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Entscheidungen

Corona

Unterbrechung Hauptverhandlung, Strafverfahren, Coronakrise

Gericht / Entscheidungsdatum: VerfGH Sachsen, Beschl. v. 20.03.2020 - Vf. 39-IV-20 (e.A.)

Leitsatz: Jedenfalls dann, wenn die Durchführung eines Strafverfahrens im Raum steht, das keine Haftsache und auch nicht aus anderen Gründen unaufschiebbar ist, dürfen Angeklagte und Verteidiger und auch die weiteren notwendig anwesenden Personen ungeachtet etwa möglicher und gebotener Infektionsschutzmaßnahmen und sonstiger Sicherheitsvorkehrungen den mit einer voraussichtlich ganztägigen, jedenfalls aber mehrstündigen Verhandlung bei gleichzeitiger und teilweise wechselnder Anwesenheit zahlreicher Beteiligter einhergehenden Gefahren für die Gesundheit zur Durchsetzung des Interesses der Allgemeinheit an der Strafverfolgung nicht ausgesetzt werden (Stichwort: Coronakrise).


Vf. 39-IV-20 (e.A.)

DER VERFASSUNGSGERICHTSHOF DES FREISTAATES SACHSEN IM NAMEN DES VOLKES

Beschluss

In dem Verfahren
über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
1) des Herrn L.,
2) des Rechtsanwalts R.,
3) des Rechtsanwalts H.,

Verfahrensbevollmächtigter: Rechtsanwalt R.,

hat der Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen durch die Präsidentin des Verfassungsgerichtshofes pp., die Richterin pp. und den Richter pp. am 20. März 2020

1. Die 15. Große Strafkammer des Landgerichts Dresden wird angewiesen, in einem Zeitraum von einem Monat ab Erlass dieses Beschlusses die Hauptverhandlung in dem Strafverfahren 15 KLs 373 Js 147/18 mit der Maßgabe durchzuführen, dass die Dauer der Hauptverhandlungstermine und deren Teilnehmerzahl im Hinblick auf die zum jeweiligen Termin vorliegende Gefährdungslage durch das neuartige Coronavirus (SARS-CoV-2) so weit begrenzt und durch organisatorische Maßnahmen sichergestellt wird, dass eine Ansteckungsgefahr mit dem Coronavirus weitgehend ausgeschlossen ist.

2. Diesen Anforderungen entspricht der anberaumte Hauptverhandlungstermin am 23. März 2020 in der derzeit vorgesehenen Ausgestaltung nicht.

3. Der Freistaat Sachsen hat den Antragstellern die Hälfte ihrer notwendigen Aus-lagen zu erstatten.

4. Der Gegenstandswert wird auf 5.000 EUR festgesetzt.

Gründe:

I.

Mit dem am 17. März 2020 bei dem Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen eingegangenen und unter dem 18. und 19. März 2020 ergänzten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wenden sich die Antragsteller gegen den Beschluss des Landgerichts Dresden vom 16. März 2020 (15 KLs 373 Js 147/18) und beantragen, dem Vorsitzenden der 15. Straf-kammer des Landgerichts aufzugeben, die Hauptverhandlung in dem Strafverfahren 15 KLs 373 Js 147/18 innerhalb eines zu bestimmenden Zeitraumes mit der Maßgabe zu unterbrechen, dass nur noch zur Fristwahrung (§ 229 Abs. 1 StPO) zwingend notwendige Hauptverhandlungstermine stattfinden dürfen, wobei diese Termine als sog. „Schiebetermine“ ohne Vernehmung von Zeugen durchzuführen sind, hilfsweise dem Vorsitzenden aufzugeben, über den Unterbrechungsantrag vom 16. März 2020 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Verfassungsgerichtshofes neu zu entscheiden.

Hintergrund des Antrages auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist ein Strafverfahren wegen des Vorwurfs des Landfriedensbruchs und der gefährlichen Körperverletzung vor dem Landgericht Dresden, in dem der Antragsteller zu 1) einer der beiden Angeklagten, die Antragsteller zu 2) und 3) die beiden Pflichtverteidiger des Antragstellers zu 1) sind. Es handelt sich um ein Umfangsverfahren mit – neben den beiden Angeklagten – insgesamt vier Pflicht-verteidigern, mehreren Nebenklägern, vier Nebenklagevertretern, einem dauerhaft anwesenden Sachverständigen sowie diversen Dolmetschern. Der gegen den Antragsteller zu 1) ursprünglich erlassene Haftbefehl wurde mittlerweile aufgehoben, der Mitangeklagte befindet sich derzeit in anderer Sache in Untersuchungshaft. Insgesamt wurde bereits an mehr als zehn Tagen verhandelt.

Während des Hauptverhandlungstermins am 16. März 2020 beantragte der Antragsteller zu 2) die Aussetzung, hilfsweise Unterbrechung der Hauptverhandlung, weil die Durchführung einer Hauptverhandlung mit einer Vielzahl an Verfahrensbeteiligten, welche aus ganz Deutschland anreisen, angesichts der aktuellen Gefährdungslage durch das neuartige Coronavirus (SARS-CoV-2) unzumutbar sei. Der Antragsteller zu 3) trat diesem Antrag bei.

Mit Beschluss vom 16. März 2020 lehnte die Strafkammer die Anträge ab. Die Abwägung der derzeitigen generalpräventiven Maßnahmen zur Einschränkung von Sozialkontakten zur Verlangsamung der Ausbreitung des Coronavirus mit den Erfordernissen der Hauptverhandlung führe dazu, dass letztere überwögen. Zwar habe die Bundesregierung die Grenzen zu mehreren europäischen Nachbarländern geschlossen. Auch bestünden Handlungsempfehlungen zur Minimierung von Sozialkontakten. Eine generelle Reduzierung sämtlicher Sozialkontakte sei aber nicht angeordnet. Im Einzelfall sei die Notwendigkeit einer Versammlung mit dem generellen Ziel der Reduktion der Virusausbreitung abzuwägen. Dabei sei insbesondere zu berücksichtigen, dass Veranstaltungen im staatlichen Kernbereich, dem sogenannten „systemkritischen Bereich“, weiterhin durchführbar sein müssten. Hierzu sei die Durchführung landgerichtlicher Umfangsverfahren zu rechnen. Da die dargestellten Maßnahmen gegenwärtig nicht zur Vermeidung einer konkreten, sondern lediglich einer abstrakten Gefahr der Ansteckung dienten, und konkrete Anhaltspunkte für die Gefährdung von Verfahrensbeteiligten betreffend der Ansteckung mit dem Coronavirus nicht erkennbar seien, habe das vorliegende Verfahren Vorrang. Mangels einer konkreten Gefährdungssituation sei eine Aussetzung oder Unterbrechung auch nicht deshalb veranlasst, weil die räumlichen Gegebenheiten des Sitzungssaals einen Mindestabstand von 1,50 Meter zwischen den Verfahrensbeteiligten nicht gewährleisteten. Den Verteidigern und den Angeklagten, denen zwei Bankreihen zur Verfügung stünden, sei es jederzeit möglich, diesen Abstand dadurch herzustellen, dass sie sich auf diese Bankreihen verteilten. Den Nebenklägervertretern sei es möglich, mit gehörigem Abstand im Zuschauerraum Platz zu nehmen. Der Vorsitzende habe insoweit die Sitzordnung im Sitzungssaal aufgehoben.

Der nächste Hauptverhandlungstermin ist für den 23. März 2020 anberaumt, wobei die Vernehmung von insgesamt acht Zeugen geplant ist. Weitere Hauptverhandlungstermine sind für den 27. März, 15., 23. und 29. April, 6., 11. und 15. Mai 2020 anberaumt.
Die Antragsteller tragen vor, in der Nichtgewährung einstweiligen Rechtsschutzes läge ein schwerer Nachteil für das gemeine Wohl, weil eine Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet wäre. Sie rügen eine Verletzung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 16 Abs. 1 Satz 1 SächsVerf und der Menschenwürde gemäß Art. 14 Abs. 1 SächsVerf. Das Landgericht habe die Schutzpflichtdimension des Art. 16 Abs. 1 Satz 1 SächsVerf ver-kannt. Sowohl von Wissenschaftlern und Medizinern als auch von führenden Vertretern des Staates sei ein eindringlicher Appell an die Bevölkerung gerichtet worden, jedwede Sozial-kontakte so weit wie möglich zu minimieren. Die Verhängung allgemeiner Ausgangssperren sei nur noch eine Frage der Zeit. Angesichts der sich täglich verschärfenden und völlig unberechenbaren Sachlage sei die Behauptung, die Durchführung der Hauptverhandlung mit rund 20 Personen, die aus dem gesamten Bundesgebiet anreisten, stelle keine konkrete Gefahr für deren Gesundheit dar, objektiv willkürlich. Ein stark erhöhtes Infektionsrisiko ergebe sich zum einen daraus, dass der Kanzleisitz des Antragstellers zu 2) in Saarbrücken unmittelbar an ein vom Robert-Koch-Institut als Hochrisikogebiet eingestuftes Gebiet angrenze, zum anderen aus der Unterbringung des Mitangeklagten in einer Justizvollzugsanstalt. Eine konkrete Gefahr im epidemiologischen Sinne liege entgegen der Ansicht des Landgerichts nicht erst dann vor, wenn ein Verfahrensbeteiligter Krankheitssymptome zeige, sondern bereits dann, wenn angesichts der epidemiologischen Gesamtsituation, welche von Seiten des Robert-Koch-Instituts mittlerweile mit der Gefahrenstufe „hoch“ bewertet werde, und unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalles ein besonders hohes Risiko einer Ansteckung bestehe. Die in die Abwägung einzustellenden Belange seien falsch gewichtet worden. Bereits im Ansatz falsch sei die Meinung, die Hauptverhandlung gehöre zum „systemkritischen Bereich“ der staatlichen Infrastruktur. Die Durchführung eines normalen Strafverfahrens, das keine Haftsache mehr darstelle, sei nicht in diesem Maße „kriegswichtig“, dass sie die damit einhergehende erhebliche Gefahr für die körperliche Unversehrtheit der Verfahrensbeteiligten rechtfertigen könnte. Eine Aufarbeitung der angeklagten Taten könne – auch wegen der fortgeschrittenen Zeitschiene des Verfahrens – auch später noch erfolgen. Da die Strafkammer mit zahlreichen Haftsachen befasst sei, bestehe ein besonderes öffentliches Interesse daran, dass die ihr angehörenden Richter ihre Gesundheit so weit wie möglich schonten. Kontraproduktiv sei es daher, sich in einem nicht prioritären Verfahren ohne Not einer drastisch erhöhten Infektionsgefahr auszusetzen. Die Aufhebung der Sitzordnung trage der Gefährdungslage nicht ausreichend Rechnung. Bei einer zwischen sechs und acht Stunden andauernden Hauptverhandlung in einem schlecht belüfteten Raum könne die Herstellung körperlichen Abstands keinen adäquaten Schutz vor einer Ansteckung bieten. Desinfektionsmittel werde nicht in ausreichendem Maße vorgehalten. Indem die Strafkammer das Verfahren weiterbetreibe, obwohl faktisch ein Ausnahmezustand herrsche, und auf die Belange der Verfahrensbeteiligten keinerlei Rücksicht nehme, reduziere sie diese – insbesondere die zum Erscheinen verpflichteten Antragsteller – zu reinen Objekten staatlichen Handelns.

Das Staatsministerium der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung hat Gelegenheit gehabt, zum Verfahren Stellung zu nehmen.

Das Landgericht Dresden hat auf Nachfrage des Verfassungsgerichtshofes mitgeteilt, dass die Verhandlung in einem Saal mit etwa 150 Quadratmetern Grundfläche stattfinden werde, der über eine funktionstüchtige Klimaanlage verfüge. Die vorhandenen 41 Stühle im Zuschauerraum dürften nach sitzungspolizeilicher Anordnung, die am 18. März 2020 um „Besondere Anordnungen zum Zwecke der Minimierung der Ansteckungsgefahr mit dem Corona-Virus“ ergänzt worden sei, nur so besetzt werden, dass zwischen zwei Zuschauern jeweils ein Sitzplatz unbesetzt bleibe. Aufgrund der baulichen Gegebenheiten sei es möglich, zwischen den einzelnen Verfahrensbeteiligten einen Abstand von mindestens zwei Metern einzuhalten. So könnten sich die Angeklagten und ihre jeweils zwei Verteidiger auf die vorhandenen zwei Sitzreihen von jeweils zwischen 7 und 8 Metern Länge verteilen; ein entsprechender Abstand zu den für den Mitangeklagten zuständigen Wachtmeistern, den Mitgliedern der Kammer, dem Urkundsbeamten sowie zum Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft, dem Sachverständigen und zu den Nebenklagevertretern sei möglich. Um einen ausreichenden Abstand zwischen den Zeugen und den übrigen Verfahrensbeteiligten zu gewährleisten, sei der Zeugen-stand an das Ende der den Angeklagten gegenüberliegenden Sitzreihe verlegt worden. Die Nebenklagevertreter könnten an Tischen in ausreichendem Abstand zum Zuschauerraum und zu den Antragstellern Platz nehmen. Bei den Einlasskontrollen sei darauf zu achten, dass ein Abstand von zwei Metern zwischen zwei wartenden Personen eingehalten werde. Alle eintretenden Personen seien zu befragen, ob sie an akuten Atemwegsbeschwerden oder unspezifischen Allgemeinsymptomen litten, in den letzten 14 Tagen wissentlich Kontakt mit einer Person mit positiven Nachweis des Coronavirus gehabt oder sich in einem vom Robert-Koch-Institut festgelegten Risikogebiet aufgehalten hätten. Bejahendenfalls entscheide der Vorsitzende, ob der Einlass zu verweigern sei. In den Sitzungspausen hätten sich die im Saal anwesenden Personen an ihren Plätzen aufzuhalten oder den Saal zu verlassen.

II.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, über den nach § 15 SächsVerfGHG entschieden werden kann (vgl. SächsVerfGH, Beschluss vom 25. Juli 2018 – Vf. 74-IV-18 [e.A.]; Beschlüsse vom 9. August 2018 – Vf. 82-IV-18 [e.A.] und Vf. 83-IV-18 [e.A.]), ist zulässig und nach Maßgabe des Tenors begründet.

1. Der Antrag ist zulässig. Der Zulässigkeit steht insbesondere nicht entgegen, dass ein Hauptsacheverfahren noch nicht anhängig ist (vgl. SächsVerfGH, Beschluss vom 5. März 2020 – Vf. 29-IV-20 [e.A.]; Beschluss vom 3. Mai 2019 – Vf. 30-II-19; BVerfG, Beschluss vom 7. August 2009 – 1 BvQ 35/09 – juris Rn. 13).

2.Der Antrag hat in der Sache im tenorierten Umfang Erfolg.

a) Nach § 10 Abs. 1 SächsVerfGHG i.V.m. § 32 Abs. 1 BVerfGG kann der Verfassungs-gerichtshof einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen haben die Gründe, die der Antragsteller für die Verfassungs-widrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes anführt, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, das Begehren in der Hauptsache erwiese sich als von vornherein unzulässig oder als offensichtlich unbegründet (SächsVerfGH, Beschluss vom 5. März 2020 – Vf. 29-IV-20 [e.A.]; Beschluss vom 19. Dezember 2019 – Vf. 131-IV-19 [e.A.]; Beschluss vom 30. August 2018 – Vf. 66-IV-18 [e.A.]; Beschluss vom 25. Juli 2018 – Vf. 74-IV-18 [e.A.]; Beschluss vom 29. Oktober 2015 – Vf. 136-IV-15 [e.A.]; st. Rspr.). Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens sind im Rahmen einer Folgenabwägung die Folgen, die eintreten würden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber später Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung er-lassen würde, der Verfassungsbeschwerde später aber der Erfolg zu versagen wäre (SächsVerfGH, Beschluss vom 3. Mai 2019 – Vf. 30-II-19; Beschluss vom 25. Juli 2018 – Vf. 74-IV-18 [e.A.]; st. Rspr.).

b) Eine – noch nicht eingelegte – Verfassungsbeschwerde hinsichtlich des Beschlusses des Landgerichts Dresden vom 16. März 2020 wäre – in Bezug auf die Rüge der Ver-letzung der körperlichen Unversehrtheit – zulässig und nicht offensichtlich unbegründet. Der angegriffene Beschluss der Strafkammer ist nach § 305 Satz 1 StPO nicht mit der Beschwerde anfechtbar (vgl. Gmel in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 8. Aufl., § 228 Rn. 14; Arnoldi in: Münchener Kommentar zur StPO, 2016, § 228 Rn. 19; Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, 62. Aufl., § 228 Rn. 16). Der Zulässigkeit steht weiter nicht entgegen, dass der Antragsteller zu 1) innerhalb einer Revision auch den angegriffenen Beschluss rügen könnte. Die Antragsteller haben unter Berufung auf die aktuelle Gefährdung durch das Coronavirus dargetan, dass ihnen bei Durchführung der Hauptverhandlung eine anders nicht mehr zu behebende Grundrechtsbeeinträchtigung drohte. Unter diesen Umständen kann dem Antragsteller zu 1) nicht zugemutet werden, vor Einlegung einer Verfassungsbeschwerde zunächst den Ausgang des Strafverfahrens abzuwarten und ggf. im Revisionsrechtszug zu rügen, dass sein Aussetzungsantrag abgelehnt wurde und deshalb seine Verteidigung unzulässig beschränkt wurde (§ 27 Abs. 2 Satz 2 SächsVerfGHG).

c) Aufgrund des offenen Ausgangs eines noch nicht anhängigen Hauptsacheverfahrens ist eine Folgenabwägung vorzunehmen. Diese führt – bei einer Gesamtbetrachtung der bis zum heutigen Tag vorliegenden Erkenntnisse – zum Erlass einer einstweiligen Anordnung.

aa) Erginge die beantragte einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich indes eine noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde später als begründet, würde die Hauptverhandlung zunächst wie geplant fortgeführt werden können; insbesondere würde der anstehende Termin am 23. März 2020 mit Beweisaufnahme durch Vernehmung von bis zu acht Zeugen, die im Zeitraum von 8:00 Uhr bis 15:00 Uhr geladen sind, durchgeführt werden können. Hierdurch wären die Antragsteller und auch die weiteren anwesenden Personen nach derzeitiger Erkenntnislage – trotz der baulichen und organisatorischen Gegebenheiten im Verhandlungssaal und der zur Minimierung einer Ansteckungsgefahr eingeleiteten sitzungspolizeilichen Maßnahmen – nicht ganz fernliegenden Gefahren einer körperlichen Beeinträchtigung durch das neuartige Coronavirus ausgesetzt, die ggf. irreparabel sein könnten, und damit in ihren Grundrechten auf körperliche Unversehrtheit berührt.

Nach der – auch von den Antragstellern im Hinblick auf die epidemiologische Gesamtsituation als maßgeblich erachteten – Bewertung des Robert-Koch-Instituts wird die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland derzeit insgesamt als hoch eingeschätzt. Speziell bei Veranstaltungen hängt nach der Expertise des Instituts das Risiko von großen und/oder schwer verlaufenden COVID-19 Ausbrüchen nach einer Übertragung des Coronavirus mit der Zusammensetzung der Teilnehmer, Art und Typ der Veranstaltung sowie Möglichkeiten der Kontrolle im Falle eines Ausbruches zusammen. Ein höheres Risiko für Übertragungen kann demnach etwa bei folgenden Kriterien angenommen werden: Teilnahme einer größeren Anzahl von Menschen in hoher Dichte bzw. von Menschen aus Regionen mit gehäuftem Auftreten von COVID-19-Fällen oder anderen bekannten besonders betroffenen Gebieten; Anzahl und Intensität der Kontaktmöglichkeiten; lange Dauer der Veranstaltungen; In-door-Veranstaltungen, begrenzte Räumlichkeiten, schlechte Belüftung der Räume; begrenzte Möglichkeiten und Angebote zur ausreichenden Händehygiene (vgl. https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risiko_Grossverans taltungen.pdf?__blob=publicationFile, abgerufen am 20. März 2020).
Vor diesem Hintergrund können die vom Landgericht getroffenen bzw. in Aussicht gestellten Maßnahmen eine Ansteckungsgefahr für die Antragsteller nicht in dem nach jetzigem Erkenntnisstand möglichen und nötigen Umfang begrenzen. Die angeordnete Aufhebung der gewöhnlichen Sitzordnung und der damit einhergehende Versuch der Herstellung eines ausreichenden körperlichen Abstands der Antragsteller zu den übrigen anwesenden Personen von mindestens zwei Metern ist nach derzeitigem Erkenntnisstand geeignet, die Übertragungswege für das Coronavirus (hauptsächlich Tröpfcheninfektion) im Allgemeinen maßgeblich zu reduzieren, wenn auch nicht vollständig zu blockieren. Jedoch nimmt die Wirksamkeit dieser Maßnahmen mit steigender Anzahl der anwesenden Personen und zunehmender Dauer der Verhandlung ab und es steigt umgekehrt das Risiko einer möglichen Übertragung trotz der Abstandsregeln an. Dies gilt umso mehr, wenn im Verlauf der Verhandlung die Zusammensetzung der Teilnehmer (Zuschauer, Zeugen etc.) wechseln und in Sitzungspausen die Anzahl und Intensität der Kontaktmöglichkeiten nicht wirksam kontrolliert werden kann. Dem kann auch die Durchführung der in Aussicht genommenen Einlasskontrollen nicht hinreichend begegnen.

Nicht unberücksichtigt bleiben kann hierbei, dass neben konkreten Gefahren für die körperliche Unversehrtheit der hiesigen Antragsteller auch das allgemeine Risiko einer weiteren Verbreitung des Coronavirus besteht, dem die aktuellen Handlungsempfehlungen der Bundes- und Landesregierungen gerade begegnen wollen. Auch dieses kann vom Verfassungsgerichtshof in die Abwägung einbezogen werden.

bb) Erginge demgegenüber die beantragte einstweilige Anordnung, erwiese sich eine noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde später aber als unbegründet, käme es zu einer – vorübergehenden – Beeinträchtigung des unabweisbaren Bedürfnisses einer wirksamen Strafverfolgung und des allgemeinen Beschleunigungsgrundsatzes in Strafsachen sowie ggf. des Gebots der Prozesswirtschaftlichkeit.

Die Sicherung des Rechtsfriedens durch Strafrecht ist seit jeher eine wichtige Aufgabe staatlicher Gewalt. Die Aufklärung von Straftaten, die Ermittlung des Täters, die Feststellung seiner Schuld und seine Bestrafung wie auch der Freispruch des Unschuldigen sind die wesentlichen Aufgaben der Strafrechtspflege, die zum Schutz der Bürger den staatlichen Strafanspruch in einem justizförmigen und auf die Ermittlung der Wahrheit ausgerichteten Verfahren in gleichförmiger Weise durchsetzen soll (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. April 2005; BVerfGE 113, 29 [54]; Beschluss vom 27. Juni 2018 – 2 BvR 1405/17 – juris Rn. 68; st. Rspr.). Dieses – auch in der derzeitigen Ausnahmesituation bestehende – Interesse der Allgemeinheit an der Durchführung des Strafverfahrens wäre vor allem dann in besonderer Weise betroffen, wenn aufgrund einer einstweiligen Anordnung die Strafkammer Hauptverhandlungstermine absetzte und hierdurch die Unterbrechungsfristen des § 229 StPO überschritten wür-den, so dass die seit geraumer Zeit mit erheblichem Aufwand durchgeführte Haupt-verhandlung nicht mehr fortgeführt werden könnte (vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. September 1993 – 2 BvR 1732/93 – juris Rn. 11).

Das Gebot der Beschleunigung erfordert, dass die Hauptverhandlung nach Möglichkeit in einem Zuge durchgeführt wird. Die Aussetzung muss die Ausnahme sein, notwendige Pausen sind nach Möglichkeit durch Unterbrechung der Verhandlung einzulegen. Das ist vor allem, aber nicht ausschließlich, in Haftsachen zu beachten (vgl. auch Gmel in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 8. Aufl., § 228 Rn. 3; Arnoldi in: Münchener Kommentar zur StPO, 2016, § 228 Rn. 12).

cc) Wägt man die Folgen gegeneinander ab, so wiegen – im hier allein zu entscheidenden Einzelfall – die mit einer zeitlichen „Streckung“ der Hauptverhandlung verbundenen Nachteile prozessökonomischer Verfahrenserledigung im Ergebnis weniger schwer als die Nachteile, die den Antragstellern bei ungehinderter Fortführung der Hauptverhandlung entstehen könnten.

Jedenfalls dann, wenn – wie im vorliegenden Fall – die Durchführung eines Strafverfahrens im Raum steht, das keine Haftsache und auch nicht aus anderen Gründen unaufschiebbar ist, dürfen die Antragsteller und auch die weiteren notwendig anwesenden Personen ungeachtet etwa möglicher und gebotener Infektionsschutzmaßnahmen und sonstiger Sicherheitsvorkehrungen den mit einer voraussichtlich ganztägigen, jedenfalls aber mehrstündigen Verhandlung bei gleichzeitiger und teilweise wechselnder Anwesenheit zahlreicher Beteiligter einhergehenden Gefahren für die Gesundheit zur Durchsetzung des Interesses der Allgemeinheit an der Strafverfolgung nicht ausgesetzt werden. Demgegenüber können die verbleibenden Risiken für die Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit hingenommen werden, wenn die Dauer der einzelnen Verhandlungstermine und deren Teilnehmerzahl so weit begrenzt und durch organisatorische Maßnahmen sichergestellt wird, dass eine Ansteckungsgefahr weitgehend ausgeschlossen ist. Das heißt speziell, dass eine Verhandlung zur Sache auch durch Beweisaufnahme weiterhin stattfinden kann, sofern die einzelnen Verhandlungstage zeitlich und personell weitestgehend beschränkt werden.

III.

Dem Antrag war in dem tenorierten Umfang stattzugeben. Um eine mögliche Überschreitung der Unterbrechungsfristen des § 229 StPO zu vermeiden, war die weitere Durchführung der Hauptverhandlung weder gänzlich zu untersagen noch auf das von den Antragstellern erstrebte Maß zu begrenzen. Es waren lediglich Maßstäbe für den äußeren Rahmen der einzelnen Verhandlungstage vorzugeben, wobei die jeweilige inhaltliche Ausgestaltung der Termine vom gesetzlich Zulässigen bestimmt wird (vgl. hierzu etwa BGH, Urteil vom 11. Juli 2008 – 5 StR 74/08 – juris Rn. 11; Beschluss vom 22. Juni 2011 – 5 StR 190/11 – juris) und dabei mögliche und gebotene Infektionsschutzmaßnahmen einzuhalten sind. Auch wird bei der Entscheidung über weitere Unterbrechungen zu berücksichtigen sein, inwiefern angesichts der jeweils vorliegenden Gefährdungslage die Unterbrechungsfristen des § 229 StPO einschließ-ich der gesetzlichen Hemmungstatbestände (§ 229 Abs. 3 StPO, ggf. auch in der derzeit diskutierten Neufassung des § 10 EGStPO, vgl. https://www.bmjv.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2020/031720_Strafprozesse.html, abgerufen am 20. März 2020) ausgeschöpft werden müssen.
Die Anordnung war zunächst auf die Zeit von einem Monat ab Erlass der Entscheidung zu beschränken (§ 15 Satz 2 SächsVerfGHG).

IV.

Die Entscheidung ist kostenfrei (§ 16 Abs. 1 Satz 1 SächsVerfGHG). Der Freistaat Sachsen hat den Antragstellern die Hälfte ihrer notwendigen Auslagen zu erstatten (§ 16 Abs. 3 SächsVerfGHG).

V. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG.


Einsender: RA W. Siebers, Braunschweig

Anmerkung:


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