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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, Straferwartung, Gesamtstrafe

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Leipzig, Beschl. v. 14.04.2021 - 6 Qs 29/21

Leitsatz: Unter Beachtung der früheren Rechtsprechung zum Rechtsbegriff der Schwere der Tat gibt eine Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe in der Regel Anlass zur Beiordnung eines Verteidigers, wobei diese Grenze auch gilt, wenn sie nur wegen einer erforderlichen Gesamt-strafenbildung erreicht wird.


BESCHLUSS

In dem Strafverfahren
gegen pp.

Verteidiger:

wegen Beleidigung

ergeht am 14.04.2021 durch das Landgericht Leipzig - 6. Strafkammer als Beschwerdekammer - nachfolgende Entscheidung:

1. Auf die Beschwerde des Angeklagten pp. wird der Beschluss des Amtsgerichts Eilenburg vom 17.03.2021 (Az.: 5 Ds 950 Js 41066/20(2)), mit dem der Antrag auf Bestellung eines notwendigen Verteidigers abgelehnt wurde, aufgehoben
2. Dem Angeklagten pp. wird antragsgemäß sein bisheriger Wahlverteidiger, Rechtsanwalt PP., gemäß § 140 Abs. 2 StPO als notwendiger Verteidiger bestellt.
3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe:

Die Staatsanwaltschaft Leipzig - Zweigstelle Torgau - legt dem Angeklagten mit Anklageschrift vom 17.12.2020 (BI. 38-39 d.A.) zur Last, am 24.04.2020 gegen 0.15 Uhr im SKH Altscherbitz den Polizeihauptmeister pp. verbal beleidigt zu haben. Die Staatsanwaltschaft beantragte, das Hauptverfahren zu eröffnen und pp, einen Pflichtverteidiger nach § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO zu bestellen, da gegen ihn ein Vollstreckungshaftbefehl vorliege. Die Staatsanwaltschaft Leipzig übersandte am 15.02.2021 eine Strafzeitberechnung für pp., aus der sich ein Strafende am 10.03.2021 ergibt (BI. 40 bis 41 d.A.).

Die Anklageschrift wurde pp. am 23.02.2021 in der Justizvollzugsanstalt Zeithain zugestellt, Rechtsanwalt pp. beantragte mit Schriftsatz vom 15.02.2021 (BI. 43 d.A.), dem Angeschuldigten als Pflichtverteidiger gem. § 140 Abs. 1 Nr. 5/Abs. 2 StPO beigeordnet zu werden und kündigte an, für den Fall seiner Beiordnung das Wahlmandat niederzulegen.

Das Amtsgericht Eilenburg ließ mit Beschluss vom 17.03.2021 die Anklage der Staatsanwaltschaft Leipzig - Zweigstelle Torgau - zur Hauptverhandlung zu und eröffnete das Hauptverfahren vor dem Amtsgericht Eilenburg - Strafrichter -. Zugleich lehnte das Amtsgericht den Antrag auf Bestellung des Rechtsanwaltes pp. als notwendigen Verteidiger ab. Der Angeklagte sei bereits am 10.03.2021 aus der JVA entlassen worden, so dass die Voraussetzungen gem. § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO nicht gegeben seien. Gründe, die eine Bestellung nach § 140 Abs. 2 StPO rechtfertigten, seien weder vorgetragen noch ersichtlich. Es handele sich um einen Anklagevorwurf, aufgrund dessen keine Freiheitsstrafe von 1 Jahr oder mehr zu erwarten sei (BI. 44 bis 44 Rs d.A.).

Mit gesonderter Verfügung vom gleichen Tag bestimmte das Amtsgericht Hauptverhandlungstermin auf den 27.04.2021. Die Ladung zum Termin als auch der Beschluss vom 17.03.2021 wurde an den Verteidiger ausweislich des Erledigungsvermerks zu der entsprechenden richterlichen Verfügung (BI. 46 bis 46 Rs d.A.) am 25.03.2021 ausgeführt. Das handschriftlich auf dem Empfangsbekenntnis des Verteidigers eingefügte Datum ist nicht lesbar.

Mit Verteidigerschriftsatz vom 31.03.2021, per Telefax eingegangen am gleichen Tag (BI. 51 bis 53 d.A.), legte der Angeklagte sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Eilenburg vom 17.03.2021 hinsichtlich der Ablehnung der Beiordnung des Verteidigers ein.

Gegen den Angeklagten sei ein weiteres Verfahren beim Landgericht Leipzig unter dem Az.: 5 KLs 300 Js 42438/18 anhängig; aufgrund der Abfolge von Tatzeitpunkten zu einer möglichen Verurteilung läge hier wie dort erkennbar die Gesamtstrafenfähigkeit vor. Darüber hinaus sei gegen den Angeklagten ein Verfahren beim Amtsgericht Borna unter dem Az.: 5 Cs 500 Js 16412/20 anhängig, „in welchem ich Herrn pp. problemlos als Pflichtverteidiger beigeordnet wurde ....". Eine isolierte Betrachtung des vorliegenden Verfahrens komme nicht in Betracht. Selbst wenn lediglich durch eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung eine Gesamtfreiheitsstrafe von über einem Jahr drohe, sei ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben. Dem Schriftsatz ist beigefügt die Ablichtung eines Beschlusses des Amtsgerichts Borna vom 30.10.2020 (Az.: 5 Ds 500 Js 16412/20), mit dem die Verfahren Az. 5 Ds 108 Js 41442/20 und 5 Ds 500 Js 39471/20 zum führenden Verfahren Az. 5 Cs 500 Js 16412/20 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden werden und dem dortigen Angeklagten pp Rechtsanwalt pp Funck aus Braunschweig gem. § 140 Abs. 2 StPO als Verteidiger bestellt wurde (BI. 82 d.A.).

Auf entsprechende gerichtliche Anforderung übersandte die Staatsanwaltschaft Leipzig -Zweigstelle Torgau - an das Amtsgericht Eilenburg mit E-Mail vom 12.04.2021 (BI. 56 d.A.) die Anklageschriften der Staatsanwaltschaft Leipzig vom 08.09.2020 (Az.: 500 Js 39741/20, BI. 57 bis 57 Rs d.A.) und vom 28.07.2020 (Az.: 108 Js 41472/20, BI. 58 Rs bis 59 d.A.) sowie den Antrag auf Erlass eines Strafbefehls vom 27.03.2020 (Az.: 500 Js 16412/20, BI. 60 bis 61 d.A.).

Das Amtsgericht Eilenburg legte mit Verfügung vom 12.04.2021 (BI. 62 d.A.) die Akte dem Landgericht Leipzig zur Entscheidung über die sofortige Beschwerde zur Entscheidung vor. Nach neuen Erkenntnissen lägen nunmehr die Voraussetzungen zur Bestellung eines notwendigen Verteidigers vor. Auf den — für den 27.04.2021 anberaumten -Hauptverhandlungstermin wurde hingewiesen.

Die Vorlage der Akte erfolgte ohne Beteiligung der Staatsanwaltschaft Leipzig - Zweigstelle Torgau -. Die Kammer hat aus dem beim Landgericht Leipzig unter dem Az.: 5 KLs 300 Js 42438/18 geführten Verfahren die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Leipzig vom 29.03.2019 und das in dem Verfahren vom Sachverständigen pp. Berlin, erstellte vorbereitende schriftliche forensisch-psychiatrische Gutachten zu pp. zu den Voraussetzungen der §§ 20, 21, 63, 64, 66 StGB vom 30.07.2019 beigezogen.

Die Berichterstatterin informierte den bei der Staatsanwaltschaft Leipzig - Zweigstelle Torgau - zuständigen Dezernenten über die Vorlage der sofortigen Beschwerde und gewährte - im Interesse der Einhaltung des für den 27.04.2021 anberaumten Hauptverhandlungstermins - fernmündlich rechtliches Gehör.

Der zuständige Dezernent teilte mit, dass der Annahme des Amtsgerichts Eilenburg, Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO lägen nunmehr vor, nicht entgegengetreten werde.

Wegen weiterer Einzelheiten wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die oben angegebenen Schriftsätze und Unterlagen Bezug genommen.

II.

1. Die gem. § 142 Abs. 7 Satz 1 StPO statthafte sofortige Beschwerde ist zulässig, insbesondere auch form- und fristgerecht in der Wochenfrist gem. § 311 Abs. 2 StPO eingelegt. Die richterliche Verfügung mit der Zustellung des angefochtenen Beschlusses an den Verteidiger wurde ausweislich des Abfertigungsvermerks des Gerichts am 25.03.2021 (BI. 46- 46 Rs. d.A.) erledigt. Die sofortige Beschwerde ging am 31.03.2021 beim Amtsgericht Eilenburg ein, so dass die Wochenfrist jedenfalls gewahrt ist.

2. Die sofortige Beschwerde ist im Ergebnis auch begründet. Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt auch vor, wenn wegen der Schwere der Tat, der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann (§ 140 Abs.2 StPO).

a) Zwar liegen die Voraussetzungen einer Beiordnung gem. § 140 Abs.1 StPO ersichtlich nicht vor. Auch liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO unter dem Gesichtspunkt der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage nicht vor.

b) Indes liegen die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO unter dem Gesichtspunkt der „Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen" vor. Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen wurde durch das Gesetz der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 ausdrücklich neu in den Wortlaut aufgenommen.

Unter Beachtung der bisherigen Rechtsprechung zum Rechtsbegriff der "Schwere der Tat" gibt eine Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe in der Regel Anlass zur Beiordnung eines Verteidigers, wobei diese Grenze auch gilt, wenn sie nur wegen einer erforderlichen Gesamtstrafenbildung erreicht wird (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 63. A., § 140 Rz. 23a).

Ein solcher Fall liegt hier vor. Die dem hiesigen Ermittlungsverfahren (Az.: 950 Js 41066/20) zugrundeliegende Tat soll am 23.04.2020 begangen worden sein.

Zwar hat in dem vom Verteidiger angeführten -beim Landgericht Leipzig unter dem Az.: 5 KLs 300 Js 42438/18 (und dem dort hinzuverbundenen Verfahren Az.: 856 Js 4246/18) anhängigen- Verfahren die Hauptverhandlung noch nicht stattgefunden.

Die dem hiesigen Beschuldigten dort zur Last liegenden Taten aus dem Tatzeitraum vom 17.01.2018 bis zum 07.10.2018 liegen indes sämtlich vor dem Urteil des Amtsgerichts Leipzig vom 15.01.2019 (Az.: 203 Ls 856 Js 40032/18) bzw. dem entsprechenden Berufungsurteil (Az.: 10 Ns) des Landgerichts Leipzig vom 30.08.2019, mit welchem der Beschwerdeführer—rechtskräftig seit dem 25.04.2020 - zu einer nach Mitteilung der Staatsanwaltschaft Leipzig (BI. 40/41 d.A.) seit dem 10.03.2021 vollständig vollstreckten Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr und 4 Monaten verurteilt wurde, weshalb die vorgenannten Urteile nun (vgl. den Beschluss der Kammer vom 10.11.2020 — 6 Qs 63/20 -) nicht mehr zäsurbildend wirken. Da die Gesamtfreiheitsstrafe seit dem 10.03.2021 vollständig volltreckt ist, kommt eine Gesamtstrafenfähigkeit insoweit nicht mehr in Betracht.

Gesamtstrafenfähigkeit bestünde mithin für den Fall eines Schuldspruches in dem beim Landgericht Leipzig anhängigen Verfahren jedenfalls zwischen den in jenem Verfahren zu erwartenden Strafen und der zu erwartenden Strafe aus den beim Amtsgericht Eilenburg und Amtsgericht Borna (Tatzeiten: Januar und Mai 2020) anhängigen Verfahren.

Angesichts der Vielzahl der Tatvorwürfe, darunter der Versuch eines qualifizierten Verbrechens (Tat Nr. 3. der Anklageschrift vom 29.03.2019, Az. 300 Js 42438/18), der zahlreichen, auch einschlägigen Vorstrafen und des Umstandes, dass der Angeklagte seit dem 22.08.2017 unter fünfjähriger Führungsaufsicht steht, steht eine — wenn auch ggfs. nachträglich zu bildende - Gesamtfreiheitsstrafe von deutlich über einem Jahr im Raum, mithin war ein Fall des § 140 Abs. 2 StPO gegeben.

c) Ob zudem auch ausreichende erhebliche Zweifel an der Selbstverteidigungsfähigkeit des Angeklagten die Bestellung eines notwendigen Verteidigers nach § 140 Abs. 2 StPO rechtfertigen, kann letztendlich offen bleiben. Die Kammer weist jedoch darauf hin, dass bereits die anlässlich des zur Anklage gebrachten Sachverhalts angeregte vorläufige öffentlich-rechtliche Unterbringung geeignet sein könnte, an der Verteidigungsfähigkeit des Angeklagten Zweifel aufkommen zu lassen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Auflage, § 140, Rz. 30 a m.w.N.).

Auch ergibt sich aus dem in dem Verfahren Az.: 5 KLs 300 Js 42438/18 erstellten vorbereitenden schriftlichen forensisch-psychiatrischen Gutachten vom 30.07.2019, dass der Angeklagte an einer dissozialen Persönlichkeitsstörung (ICD10 F60.2) leidet und schädlichen Gebrauch von Alkohol und Drogen im Sinne einer Polytoxikomanie (ICD10 F19.2) betreibt, wobei beide Diagnosen nicht einem Eingangsmerkmal des § 20 StGB zugeordnet werden könnten.

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.


Einsender: RA J. - R. Funck, Braunschweig

Anmerkung:


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