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Entscheidungen

StPO

Verlesung richterliche Vernehmung, Ersetzung Vernehmung, Abwägung

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Hamm, Beschl. v. 19.02.2019 - III 3 RVs 6-7/19

Leitsatz: Bei Prüfung der Fragen, ob nach § 251 Abs. 2 Nr. 2 StPO die Vernehmung eines Zeugen durch die Verlesung der Niederschrift über seine frühere richterliche Vernehmung ersetzt werden kann, hat das Tatgericht eine Abwägung vorzunehmen, wobei einerseits die Verkehrsverhältnisse und die persönlichen Verhältnisse der Auskunftsperson (etwa Alter, Gesundheitszustand, familiäre und berufliche Unabkömmlichkeit) und andererseits die Bedeutung der Sache, die Wichtigkeit der Aussage und des persönlichen Eindrucks von dem Zeugen, die gerichtliche Aufklärungspflicht sowie das Beschleunigungsgebot zu berücksichtigen sind.


Oberlandesgericht Hamm

Beschluss

III-3 RVs 6-7/19 OLG Hamm

Strafsache

gegen pp.

Verteidiger:

wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern.

Auf die Revision des Angeklagten vom 14. November 2018 gegen das Urteil der 3a. kleinen Jugendkammer als Jugendschutzkammer des Landgerichts Bielefeld vom 13. November 2018 und den Antrag des Verurteilten auf Entscheidung des Revisionsgerichts vom 14. Januar 2019 gegen den Beschluss der 3a. kleinen Jugendkammer als Jugendschutzkammer des Landgerichts Bielefeld vom 9. Januar 2019 hat der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 19. Februar 2019 durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht die Richterin am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht beschlossen:

1. Der Beschluss des Landgerichts Bielefeld vom 9. Januar 2019 wird aufgehoben.

2. Das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 13. November 2018 wird mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung — auch über die Kosten der Revision — an eine andere kleine Jugendkammer als Jugendschutzkammer des Landgerichts Bielefeld zurückverwiesen.

3. Die Beiordnung von Frau Rechtsanwältin pp. in Hüllhorst als Pflichtverteidigerin wird aufgehoben. An ihrer Stelle wird dem Angeklagten Rechtsanwalt pp. in Osnabrück als Pflichtverteidiger beigeordnet (Alleinentscheidung des Vorsitzenden).

Gründe:

Das Amtsgericht Lübbecke hat den Angeklagten mit Urteil vom 30. Mai 2017 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in vier Fällen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete Berufung hat das Landgericht Bielefeld durch Urteil vom 13. November 2018 verworfen. Das Urteil ist in Anwesenheit des Angeklagten und seiner Verteidiger verkündet und der bisherigen Pflichtverteidigerin am 7. Dezember, dem bisherigen Wahlverteidiger am 10. Dezember 2018 auf Anordnung des Vorsitzenden zugestellt worden. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit Schriftsatz seines bisherigen Wahlverteidigers vom 14. November 2018 mit der Revision, eingegangen am selben Tag beim Landgericht, begründet mit weiterem Schriftsatz seines bisherigen Wahlverteidigers vom 10. Januar 2019 mit der Verletzung formellen und materiellen Rechts, eingegangen am selben Tag beim Landgericht. Bereits mit Beschluss vom 9. Januar 2019 hatte das Landgericht die Revision als unzulässig verworfen, weil die Revision nicht rechtzeitig begründet worden sei. Gegen diesen Beschluss hat der Angeklagte mit Schriftsatz seines bisherigen Wahlverteidigers vom 14. Januar 2019, eingegangen am selben Tag beim Landgericht, Entscheidung des Revisionsgerichts beantragt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das Urteil vom 13. November 2018 und den Beschluss vom 9. Januar 2019 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

II.

1. Den Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts gegen den Beschluss vorn 9. Januar 2019 ist gem. § 346 Abs. 2 Satz 2 StPO zulässig und begründet.

Der Antrag ist statthaft, insbesondere ist er form- und fristgerecht gestellt worden. Der Antrag hat auch in der Sache Erfolg. Denn die Revision ist gemn. § 345 Abs. 2 StPO form- und gem. § 345 Abs. 1 Satz 2 StPO fristgerecht innerhalb eines Monats ab Zustellung des Urteils begründet worden. Die einmonatige Revisionsbegründungsfrist begann gem. § 345 Abs. 1 Satz 1 StPO mit der Zustellung des Urteils an den bisherigen Wahlverteidiger am 10. Dezember 2018. Denn das Urteil ist gem. § 345 Abs. 1 Satz 2 StPO nach Ablauf der Revisionseinlegungsfrist zugestellt worden. Gem. §§ 341 Abs. 1, 43 Abs. 1 StPO endete die einwöchige Frist zur Einlegung der Revision gegen das am 13. November 2018 in Anwesenheit des Angeklagten und seiner Verteidiger verkündete Urteil am 20. November 2018. Das Urteil wurde nach Ablauf dieser Frist zugestellt — jeweils gem. § 36 Abs. 1 Satz 1 StPO auf Anordnung des Vorsitzenden —, nämlich am 7. Dezember 2018 an die gem. § 145a Abs. 1 StPO empfangsbevollmächtigte, bereits mit Beschluss vorn 5. April 2016 beigeordnete bisherige Pflichtverteidigerin, und am 10. Dezember 2018 an den gem. § 145a Abs. 1 StPO ebenfalls empfangsbevollmächtigten bisherigen Wahlverteidiger, dessen schriftliche Vollmacht vorn 25. Mai 2018 sich seit dem 13. Juni 2018 bei den Akten befand. Maßgeblich für den Beginn der Revisionsbegründungsfrist ist gem. § 37 StPO die letzte dieser beiden Zustellungen, also die vom 10. Dezember 2018. Zu diesem Zeitpunkt war die durch die erste Zustellung eröffnete Frist noch nicht abgelaufen. Gem. § 43 Abs. 1 StPO endete die Monatsfrist am 10. Januar 2019. An diesem Tag ist die vorn Revisionsbegründungsschrift formgerecht, nämlich vorn bisherigen Wahlverteidiger unterzeichnet, mit dem Antrag, das Urteil mit seinen Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen, und mit Verfahrensrügen und der allgemeinen Sachrüge begründet, beim Landgericht eingegangen.

2. Die auch im Übrigen zulässige Revision hat in der Sache — jedenfalls vorläufigen Erfolg.

a)

Das Urteil ist bereits auf die Verfahrensrügen aufzuheben, mit denen der Angeklagte beanstandet, dass die Protokolle über die richterlichen Vernehmungen der Zeuginnen pp. und pp. in der Hauptverhandlung verlesen wurden, obwohl die Voraussetzungen des § 251 Abs. 2 Nr. 2 StPO nicht vorlagen.

aa) Die Rügen sind in zulässiger Weise erhoben. Der Angeklagte hat den Inhalt der verlesenen Protokolle, den Inhalt der Beschlüsse nach § 251 Abs. 4 StPO sowie im Einzelnen zu den der Verlesung entgegenstehenden Umständen bzw. der Möglichkeit der Vernehmung der Zeugen in der Hauptverhandlung und der Verwertung der Protokolle im Urteil vorgetragen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, 61. Auflage 2018, § 251, Rn. 46; MüKo-StPO/Kreicker, 1. Auflage 2016, § 251, Rn. 97).

bb)Die Rügen sind auch begründet, da das Landgericht von der Vorschrift des § 251 Abs. 2 Nr. 2 StPO in rechtsfehlerhafter Weise Gebrauch gemacht hat.

Nach dieser Regelung kann die Vernehmung eines Zeugen durch die Verlesung der Niederschrift über seine frühere richterliche Vernehmung ersetzt werden, wenn dem Zeugen das Erscheinen in der Hauptverhandlung wegen großer Entfernung nicht zugemutet werden kann. Insoweit hat das Tatgericht eine Abwägung vorzunehmen, wobei einerseits die Verkehrsverhältnisse und die persönlichen Verhältnisse der Auskunftsperson (etwa Alter, Gesundheitszustand, familiäre und berufliche Unabkömmlichkeit) und andererseits die Bedeutung der Sache, die Wichtigkeit der Aussage und des persönlichen Eindrucks von dem Zeugen, die gerichtliche Aufklärungspflicht sowie das Beschleunigungsgebot zu berücksichtigen sind (BGH, Urteil vom 10. März 1981 — 1 StR 808/80; Beschluss vom 16. März 1989 — 1 StR 18/89; jeweils zitiert nach juris; KK-StPO/Diemer, 7. Auflage 2013, § 251, Rn. 28). Je wichtiger der Aufklärungswert einer Aussage ist, desto weniger kommt es auf die Entfernung des Zeugen vom Gerichtssitz und die mit der Anreise für ihn verbundenen Belastungen an (Meyer-Goßner/Schmitt, a. a. O., § 251, Rn. 23 iVm § 223, Rn. 8; MüKo-StPO/Kreicker, § 251, Rn 76). Eine deutschlandweite Anreise ist im Regelfall zumutbar, sofern es nicht nur um einen ganz geringfügigen Tatvorwurf geht und die Bedeutung der Aussage nicht nur als voraussichtlich gering zu veranschlagen ist (MüKo-StPO/Kreicker, a.a.O.).

Daran gemessen durfte das Landgericht eine unmittelbare Vernehmung der Zeuginnen nicht durch eine Verlesung der Protokolle über ihre richterlichen Vernehmungen ersetzen. Zwar handelt es sich bei den Zeuginnen um zum Zeitpunkt der Berufungshauptverhandlung am 13. November 2018 jeweils vierzehnjährige Mädchen, deren Wohnsitze zwischen rund 300 bis 640 Kilometer vom Gerichtssitz entfernt lagen. Im Hinblick auf andere Reisen, die Jugendliche dieses Alters üblicherweise unternehmen — zum Beispiel im Rahmen von Urlaubs- oder Klassenfahrten — hätten Alter und Entfernung einer Anreise nach Bielefeld allerdings nicht entgegengestanden, jedenfalls nicht in Begleitung eines Elternteils oder einer anderen Bezugsperson. Zudem ist über individuelle Beeinträchtigungen oder Bedürfnisse der Zeuginnen, die für die mit der Anreise verbunden Belastungen von Belang sein könnten, nichts bekannt. Zugleich ist der Beweiswert ihrer Aussagen als besonders hoch zu bewerten, da es sich jeweils um das einzige unmittelbare Beweismittel handelte, mit welchem der — für die Frage der Strafbarkeit bedeutsame — Inhalt der fraglichen Telefongespräche festgestellt werden konnte. Auch standen ein erheblicher Tatvorwurf, eine erstinstanzlich verhängte Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten sowie der Widerruf einer zur Bewährung ausgesetzten Strafe im Raum. Anlass zu einer besonderen Verfahrensbeschleunigung bestand demgegenüber nicht.

Ob das Landgericht diese Gesichtspunkte überhaupt gesehen und abgewogen hat, ist nicht erkennbar. Denn die Beschlüsse, durch welche die Verlesung der Zeugenaussagen angeordnet worden sind, enthalten sich jeglicher Begründung. Auch deshalb ist die Revision begründet (BGH, Beschluss vom 7. Januar 1986 — 1 StR 571/85, juris; MüKo-StPO/Kreicker, a. a. 0., Rn. 92, m. w. N.). Denn das Ergebnis der Abwägung ist gem. § 251 Abs. 4 StPO in einem begründeten Beschluss niederzulegen und bekanntzugeben. Die Begründung darf sich hierbei nicht lediglich auf die Wiedergabe des Gesetzeswortlauts beschränken, sondern muss die Tatsachen, welche die Verlesung rechtfertigen, sowie die das Gericht leitenden Erwägungen beinhalten (KK-StPO/Diemer, a.a.O., Rn. 31, m. w. N.).

Ob ein weiterer Verfahrensverstoß auch darin liegt, dass — wie von dem Angeklagten vorgebracht - auf seine Widersprüche gegen die Verlesung der Urkunden möglicherweise schon - mangels Beratung - keine ordnungsgemäßen Kammerbeschlüsse im Sinne von § 251 Abs. 4 StPO ergangen sind, kann nach alledem dahinstehen.

b) Ebenfalls zu Recht erhoben sind die Verfahrensrügen, mit denen Angeklagte eine Verletzung des § 244 StPO beanstandet, weil das Landgericht die Vernehmung der Zeuginnen pp. und pp. zum Beweis der Tatsache, dass es nicht der Angeklagte war, der mit den Zeuginnen telefoniert hat, abgelehnt hat.

Die Verfahrensrügen sind ebenfalls zulässig. Der Angeklagte hat den Inhalt der Beweisanträge, der Ablehnungsbeschlüsse und die Tatsachen, aus denen sich die Fehlerhaftigkeit der Ablehnungsbeschlüsse ergibt, mitgeteilt.

Die Verfahrensrügen sind auch begründet. Soweit das Landgericht seinen ablehnenden Beschluss damit begründet hat, der Beweis sei durch die Verlesung der richterlichen Protokolle bereits erhoben, trifft dies nicht zu. Denn Beweisziel war ein Vergleich der Stimme des Angeklagten mit der Stimme der jeweiligen Anrufer. Dazu war die Verlesung der Protokolle - anders als eine unmittelbare Vernehmung der Zeuginnen in Gegenwart des Angeklagten - ersichtlich nicht geeignet. Ebenfalls fehlerhaft war auch die Ablehnung des Beweisantrags gem. § 323 Abs. 2 StPO. Denn diese Regelung macht im Berufungsverfahren die Vernehmung ausschließlich solcher Zeugen entbehrlich, die — anders als hier — bereits erstinstanzlich vernommen worden sind. Schließlich konnte das Landgericht die Ablehnung auch nicht auf Überflüssigkeit wegen Offenkundigkeit oder völlige Ungeeignetheit des Beweismittels gem. § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO. Es mag zwar zutreffen, dass die Telefonate durch Knistern und Rauschen beeinträchtigt waren und der Angeklagte bei einer „Hörprobe" in der Hauptverhandlung seine Stimme hätte verstellen können. Die unter Beweis gestellte Behauptung, der Angeklagte sei nicht der Täter; ist deshalb aber nicht offenkundig. Auch vermag der insofern - in der Sache vom Landgericht offenbar gemeinte - möglicherweise zweifelhafte Beweiswert keine völlige Ungeeignetheit des Beweismittels zu begründen. Es ist möglich, dass dieZeuginnen den Angeklagten nicht als Täter wiedererkennen. Die Würdigung einer entsprechenden Aussage darf jedoch nicht vorweggenommen werden und muss dem Urteil vorbehalten bleiben (Meyer-Goßner/Schmitt, a. a. O., § 244, Rn 58, m. w. N.).

c) Mit den weiteren Verfahrensrügen, mit denen der Angeklagte die Ablehnung weiterer Beweisanträge beanstandet, hat er keinen Erfolg. Die Rügen sind gem. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO unzulässig. Der Angeklagte hat insoweit keine Tatsachen vorgetragen, die die Fehlerhaftigkeit der jeweiligen Ablehnung enthalten.

3.Die Entscheidung des Vorsitzenden über die Auswechslung des Pflichtverteidigers beruht auf §§ 141 Abs. 4 Satz 1, 143 StPO. Ausweislich der Schriftsätze des bisherigen Wahlverteidigers vom 12. Februar 2019 und der bisherigen Pflichtverteidigerin vom 13. Februar 2019 sind der Angeklagte und beide Verteidiger mit dem Wechsel einverstanden. Der Staatskasse werden keine zusätzlichen Kosten entstehen. Der bisherige Wahlverteidiger hat Kostenneutralität zugesichert.


Einsender: RA T. Schäck, Osnabrück

Anmerkung:


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