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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, rückwirkende Bestellung

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Kiel, Beschl. v. 16.09.2021 - 1 Qs 72/21

Leitsatz: Die rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers hat auch noch nach Beendigung des Verfahrens zu erfolgen, wenn der Beiordnungsantrag bereits vor Verfahrensbeendigung gestellt worden ist, die Voraussetzungen für eine Beiordnung zum damaligen Zeitpunkt vorlagen und eine Entscheidung über den Beiordnungsantrag vor Verfahrensbeendigung unterblieben ist, weil die Beschlussfassung auf Grund justizinterner Vorgänge wesentlich verzögert wurde.


Landgericht Kiel

Beschluss

In dem Ermittlungsverfahren
gegen pp.

Rechtsanwalt pp.
Gz.:
wegen des Verdachts des besonders schweren Falls des Diebstahls

hat das Landgericht Kiel - 1. große Strafkammer - durch den Richter am Landgericht, den Richter und die Richterin am Landgericht am 16. September 2021 beschlossen:

Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Beschluss des Amtsgerichts Kiel vom 03.08.2021 - 43 Gs 3882/21 - wird mit der Maßgabe als unbegründet verworfen, dass Rechtsanwalt Pp. als Pflichtverteidiger für den Zeitraum vom 01.01.2021 bis zur Einstellung des Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft beigeordnet wird.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Staatskasse.

Gründe:

Der Beschwerdeführer hat mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 14.12.2020 beantragt, ihm Rechtsanwalt Pp. als Pflichtverteidiger beizuordnen. Der an die Bezirkskriminalinspektion Kiel gerichtete Schriftsatz beinhaltete zudem die Bitte, die Akte unverzüglich über die Staatsanwaltschaft Kiel dem zuständigen Amtsgericht zur Entscheidung über den Beiordnungsantrag zu übersenden (BI. 56 f. d.A.).

Am 24.03.2021 ging die Akte bei der Staatsanwaltschaft Kiel ein (vgl. Bl. 76 d.A.).

Mit Verfügung vom 22.06.2021 hat die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen den Beschwerdeführer gemäß § 170 Abs. 2 StPO wegen fehlenden Tatverdachts eingestellt.

Mit Schriftsatz vom 24.06.2021 erinnerte der Pflichtverteidiger des Beschuldigten an den Beiordnungsantrag (BI. 103 f. d.A.). Am 06.07.2021 beantragte der ehemals Beschuldigte durch Schrift-satz seines Verteidigers die nachträgliche Beiordnung (BI. 106 f. d.A.), woraufhin die Staatsanwaltschaft die Akte an das zuständige Amtsgericht weiterleitete, wo sie am 19.07.20221 einging (BI. 109 d.A.).

Mit dem angefochtenen Beschluss vom 03.08.2021 hat das Amtsgericht Kiel Rechtsanwalt Pp. als Pflichtverteidiger bestellt. Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Staatsanwaltschaft mit der Begründung, die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers nach Abschluss des Verfahrens komme nicht in Betracht.

II.

Die Beschwerde ist unbegründet, weil dem ehemals Beschuldigten rückwirkend Rechtsanwalt Pp. als Pflichtverteidiger beizuordnen war. Eine rückwirkende Verteidigerbeiordnung ist auch nach Verfahrensbeendigung unter bestimmten Voraussetzungen grundsätzlich möglich (dazu Ziffer 1.). Diese Voraussetzungen liegen hier vor (dazu Ziffer 2.).

1. Die rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers hat abweichend von der Auffassung der Staatsanwaltschaft auch noch nach Beendigung des Verfahrens zu erfolgen, wenn (1) der Beiordnungsantrag bereits vor Verfahrensbeendigung gestellt worden ist, (2) die Voraussetzungen für eine Beiordnung zum damaligen Zeitpunkt vorlagen und (3) eine Entscheidung über den Beiordnungsantrag vor Verfahrensbeendigung unterblieben ist, weil die Beschlussfassung auf Grund justizinterner Vorgänge wesentlich verzögert wurde (LG Kiel, Beschluss v. 30.08.2021 - 1 Qs 30/21; ebenso: OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021 - 1 Ws 260/21 -, Rn. 14 ff., juris; OLG Nürnberg, Beschluss vom 06. November 2020 - Ws 962/20 -, Rn. 25 ff., juris).

Gemäß § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO in der seit dem 13.12.2019 geltende Fassung wird dem Be-schuldigten, dem der Tatvorwurf eröffnet worden ist und der noch keinen Verteidiger hat, in den Fällen der notwendigen Verteidigung unverzüglich ein Pflichtverteidiger bestellt, wenn der Be-schuldigte dies nach Belehrung ausdrücklich beantragt. Dieses Antragsrecht dient der Umsetzung der Vorgaben der PKH-Richtlinie (RL [EU] 2016/1919), die - ausgehend von einem System der Prozesskostenhilfe - voraussetzt, dass der Beschuldigte - auch zur effektiven Ausübung seines Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand - das Recht haben muss, die Beiordnung eines Verteidigers durch einen eigenen Antrag herbeizuführen (BT-Dr. 19/13829, S. 36). Die Intention dieses Gesetzes ist es, einem Beschuldigten im Fall der notwendigen Verteidigung einen frühzeitigeren Zugang zu einem (Pflicht-)Verteidiger zu ermöglichen als dies bis zur Gesetzesänderung der Fall war (vgl. BT-Dr. 19/13829, S. 36). Insbesondere monetäre Gründe sollen den Be-schuldigten nicht davon abhalten, auch schon in einem frühen Stadium des Ermittlungsverfahrens von dem Recht auf Hinzuziehung eines Pflichtverteidigers Gebrauch zu machen.

Diesem Zweck stünde eine Gesetzesauslegung entgegen, nach der ein Beschuldigter, der sich auf sein Recht auf Pflichtverteidigerbestellung beruft und einen Verteidiger konsultiert, damit rechnen müsste, mit den Kosten seines Rechtsbeistandes deswegen belastet zu werden, weil -jeweils entgegen § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO - die Staatsanwaltschaft den Antrag nicht unverzüglich dem Gericht vorlegt oder aber das Gericht über einen solchen ihm vorliegenden Antrag nicht unverzüglich entscheidet (vgl. OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021 - 1 Ws 260/21; OLG Nürnberg, Beschluss vom 06. November 2020 - Ws 962/20; Beschlüsse der Kammer vom 09.08.2021 - 1 Qs 34/21 und vom 08.06.2021 - 1 Qs 14/21; LG Bochum, NStZ-RR 2020, 352, 353f; jedenfalls auch i. Erg. ebenso inzwischen wohl mehrheitlich weitere Landgerichte: LG Aurich, Beschluss vom 05.05.2020 - 12 Qs 78/20; LG Hechingen, Beschluss vom 20.05.2020 - 3 Qs 35/20; LG Flensburg, Beschluss vom 09.12.2020 - II Qs 43/20; LG -Regensburg, Beschluss vom 30.12.2020 - 5 Qs 188/20; LG Berlin, Beschluss vom 08.01.2021 - 512 Qs 62/20; LG Frankenthal, Beschluss vom 02.02.2021 - 1 Qs 16/21; LG Magdeburg, Beschluss vom 10.03.2021 25 Qs 740 Js 42240/19 (2/21); LG Leipzig, Beschluss vom 25.03.2021 - 8 Qs 26/21; LG Gera, Beschluss vom 31.03.2021 — 11 Qs 96/21, 11 Qs 97/21; LG Köln, Beschluss vom 06.04.2021 —323 Qs 19/21; LG Hamburg, Beschluss vom 15.07.2021 - 622 Qs 22/21; offen lassend: OLG Bremen, NStZ 2021, 253; aA auch nach Änderung des Pflichtverteidigungsbeiordnungsrechts etwa: OLG Braunschweig, Beschluss vom 02.03.2021 - 1 Ws 12/21; OLG Hamburg, Beschluss vom 16.09.2020 - 2 Ws 112/20; LG Osnabrück, Beschluss vom 16.11.2020 — 1 Qs 47/2; LG Bielefeld, Beschluss vom 16.04.2021 — 02 Qs 138/21; LG Düsseldorf, Beschluss vom 21.04.2021 —12 Qs 9/21; LG Bonn, Beschluss vom 19.07.2021 - 63 Qs 51/21; LG Kiel, Beschluss vom 03.08.2021 - 10 Qs 52/21, wobei in dem von der 10. großen Strafkammer des LG Kiel entschiedenen Fall die Voraussetzungen einer rückwirkenden Beiordnung ohnehin nicht vorlagen, weil der Beiordnungsantrag eine Woche vor Verfahrenseinstellung erfolgte, sodass auch bei unverzüglicher Bescheidung des Antrags - binnen weniger Wochen - keine Bescheidung vor Verfahrensende hätte erfolgen können).

Für die Richtigkeit dieser Auffassung spricht auch die höchstrichterliche Rechtsprechung hin-sichtlich der Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Danach kommt eine rückwirkende Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach Abschluss des Verfahrens für den Fall in Betracht, dass vor dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens ein Bewilligungsantrag mit den erforderlichen Unterlagen gestellt, aber nicht bzw. nicht vorab beschieden worden ist und der Antragsteller mit seinem Antrag bereits alles für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe Erforderliche getan hat (vgl. BGH, Beschluss vom 18. März 2021 — 5 StR 222/20 —, Rn. 4, juris). Es ist nicht ersichtlich, warum für die rückwirkende Bewilligung von Prozesskostenhilfe andere Voraussetzungen gelten sollten als für die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers (so zutreffend: OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021 — 1 Ws 260/21 Rn. 17 ff., juris).

2. Hier lagen die oben genannten Voraussetzungen für eine rückwirkende Beiordnung nach Verfahrensbeendigung vor. Der Beiordnungsantrag war bereits vor Verfahrensbeendigung gestellt worden, die Voraussetzungen für eine Beiordnung lagen zum damaligen Zeitpunkt vor und eine Entscheidung über die Beiordnung ist auf Grund justizinterner Vorgänge wesentlich verzögert und nur deshalb erst nach Verfahrensbeendigung erfolgt.

Die Beiordnungsvoraussetzungen lagen zum Zeitpunkt des Eingangs des Beiordnungsantrags vor, weil gegen den damaligen Beschuldigten wegen des Verdachts des besonders schweren Falls des Diebstahls (§ 243 Abs. 1 Nr. 1 StGB) ermittelt wurde und ihm der Tatvorwurf auch eröffnet worden war (§ 141 Abs. 1 StPO). Es lagen seinerzeit die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO schon deshalb vor, weil bei der Entscheidung nach § 140 Abs. 2 StPO auch drohende schwerwiegende weitere Nachteile aus einer möglichen Verurteilung wegen der verfahrensgegenständlichen Tat zu berücksichtigen sind. Zu diesen Nachteilen gehört ein drohender Bewährungswiderruf jedenfalls dann, wenn die zu erwartende Verbüßungsdauer der in früheren Verurteilungen verhängten Freiheitsstrafen ein Jahr überschreitet (OLG Celle, Beschluss vom 30. Mai 2012 — 32 Ss 52/12 —, Rn. 9 ff. juris; BeckOK StPO/Krawczyk, 40. Ed. 1.7.2021, StPO § 140 Rn. 25). Vorliegend stand der ehemals Beschuldigte unter laufender Bewährung, nachdem er vom Amtsgericht Karlsruhe zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 4 Monaten verurteilt worden war.

Schließlich wurde der Antrag wesentlich verzögert und nur deshalb nicht vor Abschluss des Verfahrens beschieden, sondern erst - nach zuvor am 22.06.2021 erfolgter Einstellung des Verfahrens - am 03.08.2021, weil die Akte erst am 19.07.2021 dem Amtsgericht vorgelegt worden war. Gründe dafür, die Akte nicht zeitnah zum Eingang des Beiordnungsantrages dem zuständigen Amtsgericht zur Bescheidung jenes Antrags zuzuleiten, sind für die Kammer nicht ersichtlich.

Im vorliegenden Fall, war mit Blick auf den Beginn einer Frist zur Bearbeitung ohne Verzögerung bereits auf den Zeitpunkt der Antragstellung bei der BKI Kiel abzustellen, weil der Beiordnungsantrag ausdrücklich mit der Aufforderung an die Polizei verbunden worden war, die Akten unverzüglich über die Staatsanwaltschaft dem zuständigen Amtsgericht zur Entscheidung über den Beiordnungsantrag zu übersenden. Der Umstand, dass dies seitens der Polizei nicht erfolgte, ist bereits als eine der Justiz zuzuschreibende Verzögerung einzuordnen. Bei unverzüglicher Weiterleitung des Antrags über die Staatsanwaltschaft an das zuständige Amtsgericht hätte jedenfalls binnen weniger Wochen also noch im Januar 2021 über den Antrag entschieden werden können und müssen, also zu einem Zeitpunkt, als das Verfahren noch (lange) nicht beendet war.

Selbst wenn man - anders als die Kammer - auf den Zeitpunkt des Eingangs der Akte bei der Staatsanwaltschaft abstellen würde, wäre die Entscheidung über die Beiordnung vor Verfahrensbeendigung auf Grund justizinterner Vorgänge mit wesentlicher Verzögerung erfolgt. Die Akte mit dem darin enthaltenen Beiordnungsantrag ging bereits am 24.03.2021 bei der Staatsanwaltschaft ein (vgl. BI. 76 d.A.) war. Nach Eingang der Akte hätte diese zeitnah an das für die Bescheidung des bereits mehrere Monate zuvor gestellten Antrags auf Beiordnung zuständige Amtsgericht zum Zwecke der Bescheidung jenes Antrags weiter geleitet werden müssen. Auch in den Wochen nach Eingang der Akten bei der Staatsanwaltschaft unterblieb die gebotene Weiterleitung des Antrags. Vielmehr erfolgte die Weiterleitung erst über 3 Monate später, nachdem das Verfahren eingestellt worden war und der ehemals Beschuldigte ausdrücklich eine (nunmehr rückwirkende) Beiordnung beantragt hatte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 StPO analog.


Einsender: TA F. S. Fülscher, Kiel

Anmerkung:


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