtseingriffe kommen vor allem bei Anordnungen in Betracht, die die Verfassung vorbeugend dem Richter vorbehalten hat, wie z.B. Anordnungen einer Freiheitsentziehung
2. Im Hinblick auf die besondere Bedeutung des Rechts auf Freiheit der Person ist der Grundrechtsschutz auch durch die Verfahrensgestaltung zu bewirken. An Haftfortdauerentscheidungen sind erhöhte Begründungsanforderungen zu stellen. In der Regel sind in jedem Beschluss über die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft aktuelle Ausführungen zu dem weiteren Vorliegen ihrer Voraussetzungen, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten, weil sich die dafür maßgeblichen Umstände angesichts des Zeitablaufs in ihrer Gewichtigkeit verschieben können.


VERFASSUNGSGERICHT DES LANDES BRANDENBURG

Im Namen des Volkes

Beschluss

VfGBbg 63/21

In dem Verfassungsbeschwerdeverfahren
Y.

wegen Beschluss des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 28. September 2021 - 2 Ws 100/21 (S) -; Beschluss des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 21. Juli 2021 - 2 Ws 100/21 (S) -; Beschluss des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 11. Mai 2021 - 23 Wi KLs 1/21 -; Beschluss des Amtsgerichts Frankfurt (Oder) vom 9. November 2020 - 45 Gs 1578/20 -; Haftbefehl des Amtsgerichts Frankfurt (Oder) vom 8. September 2020 - 45 Gs 1578/20

hat das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg am 18. Februar 2022

durch die Verfassungsrichterinnen und Verfassungsrichter

beschlossen:

1. Der Beschluss des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 21. Juli 2021 - 1 Ws 100/21 (S) - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 9 Abs. 1 Verfassung des Landes Brandenburg und seinem Anspruch aus Artikel 52 Abs. 3 Alt. 2 Verfassung des Landes Brandenburg.

Der Beschluss des Brandenburgischen Oberlandesgerichts wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung über die Kosten und die notwendigen Auslagen an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.

Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde verworfen.

2. Das Land Brandenburg hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.

3. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 10.000,00 € (in Worten: zehntausend Euro) festgesetzt.

Gründe:

A.

Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist die Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft in einem ursprünglich noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahren.

I.

Der Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger. Er befand sich seit dem 11. Oktober 2020 aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Frankfurt (Oder) vom 8. September 2020 (45 Gs 1578/20) in Haft. Die Anordnung der Untersuchungshaft begründete das Amtsgericht mit dem Haftgrund der Flucht (§ 112 Abs. 2 Nr. 1 Strafprozeßordnung [StPO]), da der Beschwerdeführer seine Wohnung in B. am 17. Dezember 2019 aufgegeben habe. Das Amtsgericht erhielt den Haftbefehl mit Beschluss vom 9. November 2020 aufrecht und stützte diesen auf den Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO). Die zu erwartende erhebliche Freiheitsstrafe biete einen erhöhten Fluchtanreiz. Zudem sei der Beschwerdeführer in Deutschland ohne festen Wohnsitz oder festen Aufenthaltsort.

Mit Urteil des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 11. Mai 2021 (23 Wi KLs 1/21) wurde der Beschwerdeführer wegen Steuerhinterziehung in zehn Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Das Landgericht erhielt den Haftbefehl des Amtsgerichts vom 8. September 2020 „nach Maßgabe des heute verkündeten Urteils“ mit dem nach der Urteilsverkündung ergangenen Beschluss in der Hauptverhandlung aufrecht („der Haftfortdauerbeschluss“). Gegen das Urteil legte der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 11. Mai 2021 Revision ein.

Der vom Beschwerdeführer gegen den Haftbefehl in der Fassung des Haftfortdauerbeschlusses eingelegten Beschwerde vom 15. Juni 2021 half das Landgericht mit Beschluss vom 21. Juni 2021 nicht ab und führte dazu aus: Die Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung des Haftbefehls lägen weiterhin vor. Es bestehe dringender Tatverdacht und Fluchtgefahr. Zwar habe der Angeklagte soziale Bindungen zu hier in Deutschland ansässigen Personen. In mindestens gleicher Weise habe er jedoch auch Familie und soziale Bindungen in seinem Heimatland Türkei. Dem Angeklagten sei es ein Leichtes, sich in die Türkei zu begeben, um sich der Vollstreckung der ausgeurteilten Haftstrafe zu entziehen, da er aus der Türkei nicht ausgeliefert werden könne. Dieser Möglichkeit könne durch weniger einschneidende Maßnahmen, insbesondere eine Kautionsleistung, nicht hinreichend wirksam begegnet werden. Die Verpflichtung zur Hinterlegung von Ausweispapieren könne eine Fluchtgefahr allenfalls vorübergehend verringern, da die Ausstellung von neuen Ausweispapieren durch das Heimatland möglich sei.

In der Beschwerdebegründung vom 14. Juli 2021 beantragte der Beschwerdeführer, den Haftbefehl aufzuheben, hilfsweise, den Haftbefehl gegen geeignete Auflagen außer Vollzug zu setzen, und brachte im Wesentlichen vor: Der Haftgrund der Fluchtgefahr bestehe nicht. Der noch zu verbüßende Rest der ausgeurteilten Freiheitsstrafe sei nicht derart hoch, dass zu befürchten wäre, der Beschwerdeführer werde sich dem Strafverfahren entziehen. Der Beschwerdeführer habe eine realistische Chance auf eine Aussetzung der Reststrafe nach § 57 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB) nach Verbüßung von zwei Dritteln der verhängten Strafe. Bei der Entscheidung seien gemäß § 57 Abs. 1 Satz 2 StGB insbesondere die Persönlichkeit der verurteilten Person, ihr Vorleben, die Umstände ihrer Tat, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, das Verhalten der verurteilten Person im Vollzug, ihre Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für die Person zu erwarten seien. Der Beschwerdeführer sei bereits 67 Jahre alt und Rentner. Er sei strafrechtlich bisher in keiner Weise in Erscheinung getreten, sog. Erstverbüßer, habe sich im Strafverfahren zur Sache eingelassen und beanstandungsfrei in der bereits achteinhalb Monate dauernden Untersuchungshaft verhalten. Bei einer Zwei-Drittel-Reststrafenaussetzung betrage der tatsächlich zu erwartende Freiheitsentzug ein Jahr und knapp vier Monate. Dies sei nicht ausreichend hoch, um einen Fluchtanreiz zu bieten. Aufgrund der überwiegenden Wahrscheinlichkeit, dass die Strafe in B., dem letzten Wohnsitz des Beschwerdeführers, vollzogen werde, wo ein offener Vollzug stattfinde, biete die zu verbüßende Freiheitsstrafe keinen Fluchtanreiz. Die sozialen Bindungen des Beschwerdeführers sprächen gegen Fluchtgefahr. Er habe wegen seiner türkischen Herkunft auch familiäre Kontakte in die Türkei, lebe allerdings seit über 30 Jahren in Deutschland, habe dort seinen Lebensmittelpunkt und enge familiäre Bindungen zu seiner in B. ansässigen Kernfamilie (Schwester, Neffen). Er werde seinen Wohnsitz wie früher bei seiner Schwester nehmen. Der Beschwerdeführer verfüge nicht über ausreichende Geldmittel, um seinen Lebensunterhalt außerhalb Deutschlands und ohne Unterstützung seiner Familie zu bestreiten. Seine Auslandsaufenthalte und -kontakte seien ein Relikt seiner Herkunft; die letzte Türkeireise habe dem Zweck einer medizinischen Behandlung gedient. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft sei unverhältnismäßig. Der Zweck der Untersuchungshaft könne durch mildere Mittel gewährleistet werden (§ 116 StPO). Für die Anordnung von Untersuchungshaft sei maßgeblich, ob ihre Verhängung als ultima ratio wegen überwiegender Belange des Gemeinwohls zwingend geboten sei. Solche Belange bestünden nicht. Er sei bereit, sich gerichtlichen Auflagen zu unterwerfen, z. B. Meldeauflagen einzuhalten (§ 116 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StPO), oder seine Ausweise, die sich aktuell ohnehin bei seinen Effekten befänden, zur Akte zu reichen. Die Familie des Beschwerdeführers sei willens und in der Lage, eine angemessene Sicherheit für den Beschwerdeführer zu leisten (§ 116 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 StPO).

Das Brandenburgische Oberlandesgericht verwarf die Beschwerde mit Beschluss vom 21. Juli 2021 (2 Ws 100/21 [S]) unter Bezugnahme auf die als zutreffend bewerteten Gründe des Nichtabhilfebeschlusses des Landgerichts als unbegründet. Der Beschwerdeführer sei dringend verdächtig, die ihm vorgeworfenen Straftaten begangen zu haben. Der dringende Tatverdacht ergebe sich aus der tatgerichtlichen Würdigung der in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise, die in den Gründen des am 11. Mai 2021 verkündeten Urteils im Einzelnen dargelegt seien. Es liege weiterhin der Haftgrund der Fluchtgefahr vor. Aufgrund der sich aus dem Urteilsspruch ergebenden Straferwartung und der in den Urteilsgründen getroffenen Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten bestehe auch unter Berücksichtigung der bereits vollzogenen Untersuchungshaft und der Aussetzung der restlichen Strafe nach nur teilweiser Haftverbüßung gemäß § 57 StGB in hohem Maße die Gefahr, dass der Beschwerdeführer sich dem Strafvollzug durch ein Absetzen in die Türkei entziehen werde. Dafür sei entgegen der von der Verteidigung vertretenen Auffassung u. a. ausschlaggebend, dass der Beschwerdeführer, der türkischer Staatsangehöriger sei, nach den vorliegenden Erkenntnissen auch über stabile soziale Verbindungen in der Türkei verfüge und sich in der Vergangenheit auch dort aufgehalten habe. Die Bindungen in Deutschland und die Bereitschaft seiner Schwester, den Beschwerdeführer im Falle seiner Entlassung wieder bei sich aufzunehmen, seien nicht geeignet, den bestehenden Fluchtanreiz zu entkräften. Bei der gegebenen Sachlage sei der Zweck der Untersuchungshaft auch durch mildere Maßnahmen gemäß § 116 Abs. 1 StPO nicht zu erreichen. Die Fortdauer der Untersuchungshaft erweise sich angesichts der Bedeutung der Sache und der im Falle einer rechtskräftig werdenden Verurteilung für den Beschwerdeführer zu erwartenden Freiheitsstrafe auch unter Berücksichtigung der bisherigen Verfahrensdauer seit der Inhaftierung als noch verhältnismäßig.

Mit Schriftsatz vom 1. September 2021 erhob der Beschwerdeführer Anhörungsrüge nach § 33a StPO. Der Beschluss des Oberlandesgerichts vom 21. Juli 2021 verletze ihn in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör. Er habe mit der Beschwerdebegründung vom 14. Juli 2021 die Unwahrscheinlichkeit eines Rückfalls sowie sein tadelloses Verhalten im bisherigen Verfahren und Vollzug dargelegt und begründet, weshalb für ihn als Erstverbüßer in vorgerücktem Lebensalter eine realistische Chance auf Reststrafenaussetzung nach § 57 StGB bestehe und unter Berücksichtigung des danach verbleibenden, tatsächlich zu erwartenden Freiheitsentzugs einem eventuellen Fluchtanreiz mit milderen Maßnahmen als dem Vollzug der Untersuchungshaft Rechnung getragen werden könne. Das Oberlandesgericht habe sich im Beschluss vom 21. Juli 2021 mit keiner für die Begründung von Fluchtgefahr relevanten Tatsache auseinandergesetzt, ebenso wenig mit der Frage, weshalb ungeachtet der vom Beschwerdeführer angebotenen Maßnahmen gemäß § 116 Abs. 1 StPO eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls nicht in Betracht komme.

Das Oberlandesgericht lehnte den Antrag mit Beschluss vom 28. September 2021 (2 Ws 100/21 [S]) ab. Ein Gehörsverstoß liege nicht vor. Der Senat habe das gesamte Vorbringen der Verteidigung und den zur Entscheidung unterbreiteten Sachverhalt vollständig zur Kenntnis genommen und berücksichtigt.

II.

Nach Bescheidung der Anhörungsrüge durch das Oberlandesgericht hat der Beschwerdeführer am 6. Oktober 2021 während des beim Bundesgerichtshof noch laufenden Revisionsverfahrens Verfassungsbeschwerde erhoben, die sich gegen die Beschlüsse des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 21. Juli 2021 (2 Ws 100/21 [S]), des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 11. Mai 2021 (23 Wi KLs 1/21), des Amtsgerichts Frankfurt (Oder) vom 9. November 2020 (45 Gs 1578/20) sowie dessen Haftbefehl vom 8. September 2020 (45 Gs 1578/20) richtete.

III.

Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung seines Grundrechts auf Freiheit der Person, Art. 9 Verfassung des Landes Brandenburg (LV), und seines Anspruchs auf rechtliches Gehör, Art. 52 Abs. 3 Alt. 2 LV, durch den Beschluss des Oberlandesgerichts vom 21. Juli 2021 (2 Ws 100/21 [S]) „in der Fassung des Beschlusses dieses Gerichts vom 28.09.2021 über die Anhörungsrüge“. Er trägt im Wesentlichen vor:

Die angefochtene Entscheidung verletze ihn in seinem Grundrecht auf Freiheit der Person, Art. 9 LV, da sie in entscheidungserheblicher Hinsicht keine Abwägung erkennen lasse und darüber hinaus nicht den an die erhöhte Begründungstiefe von Haftfortdauerentscheidungen zu stellenden Anforderungen entspreche. Der Beschluss des Oberlandesgerichts weise insbesondere keine einzelfallbezogene Auseinandersetzung mit Umständen auf, die der Annahme einer Fluchtgefahr entgegenstehen könnten. Es sei vor allem nicht erkennbar, dass sich das Oberlandesgericht mit den bzgl. der Person des Beschwerdeführers naheliegenden tatsächlichen Umständen auseinandergesetzt habe, die gegen eine Fluchtgefahr sprechen könnten (u. a. Alter, Familie, Berufsausbildung, bisherige Unbestraftheit). Zudem lasse die angefochtene Entscheidung nicht erkennen, von welcher konkreten Reststrafenhöhe unter Anwendung welches Absatzes von § 57 StGB das Oberlandesgericht konkret ausgehe. Die angefochtene Entscheidung verweise pauschal auf § 57 StGB. Neben einer Zwei-Drittel-Aussetzung nach § 57 Abs. 1 StGB komme auch eine Entlassung zum Halbstrafen-Zeitpunkt nach § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB in Betracht. Dementsprechend habe das Oberlandesgericht begründen müssen, weshalb unter Berücksichtigung des vom Beschwerdeführer vorgetragenen Sachverhalts eine Entlassung zum Halbstrafen-Zeitpunkt fernliegend sei, um seine Entscheidung intersubjektiv nachvollziehbar zu machen. Die angefochtene Entscheidung missachte den verfassungsrechtlich gebotenen Prüfungsmaßstab für die Voraussetzungen der Untersuchungshaft und sei willkürlich, da bei Prüfung der Voraussetzungen der Untersuchungshaft nicht zu fragen sei, ob diese angeordnet werden könne, sondern ob ihre Verhängung - als ultima ratio - wegen überwiegender Belange des Gemeinwohls zwingend geboten sei. Das Oberlandesgericht lege hingegen dem Beschwerdeführer die Beweislast dafür auf, dass Haftgründe nicht bestünden.

Die Entscheidung verletze den Beschwerdeführer auch in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör, da sie auf erheblichen Vortrag des Beschwerdeführers nicht eingehe (u. a. bisherige Unbestraftheit, Grund seines letzten Türkeiaufenthalts). Aus Art. 52 Abs. 3 LV ergebe sich ein Anspruch darauf, dass das Gericht ein rechtzeitiges und möglicherweise entscheidungserhebliches Vorbringen zur Kenntnis nehme und bei der Entscheidung in Erwägung ziehe, soweit es nicht nach den Vorschriften der jeweiligen Prozessordnung unberücksichtigt bleiben müsse oder könne. Gehe das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags einer Partei zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung sei, in den Entscheidungsgründen nicht ein, so lasse dies auf die Nichtberücksichtigung des Vorbringens schließen, sofern es nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder aber offensichtlich unsubstantiiert gewesen sei. Diesen Anforderungen werde die angefochtene Entscheidung nicht gerecht.

Der Beschwerdeführer werde auch in seinem Freiheitsgrundrecht, Art. 9 LV, und seinem Anspruch auf rechtliches Gehör, Art. 52 Abs. 3 LV, verletzt, soweit das Oberlandesgericht ohne nähere Begründung feststelle, Maßnahmen nach § 116 StPO als milderes Mittel anstelle des Vollzugs der Untersuchungshaft seien ungeeignet. Das Vorbringen des Beschwerdeführers (u. a. Bereitschaft zur Unterwerfung unter gerichtliche Auflagen) betreffe elementare Voraussetzungen im Zusammenhang mit der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Vollziehung des Haftbefehls. Die angefochtene Entscheidung lasse weder eine Auseinandersetzung mit diesem Vortrag erkennen noch eine Begründung, weshalb diese als milderes Mittel nicht in Betracht kämen. Insoweit sei die angefochtene Entscheidung weder nachvollziehbar noch überprüfbar. Insbesondere bleibe unberücksichtigt, dass die Verhängung von Untersuchungshaft als ultima ratio wegen überwiegender Belange des Gemeinwohls zwingend geboten sein müsse.

Die Aufrechterhaltung der Haftfortdauer durch das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 28. September 2021 (2 Ws 100/21 [S]) verstoße ferner gegen das Beschleunigungsgebot wegen Verstreichenlassens weiterer vier Wochen bis zu einer Entscheidung über die Anhörungsrüge. Das im Rechtsstaatsgebot wurzelnde Beschleunigungsgebot erfasse das gesamte Strafverfahren und gebiete die angemessene Beschleunigung des Strafverfahrens. Eine von den Strafverfolgungsorganen zu verantwortende erhebliche Verzögerung des Strafverfahrens verletze den Beschuldigten in seinem Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren. lm Zeitpunkt der Entscheidung über die Anhörungsrüge hätte sich das Brandenburgische Oberlandesgericht daher damit auseinandersetzen müssen, wie angesichts der nochmals deutlich reduzierten Reststrafe der Freiheitsanspruch des Beschwerdeführers mit dem Strafverfolgungsinteresse in Einklang zu bringen sei, um seine Entscheidung, die Haft fortdauern zu lassen, intersubjektiv nachvollziehbar zu machen.

IV.

Der Beschwerdeführer hat ursprünglich in der Beschwerdeschrift beantragt,
den Beschluss des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 21. Juli 2021, sowie den darin aufrechterhaltenen Haftbefehl des Amtsgerichts Frankfurt (Oder) vom 8. September 2020 in der Fassung des Beschlusses des Amtsgerichts Frankfurt (Oder) vom 9. November 2020 in der Fassung des Haftfortdauerbeschlusses vom 11. Mai 2021 aufzuheben, hilfsweise diesen Haftbefehl außer Vollzug zu setzen und die Sache gemäß § 50 Abs. 3 Verfassungsgerichtsgesetz Brandenburg (VerfGGBbg) an das zuständige Gericht zurückzuverweisen und dieses zu verpflichten, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Verfassungsgerichts des Landes Brandenburg neu zu entscheiden.

Nachdem der Bundesgerichthof mit Beschluss vom 7. Oktober 2021 (1 StR 301/21) die Revision des Beschwerdeführers gegen das Urteil des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 11. Mai 2021 (23 Wi KLs 1/21) gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen hat, beantragt der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 18. Oktober 2021 nunmehr, festzustellen, dass der Beschluss des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 21. Juli 2021, sowie die darin angeordnete Aufrechterhaltung des Haftbefehls des Amtsgerichts Frankfurt (Oder) vom 8. September 2020 in der Fassung des Beschlusses des Amtsgerichts Frankfurt (Oder) vom 9. November 2020 in der Fassung des Haftfortdauerbeschlusses vom 11. Mai 2021 verfassungswidrig gewesen sind.

Dazu trägt er vor, der fortdauernden Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde stehe nicht entgegen, dass das angefochtene Urteil des Landgerichts Frankfurt (Oder) rechtskräftig und der angegriffene Haftbefehl gegenstandslos geworden sei. Für die Verfassungsbeschwerde bestehe weiterhin ein Rechtsschutzbedürfnis. Das Rechtsschutzbedürfnis dauere nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung dann fort, wenn entweder die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung andernfalls unterbliebe und der gerügte Grundrechtseingriff besonders belastend erscheine oder eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu besorgen sei oder die aufgehobene oder gegenstandslos gewordene Maßnahme den Beschwerdeführer noch weiterhin beeinträchtige. In Fällen besonders tiefgreifender und folgenschwerer Grundrechtsverstöße sei vom Fortbestehen des Rechtsschutzbedürfnisses auszugehen, wenn die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt sich auf eine Zeitspanne beschränke, in welcher der Betroffene nach dem regelmäßigen Geschäftsgang eine Entscheidung des Verfassungsgerichts habe kaum erlangen können. Dies dürfe nicht dazu führen, dass eine Verfassungsbeschwerde allein wegen des vom Beschwerdeführer nicht zu vertretenden Zeitablaufs als unzulässig verworfen werde.

Der Beschwerdeführer mache unter dem Gesichtspunkt des Rehabilitationsinteresses ein fortbestehendes Interesse an der Entscheidung über seine Verfassungsbeschwerde geltend. Die anhaltenden Auswirkungen der vollzogenen Untersuchungshaft belasteten ihn ungeachtet des Umstands, dass der Haftbefehl außer Kraft getreten sei. ln der Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft habe ein für den Beschwerdeführer besonders belastender Grundrechtseingriff gelegen, dessen Auswirkungen andauerten. Denn die strafvollzugsgesetzlichen Entscheidungen darüber, ob der Beschwerdeführer den besonderen Anforderungen des offenen Vollzugs genüge, hänge insbesondere davon ab, ob zu befürchten sei, dass der Beschwerdeführer sich dem Vollzug entziehe. Der Beschwerdeführer müsse befürchten, dass die wiederholte Annahme von Fluchtgefahr ihn als ungeeignet für den offenen Vollzug erscheinen lasse, obgleich er im Übrigen aufgrund der im fachgerichtlichen Verfahren vorgetragenen persönlichen Umstände ein Regelkandidat für den offenen Vollzug sei. Da der geschlossene Vollzug mit weitergehenden Beschränkungen der Freiheitsrechte, der Berufsausübungsfreiheit und des Rechts auf allgemeine Handlungsfreiheit verbunden sei, habe der Beschwerdeführer ein fortbestehendes, schutzwürdiges Interesse an der Bescheidung seiner Verfassungsbeschwerde. Sie gebe Anlass zur Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung.

V.

Der Äußerungsberechtigte hat von einer Stellungnahme abgesehen.

B.

Die Verfassungsbeschwerde hat Erfolg, soweit sie zulässig ist. Im Übrigen wird sie verworfen.

1. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, soweit der Haftbefehl des Amtsgerichts Frankfurt (Oder) vom 8. September 2020, dessen Beschluss vom 9. November 2020 (45 Gs 1578/20) und der Haftfortdauerbeschluss des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 11. Mai 2021 (23 Wi KLs 1/21) angegriffen werden. Insofern genügt die Verfassungsbeschwerde nicht den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung nach § 20 Abs. 1 Satz 2, § 46 VerfGGBbg. Im Fall einer Verfassungsbeschwerde gegen eine gerichtliche Entscheidung muss der Beschwerdeführer ausgehend vom Entscheidungsinhalt aufzeigen, worin der Grundrechtsverstoß aus seiner Sicht im Einzelnen liegt (st. Rspr., zuletzt Beschluss vom 20. August 2021 - VfGBbg 68/20 -, Rn. 20 m. w. N., https://verfassungsgericht.brandenburg.de). Diesen Anforderungen wird die Beschwerdeschrift im Hinblick auf die genannten Beschlüsse nicht gerecht. Diese werden lediglich als Angriffsgegenstand in dem Ursprungs- und dem geänderten Antrag benannt. An einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Beschlüssen fehlt es. Eine solche leistet die Beschwerdeschrift allein in Bezug auf die Entscheidung des Oberlandesgerichts vom 21. Juli 2021 (1 Ws 100/21 [S]).

Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts vom 21. Juli 2021 (1 Ws 100/21 [S]) steht nicht entgegen, dass das Urteil des Landgerichts Frankfurt (Oder) nach Erhebung der Verfassungsbeschwerde in Rechtskraft erwachsen ist und sich der Beschwerdeführer nunmehr in Strafhaft befindet.

Erledigt sich im Verlauf des verfassungsgerichtlichen Verfahrens das ursprüngliche Rechtsschutzanliegen des Beschwerdeführers, besteht das Rechtsschutzbedürfnis nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichts nur dann fort, wenn andernfalls die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung unterbliebe, der gerügte Grundrechtseingriff besonders schwer wiegt, eine relevante Gefahr der Wiederholung des Eingriffs besteht oder die gegenstandslos gewordene Maßnahme den Beschwerdeführer weiter beeinträchtigt (vgl. Beschlüsse vom 20. November 2020 - VfGBbg 58/20 -, und vom 15. Februar 2019 - VfGBbg 183/17 - Rn.11, m. w. N., https://verfassungsgericht.brandenburg.de).

Ein fortbestehendes schutzwürdiges Interesse an einer nachträglichen verfassungsrechtlichen Überprüfung und gegebenenfalls einer hierauf bezogenen Feststellung der Verfassungswidrigkeit durch das Verfassungsgericht kann im Falle eines schwerwiegenden Grundrechtseingriffs bestehen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25. September 2020 - 2 BvR 556/18 -, Rn. 29, www.bverfg.de). Schwerwiegende, tatsächlich aber nicht mehr fortwirkende Grundrechtseingriffe kommen vor allem bei Anordnungen in Betracht, die die Verfassung - wie Art. 15 Abs. 2 LV oder Art. 9 Abs. 2 Satz 1 LV - vorbeugend dem Richter vorbehalten hat. Anordnungen einer Freiheitsentziehung stehen einer gerichtlichen und verfassungsgerichtlichen Überprüfung offen, auch wenn die angeordnete Maßnahme inzwischen durchgeführt und beendet ist. Ein Feststellungsinteresse kann insofern wegen des Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht auch bei vollzogener Untersuchungshaft zu bejahen sein (vgl. zu Art. 2 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz (GG), Art. 104 Abs. 2 und 3 GG: BVerfG, Beschlüsse vom 24. August 2017 - 2 BvR 77/16 -, Rn. 34, und vom 31. Oktober 2005 - 2 BvR 2233/04 -, Rn. 21, www.bverfg.de).

Daran gemessen besteht ein Rechtsschutzbedürfnis des Beschwerdeführers fort. Der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts vom 21. Juli 2021 (1 Ws 100/21 [S]) war Grundlage eines schwerwiegenden Eingriffs in das Grundrecht des Beschwerdeführers auf Freiheit der Person aus Art. 9 Abs. 1 LV.

2. Die Verfassungsbeschwerde ist im Umfang des Tenors begründet.

a) Der Beschluss des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 21. Juli 2021 (1 Ws 100/21 [S]) verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Freiheit der Person aus Art. 9 Abs. 1 LV.

aa) Art. 9 Abs. 1 LV gewährleistet inhaltsgleich mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG jedermann die Freiheit der Person und nimmt einen hohen Rang unter den Grundrechten ein (Beschluss vom 21. Februar 2014 - VfGBbg 35/13 -, m. w. N., https://verfassungsgericht.brandenburg.de). Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 9 Abs. 1 LV gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschuldsvermutung nur ausnahmsweise zulässig. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 18. Februar 2020 - 2 BvR 2090/19 -, Rn. 46 m. w. N., und vom 23. Januar 2019 - 2 BvR 2429/18 -, Rn. 52, www.bverfg.de).

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist nicht nur für die Anordnung, sondern auch für die Dauer der Untersuchungshaft von Bedeutung. Er verlangt, dass die Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zur erwarteten Strafe steht, und setzt ihr auch unabhängig von der Straferwartung Grenzen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 1. Dezember 2020 - 2 BvR 1853/20 -, Rn. 26, vom 23. Januar 2019 - 2 BvR 2429/18 -, Rn. 55, vom 20. Oktober 2006 - 2 BvR 1742/06 -, Rn. 1-49, www.bverfg.de, und vom 3. Mai 1966 - 1 BvR 58/66 -, BVerfGE 20, 45-51, Rn. 14, juris). Das Gewicht des Freiheitsanspruchs vergrößert sich gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung regelmäßig mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft. Daraus folgt, dass die Anforderungen an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund mit der Dauer der Untersuchungshaft steigen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 3. Februar 2021 - 2 BvR 2128/20 -, Rn. 36 m. w. N., und vom 24. August 2010 - 2 BvR 1113/10 -, Rn. 20 m. w. N.). Im Rahmen der von den Fachgerichten vorzunehmenden Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Betroffenen und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit ist die Angemessenheit der Haftfortdauer anhand objektiver Kriterien des jeweiligen Einzelfalles zu prüfen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 18. Februar 2020 - 2 BvR 2090/19 -, Rn. 46 m. w. N., vom 23. Januar 2019 - 2 BvR 2429/18 -, Rn. 56, www.bverfg.de, und vom 22. Januar 2014 - 2 BvR 2248/13 -, Rn. 37, juris).

Im Hinblick auf die besondere Bedeutung des Rechts auf Freiheit der Person aus Art. 9 Abs. 1 LV ist zu berücksichtigen, dass der Grundrechtsschutz auch durch die Verfahrensgestaltung zu bewirken ist (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 9. März 2020 - 2 BvR 103/20 -, Rn. 65, vom 18. Februar 2020 - 2 BvR 2090/19 -, Rn. 54 m. w. N., www.bverfg.de, und vom 22. Januar 2014 - 2 BvR 2248/13 -, Rn. 38, juris). An Haftfortdauerentscheidungen sind erhöhte Begründungsanforderungen zu stellen. In der Regel sind in jedem Beschluss über die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft aktuelle Ausführungen zu dem weiteren Vorliegen ihrer Voraussetzungen, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten, weil sich die dafür maßgeblichen Umstände angesichts des Zeitablaufs in ihrer Gewichtigkeit verschieben können. Die zugehörigen Ausführungen müssen in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Fachgericht im Rahmen einer Eigenkontrolle gewährleisten und in sich schlüssig und nachvollziehbar sein. Die fachgerichtlichen Ausführungen müssen hierzu die maßgeblichen Umstände des jeweiligen Einzelfalls umfassend berücksichtigen und regelmäßig auch den gegen das Vorliegen eines Haftgrundes sprechenden Tatsachen Rechnung tragen, um die (Prognose-)Entscheidung des Gerichts auch intersubjektiv nachvollziehbar zu machen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 9. März 2020 - 2 BvR 103/20 -, Rn. 65, vom 18. Februar 2020 - 2 BvR 2090/19 -, Rn. 54 m. w. N., www.bverfg.de, und vom 22. Januar 2014 - 2 BvR 2248/13 -, Rn. 38, juris).

bb) Daran gemessen weist der Beschluss des Oberlandesgerichts vom 21. Juli 2021 (1 Ws 100/21 [S]) die verfassungsrechtlich geforderte Begründungstiefe nicht auf. Die Ausführungen des Oberlandesgerichts lassen eine zutreffende Anschauung von Inhalt und Bedeutung des Freiheitsgrundrechts aus Art. 9 Abs. 1 LV nicht erkennen.

Dies gilt zunächst im Hinblick auf die im Rahmen der Prüfung des Haftgrunds anzustellende Gesamtabwägung und die Darlegungen zur Verhältnismäßigkeit der Fortdauer der Haft.

Das Oberlandesgericht zeigt nicht auf, welche Kriterien und tatsächlichen Umstände es in die Gesamtabwägung eingestellt hat. Es ist nicht zu erkennen, dass die für und gegen eine Fluchtgefahr sprechenden Umstände hinreichend einbezogen worden sind. An einer erkennbaren Auseinandersetzung mit den vom Beschwerdeführer vorgetragenen, in der Person des Beschwerdeführers liegenden tatsächlichen Umständen, die gegen eine Fluchtgefahr sprechen können (u. a. Alter, Erstverbüßer, Verhalten im Strafverfahren, beanstandungsfreie Führung in der Untersuchungshaft), fehlt es insgesamt. Das Oberlandesgericht hat die Fluchtgefahr im Wesentlichen auf die sich aus dem Urteilsspruch ergebende Straferwartung und die stabilen Beziehungen des Beschwerdeführers in die Türkei gestützt.

Schließlich sind auch die Ausführungen des Oberlandesgerichts zu den Voraussetzungen des § 57 StGB unzureichend. Auch zu diesem Punkt erfolgen lediglich pauschale Ausführungen, während eine Analyse des konkreten Sachverhalts, vor allem der Umstände der Tatbegehung und der Persönlichkeit des Beschwerdeführers, unter Berücksichtigung der zu § 57 StGB entwickelten Grundsätze unterbleibt. Zu würdigen ist die für den Fall einer (rechtskräftigen) Verurteilung konkret im Raum stehende Straferwartung und - unter Berücksichtigung einer etwaigen Aussetzung des Strafrests zur Bewährung gemäß § 57 StGB - das Ende einer zu verhängenden Freiheitsstrafe (vgl. Krauß, in: BeckOK StPO, Stand: 1. Oktober 2021, StPO § 112 Rn. 29). Auch aus diesem Grund kann nicht festgestellt werden, dass das Oberlandesgericht bei seiner Entscheidung den Inhalt und die Bedeutung des Freiheitsgrundrechts hinreichend beachtet hat.

ie Fortdauer der Untersuchungshaft erweise sich angesichts der Bedeutung der Sache und der im Falle einer rechtskräftig werdenden Verurteilung für den Beschwerdeführer zu erwartenden Freiheitsstrafe auch unter Berücksichtigung der bisherigen Verfahrensdauer seit der Inhaftierung als noch verhältnismäßig35Der formelhafte Satz zur Verhältnismäßigkeit der Haftfortdauer genügt nicht der verfassungsrechtlich gebotenen wertenden Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse des Staates. Die Entscheidung nimmt nicht die konkreten Nachteile und Gefahren des Freiheitsentzugs im Verhältnis zur Bedeutung der in Rede stehenden Strafsache sowie der zu erwartenden Straffolgen in den Blick.

Im Hinblick auf die Aussetzung des Vollzugs des Haftbefehls wegen weniger einschneidender Maßnahmen (§ 116 Abs. 1 StPO) wird die durch Art. 9 Abs. 1 LV gebotene Abwägung nicht ansatzweise vorgenommen. Das Oberlandesgericht beschränkt sich auf die formelhafte und pauschale Feststellung, dass bei der gegebenen Sachlage der Zweck der Untersuchungshaft auch durch mildere Maßnahmen gemäß § 116 Abs. 1 StPO nicht zu erreichen sei.

Es kann angesichts dessen nicht ausgeschlossen werden, dass das Oberlandesgericht bei einer den verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen genügenden Sachprüfung zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.

b) Der Beschluss des Oberlandesgerichts vom 21. Juli 2021 verletzt aus den genannten Gründen auch den Anspruch auf rechtliches Gehör. Das Gebot des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Die Nichtberücksichtigung des wesentlichen Kerns von Tatsachenvortrag zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, lässt auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert ist (vgl. Beschluss vom 20. Mai 2021 - VfGBbg 72/19 -, Rn. 36 f. m. w. N., https://verfassungsgericht.brandenburg.de). Ein Eingehen auf die in dem Beschwerdebegründungsschriftsatz vom 14. Juli 2021 vorgebrachten zentralen Gesichtspunkte ist nicht zu erkennen.

C.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 32 Abs. 7 Satz 1 VerfGGBbg.

D.

Der Gegenstandswert ist nach § 33 Abs. 1, § 37 Abs. 2 Satz 2 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz entsprechend der ständigen Praxis des Gerichts in Verfahren über Individualverfassungsbeschwerden gegen Gerichtsentscheidungen auf 10.000,00 € festzusetzen (vgl. Beschluss vom 17. Februar 2017 - VfGBbg 97/15 -, https://verfassungsgericht.brandenburg.de).

E.

Der Beschluss ist einstimmig ergangen. Er ist unanfechtbar.


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