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Entscheidungen

StPO

Zwangsmittel nach § 230 Abs. 2 StPO, Ladung, sprachunkundiger Angeklagter

Gericht / Entscheidungsdatum: KG, Beschl. v. 09.10.2020 - 4 Ws 80/20

Leitsatz: Von den Zwangsmitteln des § 230 Abs. 2 StPO darf kein Gebrauch gemacht werden, wenn der Ladung eines Angeklagten, der nach Aktenlage der deutschen Schriftsprache nicht hinreichend mächtig ist, keine Übersetzung der nach § 216 Abs. 1 Satz 1 StPO vorgesehenen Warnung, dass im Falle des unentschuldigten Ausbleibens die Verhaftung oder Vorführung erfolgen werde, in eine ihm verständliche Sprache beigefügt wurde.


KAMMERGERICHT

Beschluss

4 Ws 80/20


In der Strafsache
gegen pp.

wegen Erschleichens von Leistungen


hat der 4. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 9. Oktober 2020 beschlossen:

1. Auf die weitere Beschwerde der Angeklagten werden der Beschluss des Landgerichts Berlin – Jugendkammer – vom 6. August 2020 und der Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten – Jugendgericht – vom 13. Juli 2020 aufgehoben.

2. Die Landeskasse Berlin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die der Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen.

Gründe:


I.

Der Angeklagten wird vorgeworfen, sich an jeweils zwei Tagen im Januar bzw. August 2019 als Jugendliche mit Verantwortungsreife des Erschleichens von Leistungen in vier Fällen durch Benutzung von U-Bahnen der Berliner Verkehrsbetriebe ohne Bezahlung der Fahrtentgelte schuldig gemacht zu haben.

Im Vorfeld der schließlich auf den 13. Juli 2020 anberaumten Hauptverhandlung hatte der (ehemalige) Bewährungshelfer der Angeklagten unter dem 21. April 2020 auf Anfrage des Gerichts mitgeteilt, dass die Angeklagte ihm in einem letzten Gespräch am 1. Oktober 2019 gesagt habe, sie wolle im Oktober 2019 (die Angabe „2020“ in dem Schreiben ist nach dem Gesamtzusammenhang ein ersichtlicher Schreibfehler) zu ihrer Oma nach A. in R. und werde dort in der Straße D bei der Oma – Frau T – wohnen. Seither habe er nichts mehr von ihr gehört. Da er aber im Kontakt zum Jobcenter stehe, werde er eine Information erhalten, sobald die Angeklagte in Berlin wieder im Leistungsbezug stehe. Zu der Anschrift E. Straße wies der Bewährungshelfer darauf hin, dass dort entgegen früherer Annahme kein „Wohnheim“ im eigentlichen Sinne bestehe, sondern vielmehr ein Privatvermieter agiere, der an rumänische Bürger vermiete und hierfür Geld vom Sozialamt beziehe, ohne jedoch der behördlichen Auflage, ordnungsgemäße Mietverträge abzuschließen, stets nachzukommen. Was mit dort zugestellter Post geschehe, entziehe sich seiner – des Bewährungshelfers – Kenntnis.

Daraufhin vom Jugendgericht veranlasste polizeiliche Hausermittlungen am 4. und 12. Mai 2020 unter der Anschrift E. Straße xx erbrachten die knappe Mitteilung der Polizei, dass die Angeklagte dort nicht angetroffen worden sei; „Mitbewohner der Wohnung“ hätten angeben, dass die Angeklagte „dort noch wohnt, sich jedoch zur Zeit in R. aufhalte“. Die „Mitbewohner“ wurden nicht namentlich benannt. Auch wurde nicht geklärt, in welchem Verhältnis zu der Angeklagten die Auskunftspersonen stehen, auf welcher Grundlage deren Angaben beruhten und ob die Auskünfte verlässlich waren. Seit wann, zu welchem Zweck und für wie lange sich die Angeklagte in R. aufhalte, wurde ebenfalls nicht erfragt. Dem als Beiakte geführten Bewährungsheft in der Sache 402-25/18 ist zu entnehmen, dass angesichts dessen, dass die Angeklagte Anfang Oktober 2019 zu ihrer Oma nach R. ziehen werde, ihre dortige Unterstellung unter die Aufsicht eines Bewährungshelfers mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft Berlin durch (rechtskräftig gewordenen) Beschluss bereits vom 24. Oktober 2019 aufgehoben worden war. Ausweislich im Bewährungsheft befindlicher Berichte der Jugendgerichtshilfe vom 23. Juli 2018 und des ehemaligen Bewährungshelfers vom 27. Mai 2019 gilt die Unterkunft in der E. Straße als „heruntergekommenes Wohnheim“, in dem die Angeklagte gemeinsam mit ihren Eltern sowie zwei älteren Brüdern eine 2-Zimmer-Wohnung bewohnt habe.

Die Ladung der Angeklagten zur Hauptverhandlung erfolgte unter der Anschrift E. Straße xx durch Einlegung des Schriftstückes in einen Briefkasten. Der (zur Hauptverhandlung geladene) ehemalige Bewährungshelfer teilte dem Amtsgericht unter dem 2. Juni 2020 noch mit, dass er seit Oktober 2019 keinen Kontakt zu der Angeklagten mehr gehabt habe. Der für die Angeklagte tätige Verteidiger, der infolge Akteneinsicht seit dem 5. Mai 2020 Kenntnis von dem Hauptverhandlungstermin und seine Ladung am 30. Mai 2020 empfangen hatte, teilte am 10. Juli 2020 – einem Freitag – dem Amtsgericht telefonisch mit, dass die Angeklagte „seit einem Jahr in R.“ sei und es nicht schaffe, rechtzeitig zu dem Termin am folgenden Montag zu erscheinen. Diese Mitteilung wiederholte er mit Faxschreiben am Morgen des 13. Juli 2020 und beantragte die Aufhebung des Hauptverhandlungstermins, wobei er begründungslos die Einstellung des Verfahrens anregte, andererseits aber auch ankündigte, dass die Angeklagte zu einem etwaigen neuen Termin kommen würde.

Die Angeklagte erschien ebenso wenig zur Hauptverhandlung am 13. Juli 2020, wie der Verteidiger und die beiden gesetzlichen Vertreter der Angeklagten, worauf das Amtsgericht, das zu einem früheren Zeitpunkt in einem Vermerk ausdrücklich aktenkundig gemacht hatte, dass die Verhängung einer Jugendstrafe nicht in Betracht komme, einen Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO erließ. Hierbei nahm es einerseits – auf der Grundlage der Angaben der von der Polizei befragten „Mitbewohner“ – an, dass die Angeklagte noch immer in der E. Straße wohne. Andererseits sei eine Vorführung nicht erfolgversprechend, weil „nach Mitteilung des Verteidigers vom gestrigen Tage die Angeklagte sich im Ausland aufhalte“. Die Verhältnismäßigkeit des Sitzungshaftbefehls folge daraus, dass „zwei der vier Tatvorwürfe in eine offene Bewährungszeit fallen“.

Mit Beschluss vom 6. August 2020 verwarf das Landgericht Berlin die gegen den Haftbefehl erhobene Beschwerde der Angeklagten „aus den weiterhin zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung“, die die Kammer mit zum Teil anderen Worten noch wiederholte.

Hiergegen richtet sich die weitere Beschwerde des Verteidigers vom 3. September 2020, mit der er für die Angeklagte geltend macht, dass es mangels Wohnsitzes der Angeklagten in der E. Straße an einer ordnungsgemäßen Ladung gefehlt habe; überdies sei der Sitzungshaftbefehl unverhältnismäßig. Wegen der Einzelheiten der Begründung verweist der Senat auf die Beschwerdeschrift (Bl. 63 - 67 d. A.). Das Landgericht hat der weiteren Beschwerde ohne Begründung nicht abgeholfen.

Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin hat die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und des Haftbefehls beantragt.


II.

Die weitere Beschwerde der Angeklagten, die ungeachtet dessen, dass der Haft-
befehl nicht vollzogen wird, statthaft (vgl. nur Senat, Beschluss vom 19. Juli 2016 – 4 Ws 104/16 – [juris] mwN) und auch sonst zulässig erhoben ist, hat Erfolg.

1. Dabei kann die Frage, ob die Angeklagte unter der Anschrift E. Straße tatsächlich wohnhaft war und dort am 26. Mai 2020 ordnungsgemäß geladen werden konnte, offenbleiben. Ebenfalls dahinstehen kann, ob die strengen Anforderungen, die für den Erlass eines Sitzungshaftbefehls ohne vorherigen Versuch der Vorführung gelten (vgl. dazu Senat aaO) – und die durch die nicht ganz widerspruchsfreie Argumentation des Amtsgerichts und des angefochtenen Beschlusses schwerlich begründet werden konnten –, sowie die sonstigen Voraussetzungen der Verhältnismäßigkeit des Haftbefehlserlasses vorliegen.

2. Denn der Haftbefehl unterliegt, worauf die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend hingewiesen hat, schon aus einem anderen Grund der Aufhebung.

Ausweislich des Aktenvermerks über die Ausführung der richterlichen Ladungsverfügung zur Hauptverhandlung war der Ladung der Angeklagten, die nach Aktenlage jedenfalls der deutschen Schriftsprache nicht hinreichend mächtig ist und für die deshalb die Anklageschrift übersetzt werden musste, keine Übersetzung der nach § 216 Abs. 1 Satz 1 StPO vorgesehenen Warnung, dass im Falle des unentschuldigten Ausbleibens die Verhaftung oder Vorführung erfolgen werde, in eine ihr verständliche Sprache beigefügt. Eine solche Übersetzung ist wegen des mit einer Verhaftung oder einer Vorführung verbundenen erheblichen Eingriffs erforderlich (vgl. [zu § 329 Abs. 3 StPO] KG, Beschluss vom 17. Juli 2019 – 2 Ws 116/19 – [juris]). Die Beifügung einer solchen Übersetzung war vom Richter nicht verfügt und ist ausweislich des Vordrucks StP 22, der die hier nicht geschehene Kenntlichmachung der Beifügung einer Übersetzung ausdrücklich vorsieht, auch nicht erfolgt. Das Fehlen der erforderlichen Übersetzung macht zwar die Ladung nicht unwirksam, führt aber dazu, dass von den Zwangsmitteln des § 230 Abs. 2 StPO kein Gebrauch gemacht werden darf (vgl. OLG Bremen NStZ 2005, 527; OLG Dresden StV 2009, 348; OLG Saarbrücken NStZ-RR 2010, 49; KG aaO.; Gmel in KK-StPO 8. Aufl., § 216 Rn. 5, § 230 Rn. 10; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 63. Aufl., § 216 Rn. 4; § 184 GVG Rn. 3; Wickern in LR-StPO 26. Aufl., § 184 GVG Rn. 9; Becker in LR-StPO 27. Aufl., § 230 Rn. 15; s. auch [zu § 412 StPO] LG Heilbronn, Urteil vom 17. Juni 2010 – 5 Ns 44 Js 7003/09 – [juris = StV 2010, 406 Ls.]).

3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt die Landeskasse Berlin, weil kein anderer für sie haftet (vgl. BGHSt 14, 391; Meyer-Goßner/Schmitt aaO, § 464 Rn. 2, § 473 Rn. 2); die Entscheidung über die notwendigen Auslagen der Angeklagten, die hier zu treffen war (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt aaO, § 464 Rn. 11a mwN), beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO (vgl. Hilger in LR-StPO 26. Aufl., § 473 Rn. 14).


Einsender: VorsRiKG Dr. R. Fischer, Berlin

Anmerkung:


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