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Entscheidungen

Haftfragen

Haftprüfung, Tatbegriff, Auslieferungsverfahren

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Nürnberg, Beschl. v. 12.06.2018 - 1 Ws 191/18 H

Leitsatz: 1. Der Tatbegriff des § 121 Abs. 1 StPO ist weiter zu fassen als die Tat im Sinne von § 264 StPO.
2. Um ein "Vorrätighalten“ von Tatvorwürfen zulasten des Beschuldigten zu verhindern, rechnen zum Tatbegriff des § 121 Abs. 1 StPO deshalb alle Taten, die zum Zeitpunkt des Erlasses des vollzogenen Haftbefehls bereits bekannt waren.
3. Werden neue Taten nachträglich bekannt, ist maßgeblicher Zeitpunkt für den Beginn der neuen Sechs-Monatsfrist nicht der Erlass eines neuen oder die Erweiterung des bestehenden Haftbefehls, sondern die Erlassreife, also der Zeitpunkt, in dem der einfache Tatverdacht sich zum dringenden verdichtet hat.
4. Ist der Beschuldigte wegen anderer Taten aus einem EU-Mitgliedstaat ausgeliefert worden, ohne auf die Einhaltung des Spezialitätsgrundsatzes verzichtet zu haben, beginnt die neue Sechs-Monatsfrist bezüglich der nachträglich bekannt gewordenen Taten erst ab dem Zeitpunkt, zu dem entweder der ausliefernde Staat nachträglich seine Zustimmung erteilt hat, den Beschuldigten hier auch wegen dieser Taten zu verfolgen, zu verurteilen oder einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme zu unterwerfen (§ 83h Abs. 1 Nr. 1 IRG), oder zu dem der Beschuldigte nachträglich auf die Einhaltung des Spezialitätsgrundsatzes verzichtet hat (§ 83h Abs. 2 Nr. 5, Abs. 3 IRG).
5. Bis zu diesem Zeitpunkt wäre nämlich zwar der Erlass eines Haftbefehls, nicht aber dessen Vollstreckung zulässig gewesen.


Oberlandesgericht Nürnberg
Beschluss vom 12.06.2018 1 Ws 191/18 H

In dem Strafverfahren
gegen pp.

Verteidiger:

wegen schweren Bandendiebstahls;

hier: erste Haftprüfung gemäß §§ 121 Abs. 1, 122 Abs. 1 StPO,

erlässt das Oberlandesgericht Nürnberg - 1. Strafsenat - durch die unterzeichnenden Richter am 12. Juni 2018 folgenden

Beschluss

Eine Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft ist nicht veranlasst.

Gründe:

I.

Der Angeschuldigte befand sich zunächst im Zeitraum vom 29.11.2017 bis zum 16.03.2018 in Untersuchungshaft aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts Nürnberg vom 29.09.2017; zur Vollstreckung dieses Haftbefehls war der Angeschuldigte von Rumänien in die Bundesrepublik Deutschland ausgeliefert worden, ohne auf die Einhaltung des Spezialitätsgrundsatzes verzichtet zu haben. Gegenstand des Haftbefehls vom 29.09.2017 waren Diebstahl in zwei Fällen und schwerer Bandendiebstahl mit Sachbeschädigung. Seit 16.03.2018 befindet sich der Angeschuldigte in dieser Sache aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts Nürnberg vom 16.03.2018 wegen schweren Bandendiebstahls in fünf Fällen, jeweils mit Sachbeschädigung, in Untersuchungshaft. Nachdem der Angeschuldigte bei seiner mündlichen Anhörung am 16.03.2018 auf die Einhaltung des Spezialitätsgrundsatzes verzichtet hatte, wurden die über den ursprünglichen Haftbefehl vom 29.09.2017 hinausgehenden weiteren zwei Taten in den neuen Haftbefehl vom 16.03.2018 aufgenommen (dort Ziffern 3 und 5), die auch für sich allein den Erlass eines eigenständigen Haftbefehls gerechtfertigt hätten.

Die Staatsanwaltschaft hat die Akten über die Generalsstaatsanwaltschaft dem Oberlandesgericht zur Entscheidung über die Haftfortdauer vorgelegt.

II.

Das Oberlandesgericht hat nicht nach §§ 121, 122 StPO über die Fortdauer der Untersuchungshaft zu entscheiden, da die Sechs-Monatsfrist des § 121 Abs. 1 StPO noch nicht abgelaufen ist.

Die Beachtung des im Auslieferungsrecht maßgeblichen Grundsatzes der Spezialität führt nämlich dazu, dass sich der Prüfungstermin für die oberlandesgerichtliche Haftprüfung vorliegend auf den 16.09.2018 verschiebt.
1. Der Vollzug der Untersuchungshaft wegen derselben Tat ist nach § 121 StPO grundsätzlich auf sechs Monate beschränkt und nach Ablauf dieser Frist aufzuheben, wenn das Oberlandesgericht nicht die Haftfortdauer anordnet. Um eine Reservehaltung von Haftgründen oder Haftbefehlen zum Unterlaufen der Frist auszuschließen, ist der Tatbegriff bei § 121 StPO weiter zu fassen als die Tat i. S. v. § 264 StPO. Der Normzweck der Begrenzung der Untersuchungshaft wird dadurch effektiv gewährleistet, dass zum Tatbegriff alle Taten rechnen, die zum Zeitpunkt des Erlasses des vollzogenen Haftbefehls bekannt waren. Dieser Konsequenz dürfen sich die Verfolgungsbehörden nicht dadurch entziehen, dass sie (zunächst) davon absehen, den Erlass eines „Überhaft-Haftbefehls“ herbeizuführen, und diesen erst bei Herannahen des Endes einer in anderer Sache verbüßten Haft beantragen (BVerfG, StV 2006, 251). Ein sogenanntes Aufsparen („Vorrätighalten“) von Tatvorwürfen (während anderweitig laufender Haft) für einen zusätzlichen Haftbefehl zulasten des Beschuldigten ist unzulässig.
Neue selbstständige prozessuale Taten, die nach Erlass des bestehenden und vollzogenen Haftbefehls bekannt werden und die der Beschuldigte vor Erlass des vollzogenen fristauslösenden Haftbefehls begangen haben soll, gehören aber nicht zu „derselben Tat“ und können daher grundsätzlich einen neuen Fristenlauf auslösen. Maßgeblicher Zeitpunkt für den Beginn der neuen Sechs-Monatsfrist ist dabei nicht der Erlass oder die Erweiterung des Haftbefehls, sondern die Erlassreife hinsichtlich der neuen haftrelevanten Tat(en), also der Zeitpunkt, in dem der einfache Tatverdacht sich zum dringenden verdichtet hat (KK-Schultheis, StPO, 7. Aufl. § 121 Rn. 10, 11 m. w. N.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl. § 121 Rn. 14). Die neuen Taten müssen zudem so erheblich sein, dass sie einen eigenständigen Haftbefehl begründen können (Haftrelevanz), und sie müssen auch tatsächlich zur Grundlage eines neuen und vollzogenen Haftbefehls oder zur Erweiterung des bestehenden vollzogenen Haftbefehls geworden sein.

2. Nach den vorgenannten Grundsätzen beginnt die Sechs-Monatsfrist des § 121 Abs. 1 StPO grundsätzlich bereits mit dem Bekanntwerden des dringenden Tatverdachts bezüglich der zwei über den ursprünglichen Haftbefehl hinausgehenden Taten neu zu laufen. Dem steht jedoch vorliegend entgegen, dass der Angeschuldigte wegen des Grundsatzes der Spezialität erst ab dem 16.03.2018 freiheitsbeschränkenden Maßnahmen unterworfen werden durfte.

Der das Auslieferungsrecht beherrschende Grundsatz der Spezialität ist für die Verfolgung der Personen, die von einem EU-Mitgliedstaat auf Grund eines Europäischen Haftbefehls ausgeliefert sind, konkretisiert durch Art. 27 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rats vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. EG Nr. L 190 vom 18. Juli 2002, S. 1 ff.) - RB-EUHb - und § 83h Abs. 1 Nr. 1 IRG. Diese Vorschriften verbieten es grundsätzlich, ohne Zustimmung der zuständigen Behörde des ersuchten EU-Mitgliedstaates eine übergebene Person wegen einer strafbaren Handlung, die der Übergabe nicht zugrunde liegt, zu verfolgen, zu verurteilen oder einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme zu unterwerfen, es sei denn, es liegt eine der in § 83h Abs. 2 IRG, Art. 27 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses genannten Ausnahmen vor. Eine solche Ausnahme ist vorliegend gegeben: Der Angeschuldigte hat am 16.03.2018 ausdrücklich auf die Einhaltung des Spezialitätsgrundsatzes verzichtet (§ 83h Abs. 2 Nr. 5, Abs. 3 IRG). Bis zu diesem Zeitpunkt wäre zwar der Erlass eines Haftbefehls, nicht aber dessen Vollstreckung zulässig gewesen (vgl. OLG Stuttgart, StV 2015, 361). Wenn aber bis zum 16.03.2018 die Vollstreckung eines erweiterten oder eigenständigen neuen Haftbefehls nicht hätte betrieben werden dürfen, dann darf bei der Fristberechnung nach § 121 Abs. 1 StPO als Fristbeginn auch erst auf diesen Zeitpunkt abgestellt werden (vgl. bereits Oberlandesgericht Nürnberg, Beschluss vom 14.11.2016, Az.: 1 Ws 477/16 H).

III.

Der Zeitpunkt für die erste Haftprüfung gemäß §§ 121 Abs. 1, 122 Abs. 1 StPO verschiebt sich damit auf den 16.09.2018.


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