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Entscheidungen

Zivilrecht

Sorgfaltsanforderungen, minderjähriger Mofafahrer

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Saarbrücken, Urt. v. 03.08.2017 - 4 U 156/16

Leitsatz: Zu den Sorgfaltsanforderungen bei einem 15-jährigen Mofafahrer


In pp.
1. Auf die Berufung der Beklagten und unter Zurückweisung der Anschlussberufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Saarbrücken vom 04.11.2016 (Aktenzeichen 6 O 181/15) teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst: Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits werden dem Kläger auferlegt.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe
I.
Am 22.07.2014 gegen 16.25 Uhr ereignete sich in der Straße ... pp. in Sp., einer Anliegerstraße ohne Mittellinie mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km/h, ein Verkehrsunfall, als der am … 1998 geborene Kläger mit seinem von ihm geführten Mofa Tomos A3 mit dem Versicherungskennzeichen ... aus der Zuwegung des Hauseingangs zum Anwesen Nr. ... fuhr und es zum Zusammenstoß mit dem von der am 30.12.1941 geborenen Beklagten zu 1 geführten und ihr gehörenden, bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Pkw ... ... mit dem amtlichen Kennzeichen ...-... kam. Die Kollision ereignete sich auf der aus Sicht des Klägers gegenüberliegenden bzw. aus Sicht der Beklagten zu 1 linken Straßenseite. Das Ermittlungsverfahren gegen die Beklagte zu 1 wurde durch Verfügung der Staatsanwaltschaft Saarbrücken vom 07.01.2015 (Aktenzeichen 65 Js 1898/14) gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Mit Anwaltsschreiben vom 28.07.2014 und vom 16.02.2015 forderte der Kläger die Beklagte zu 2 ohne Erfolg zur Anerkennung der Haftung auf.

Der Kläger hat behauptet, er habe zunächst am Fahrbahnrand angehalten, da ihm durch beiderseits der Zuwegung parkende Fahrzeuge die Sicht versperrt gewesen sei. Nachdem er sich nach rechts und links vergewissert gehabt habe, dass alles frei gewesen sei, sei er langsam nach links angefahren. Dabei habe er den von links kommenden Pkw der Beklagten zu 1 mit hoher Geschwindigkeit ankommen gesehen und deshalb sofort gebremst. Auch das Beklagten-Fahrzeug habe abgebremst, 2 m vor ihm aber wieder beschleunigt, weil die Beklagte zu 1 anscheinend das Gas mit der Bremse verwechselt habe, den Kläger auf dem Mofa an der linken Seite erfasst, aufgeladen und über circa 18 m auf der Motorhaube mitgenommen, bis er infolge einer Vollbremsung der Beklagten zu 1 auf den Boden gefallen sei. Durch das Unfallgeschehen habe der Kläger unter anderem eine dreigradige offene Tibiaschaftmehrfragmentfraktur am linken Bein mit Durchspießung und großflächigem subcutanem Decollement und eine Fibulafraktur erlitten.

Der Kläger hat beantragt,
1. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger den ihm anlässlich des Verkehrsunfallgeschehens vom 22.07.2014 in Sp. entstandenen und zukünftig entstehenden materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, soweit dieser nicht auf Sozialversicherungsträger übergegangen ist, und
2. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an den Kläger 887,03 € außergerichtliche Rechtsanwaltskosten nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit (18.06.2015) zu zahlen.

Die Beklagten haben beantragt,
die Klage abzuweisen.

Sie haben behauptet, der Kläger sei mit seinem Mofa aus der Hofeinfahrt geschossen, ohne auf den Verkehr zu achten, und er sei dann gegen das Beklagten-Fahrzeug gefahren. Die Beklagte zu 1 sei sehr langsam gefahren und habe die zulässige Geschwindigkeit von 30 km/h nicht annähernd erreicht. Ferner treffe den Kläger ein erhebliches Mitverschulden, weil er ohne Schutzkleidung gefahren sei.
Das Landgericht hat den Kläger (Bd. I Bl. 53, 54 unten d. A.) und die Beklagte zu 1 (Bd. I Bl. 54 d. A.) als Partei angehört und Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen H. K. (Bd. I Bl. 55 f. d. A.), C. M. (Bd. I Bl. 56 f. d. A.) und A.-K. M. (Bd. I Bl. 58 d. A.) sowie gemäß dem Beschluss vom 12.04.2016 (Bd. I Bl. 69 f. d. A.) und durch mündliche Erläuterung des verkehrstechnischen Gutachtens durch den Sachverständigen Dipl.-Phys. J. M. (Bd. I Bl. 191 d. A.). Mit dem am 04.11.2016 verkündeten Urteil (Bd. II Bl. 197 ff. d. A.) hat das Landgericht unter Klageabweisung im Übrigen festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger den ihm anlässlich des Verkehrsunfallgeschehens vom 22.07.2014 in Sp. entstandenen und zukünftig entstehenden materiellen und immateriellen Schaden zu 25 v. H. zu ersetzen, soweit dieser nicht auf Sozialversicherungsträger übergegangen ist, und die Beklagten als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 334,75 € außergerichtliche Rechtsanwaltsgebühren nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 19.06.2015 zu zahlen. Der Senat nimmt gemäß § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO auf die tatsächlichen Feststellungen in dem erstinstanzlichen Urteil Bezug.
Mit ihrer gegen dieses Urteil eingelegten Berufung machen die Beklagten geltend, auf Grund des gegen den Kläger sprechenden, nicht erschütterten Anscheinsbeweises sei für eine Mithaftung der Beklagten zu 1 (und damit auch der Beklagten zu 2) als der sich im fließenden Verkehr befindlichen Unfallgegnerin kein Raum. Die gesamten Ausführungen des Landgerichts zum vorkollisionären Verhalten der Beklagten zu 1 seien rein spekulativ. Der Sachverständige habe explizit dargestellt, dass eine genaue Rekonstruktion des vorkollisionären Verhaltens der Beklagten zu 1 nicht möglich sei. Damit könnten die Ausführungen, welche das Gericht hinsichtlich eines Idealfahrers gemacht habe, nicht verfangen. Es sei gerade nicht nachgewiesen, dass sich die Beklagte zu 1 nicht wie eine Idealfahrerin verhalten habe. Bei der Abwägung von Verursachungsbeiträgen dürften jedoch nur solche Tatsachen einfließen, die entweder unbestritten oder tatsächlich nachgewiesen seien.

Des Weiteren habe das Gericht erster Instanz sachfremde Erwägungen in die Ermittlung der Verursachungsbeiträge einfließen lassen. Der Umstand, dass der Kläger erhebliche Verletzungen durch den Unfall davongetragen haben solle, spreche nicht für eine Mithaftung der Beklagten. Die Betriebsgefahr des Beklagten-Fahrzeugs trete zurück, da der Anscheinsbeweis gegen den Kläger nicht habe erschüttert werden können.

Von Seiten der Beklagten sei bestritten worden, dass die vorgetragenen Verletzungen des Klägers kausal auf das Unfallgeschehen zurückzuführen seien. Insbesondere sei bestritten und gegenbeweislich unter Sachverständigenbeweis gestellt, dass durch ein eventuelles Fehlverhalten der Beklagten zu 1 nach der Kollision mit dem Kläger eine Verschlimmerung seiner Verletzungen eingetreten sein solle.

Die Beklagten beantragen (Bd. II Bl. 233 d. A.),
unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Saarbrücken vom 04.11.2016 (Aktenzeichen 6 O 181/15) die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Seiner Auffassung nach sei der Klage zumindest in Höhe einer Haftungsquote von 50 v. H. stattzugeben. Das Urteil des Landgerichts beruhe insoweit auf falscher Beweiswürdigung, als sich die Begründung ausschließlich auf das Ergebnis des Sachverständigengutachtens einschließlich der mündlichen Erläuterung und die Aussagen der Zeugen stütze, jedoch insbesondere die Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 08.03.2016 außer Betracht lasse. Insoweit wäre der im Zeitpunkt der Hauptverhandlung 17 Jahre alte Kläger als Minderjähriger nicht nur im Rahmen einer informatorischen Befragung gemäß § 141 ZPO anzuhören gewesen, sondern hätte als Zeuge vernommen werden müssen. Jedenfalls hätten die im Rahmen der Anhörung gemachten Angaben bei der Beweiswürdigung mitberücksichtigt werden müssen.

Der Sachvortrag der Beklagten, der Kläger sei mit seinem Mofa „auf die Straße geschossen“, und zwar in einem „völlig überhöhten Tempo“, sei nach den eindeutigen sachverständigen Feststellungen mit dem Schadensbild, dem Spurenbild und den Endlagen der Fahrzeuge und des Klägers nicht zu vereinbaren. Auch die Angaben der Zeugin A.-K. M. seien von dem Landgericht unzutreffend bzw. nicht ausreichend in ihrer Gesamtheit gewürdigt worden.

Im Wege der Anschlussberufung beantragt der Kläger (Bd. II Bl. 243 d. A.),
1. über das angefochtene Urteil hinausgehend festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger den ihm anlässlich des Verkehrsunfallgeschehens vom 22.07.2014 in Sp. entstandenen und zukünftig entstehenden materiellen und immateriellen Schaden zu 50 v. H. zu ersetzen, soweit dieser nicht auf Sozialversicherungsträger übergegangen ist, und
2. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an den Kläger 492,54 € außergerichtliche Rechtsanwaltskosten nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 19.06.2015 zu zahlen.

Die Beklagten beantragen,
die Anschlussberufung des Klägers zurückzuweisen.

Die Beklagten sind der Auffassung, der Klägervortrag und das darin enthaltene Beweisangebot, den Kläger als Zeuge zu hören, sei als verspätet zurückzuweisen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und die Sitzungsniederschriften des Landgerichts vom 08.03.2016 (Bd. I Bl. 50 ff. d. A.) und vom 11.10.2016 (Bd. I Bl. 189 ff. d. A.) und des Senats vom 20.07.2017 (Bd. II Bl. 262 ff. d. A.) und die beigezogenen Akten der Staatsanwaltschaft Saarbrücken (Aktenzeichen 65 Js 1898/14), welche Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.

B.
Die Berufung (I.) hat Erfolg, wohingegen die Anschlussberufung der Zurückweisung unterliegt (II.).

I.
Die Berufung der Beklagten ist nach den §§ 511, 513, 517, 519 und 520 ZPO statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und mithin zulässig. Das Rechtsmittel ist nach Maßgabe der §§ 513, 529, 546 ZPO auch begründet. Entgegen der Auffassung des Landgerichts haften die Beklagten nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht für die auf Grund des Verkehrsunfalls vom 22.07.2014 entstandenen materiellen und immateriellen Schäden des Klägers.

1. Allerdings ist das Landgericht richtig von der grundsätzlichen Haftung der Beklagten zu 1 als Fahrer und Halter eines unfallbeteiligten Kraftfahrzeugs gemäß §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 Satz 1, 11 StVG, 823 Abs. 1 BGB und der Beklagten zu 2 als Haftpflichtversicherer gemäß §§ 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG, 1 PflVG ausgegangen. Der für den Ausschluss der Ersatzpflicht der Beklagten zu 1 nach § 18 Abs. 1 Satz 2 StVG erforderliche Nachweis, dass der Schaden nicht durch ein Verschulden des Führers verursacht ist, wurde nicht geführt. Die gesetzliche Verschuldensvermutung nach § 18 Abs. 1 Satz 1 StVG kann insbesondere widerlegt sein, wenn der Unfall auf einem technischen Fehler (z. B. geplatzter Reifen, Versagen der Bremsen) beruht; es ist dann aber Sache des Fahrers, den Nachweis zu führen, dass er deshalb schuldlos die Kontrolle über das Kraftfahrzeug verloren hat (Heß in Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht 24. Aufl. § 18 StVG Rn. 8). Ein technischer Fehler kommt hier nicht in Betracht. Die Verschuldensvermutung ist ferner widerlegt, wenn der Fahrzeugführer nachweist, dass er sich verkehrsrichtig verhalten hat (OLG Hamm NZV 1998, 463). Auch das ist nicht der Fall. Entsprechendes gilt für die auf §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 Satz 1 StVG beruhende Haftung des Klägers, wie im Folgenden noch ausgeführt werden wird.

2. Da beide Parteien hier den Unabwendbarkeitsnachweis gemäß § 17 Abs. 3 StVG nicht führen können, hängt gemäß § 17 Abs. 1 StVG im Verhältnis der beteiligten Fahrzeughalter zueinander die Verpflichtung zum Ersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Nach anerkannten Rechtsgrundsätzen sind bei der Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge nur solche Umstände einzubeziehen, die erwiesenermaßen ursächlich für den Schaden geworden sind, d. h. sich auf den Unfall ausgewirkt haben (BGH NJW 2012, 1953, 1954 Rn. 5). Die für die Abwägung maßgebenden Umstände müssen nach Grund und Gewicht feststehen, d. h. unstreitig, zugestanden oder nach § 286 ZPO bewiesen sein. In erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben, das beiderseitige Verschulden ist nur ein Faktor der Abwägung (BGH NJW 2012, 1953, 1954 Rn. 5). Nur vermutete Tatbeiträge oder die bloße Möglichkeit einer Schadensverursachung auf Grund geschaffener Gefährdungslage haben deswegen außer Betracht zu bleiben (Senat OLGR 2009, 394, 396; NJW-RR 2015, 223, 224 Rn. 27).

3. Im Ergebnis zu Recht hat das Landgericht festgestellt, dass dem Kläger ein schuldhafter, unfallursächlicher Verstoß gegen seine Pflichten aus § 10 Satz 1 StVO zur Last fällt.
a) Wer aus einem Grundstück auf die Straße einfahren will, hat sich gemäß § 10 Satz 1 StVO dabei so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist; erforderlichenfalls muss man sich einweisen lassen. Die Vorschrift legt dem aus einem Grundstück auf die Straße einfahrenden Fahrzeugführer gesteigerte Pflichten auf. Die Pflichten werden nicht dadurch gemindert, dass der Vorfahrtsberechtigte unter Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot die linke Straßenseite benutzt. Das Vorfahrtsrecht der auf der Straße fahrenden Fahrzeuge gegenüber einem auf eine Straße Einfahrenden gilt grundsätzlich für die gesamte Fahrbahn. Der aus einem Grundstück kommende Fahrzeugführer hat sich grundsätzlich darauf einzustellen, dass der ihm gegenüber Vorfahrtsberechtigte in diesem Sinne von seinem Recht Gebrauch macht (BGH NJW-RR 1991, 536; 2012, 157, 158 Rn. 8). Selbst das Befahren der linken Fahrbahn beseitigt nicht die Verpflichtung des Einfahrenden, dem fließenden Verkehr den Vorrang zu belassen und diesen nicht zu behindern (BGH NJW-RR 2012, 157, 158 Rn. 8). Gegen den Einfahrenden spricht ein Anscheinsbeweis, d. h. er trägt die volle Haftung, es sei denn, dem Fahrer des anderen, vorfahrtberechtigten, weil bereits auf der Straße fahrenden Fahrzeugs ist im Einzelfall ebenfalls ein Sorgfaltsverstoß anzulasten, weil er unaufmerksam oder mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren ist (Senat NJW-RR 2015, 351, 352 Rn. 74; Freymann in Geigel, Der Haftpflichtprozess 27. Aufl. Kap. 27 Rn. 319).

b) Diesen gesteigerten Sorgfaltsanforderungen ist der Kläger, der im Unfallzeitpunkt das 15. Lebensjahr vollendet hatte und dessen Einsichtsfähigkeit gemäß § 828 Abs. 3 BGB zu vermuten ist, schuldhaft nicht gerecht geworden.
aa) Insoweit gelten im Straßenverkehr für einen minderjährigen Mofa-Fahrer nicht etwa geringere Sorgfaltsanforderungen. Wer auf öffentlichen Straßen ein Kraftfahrzeug führt, bedarf zwar gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 FeV keiner Fahrerlaubnis, wenn es sich – wie das hier offenkundig der Fall ist – um einspurige Fahrräder mit Hilfsmotor – auch ohne Tretkurbeln – handelt, deren Bauart Gewähr dafür bietet, dass die Höchstgeschwindigkeit auf ebener Bahn nicht mehr als 25 km/h beträgt (Mofas). Indessen muss schon bei der Bewerbung um die Mofa-Prüfbescheinigung eine theoretische und praktische Ausbildung durchlaufen werden. Dabei ist es laut Ziffer 1.5 Anlage 1 FeV in der hier noch anzuwendenden Fassung vom 26.06.2012 Ziel der theoretischen Ausbildung, verkehrsgerechtes und rücksichtsvolles Verhalten im Straßenverkehr zu erreichen (Satz 1). Die theoretische Ausbildung soll beim Kursteilnehmer zu sicherheitsbetonten Einstellungen und Verhaltensweisen führen, verantwortungsbewusstes Handeln im Straßenverkehr fördern und das Entstehen verkehrsgefährdender Verhaltensweisen verhindern. Schließlich muss, wer auf öffentlichen Straßen ein Mofa (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 FeV) führt, in einer Prüfung nachgewiesen haben, dass er ausreichende Kenntnisse der für das Führen eines Kraftfahrzeugs maßgebenden gesetzlichen Vorschriften hat (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 FeV) und mit den Gefahren des Straßenverkehrs und den zu ihrer Abwehr erforderlichen Verhaltensweisen vertraut ist (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 FeV). Da der Kläger ausweislich der Verkehrsunfallanzeige Inhaber einer entsprechenden Prüfbescheinigung des TÜV in St. Ingbert vom 10.12.2013 war (Beiakte Bl. 2), ist davon auszugehen, dass er vor dem Verkehrsunfall vom 22.07.2014 die theoretische Ausbildung mit dem Ziel, verkehrsgerechtes und rücksichtsvolles Verhalten im Straßenverkehr zu erreichen und das Entstehen verkehrsgefährdender Verhaltensweisen zu verhindern, durchlaufen hat.

bb) Der Zusammenstoß mit dem Pkw der Beklagten zu 1 hat sich während des Einfahrens und damit in unmittelbarem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Vorgang ereignet, dessen Gelingen der Kläger grundsätzlich allein verantwortet. Nach dem vom Sachverständigen Dipl.-Phys. J. M. nachvollziehbar und überzeugend ausgewerteten Spurenbild erfolgte der Zusammenstoß vor Abschluss des Einfahrens und Linksabbiegens am gegenüberliegenden aus Sicht der Beklagten zu 1 linken Fahrbahnrand, wobei sich das Mofa des Klägers in einem Winkel von fast 90° zum Bürgersteig befand (Bd. I Bl. 127 d. A.).

cc) Der Kläger hat auf Grund seiner eigenen Darstellung den Einfahrvorgang in einer nicht nur sich selbst, sondern auch die Beklagte zu 1 als andere – vorfahrtberechtigte – Verkehrsteilnehmerin gefährdenden Art und Weise durchgeführt. Der Einfahrende muss sich vergewissern, dass die Fahrbahn für ihn im Rahmen der gebotenen Sicherheitsabstände (§ 4 StVO) frei ist und dass er niemanden übermäßig behindert (König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht § 10 StVO Rn. 10). Bei der Anhörung als Partei durch das Landgericht hat der Kläger erklärt, er habe in der Einfahrt zwischen den beiden Posten dort gestanden und das Mofa angemacht. Er habe dann zwei Mal nach rechts und links geschaut und habe gerade losfahren wollen. Als er schon im Losfahren begriffen gewesen sei, habe er das Auto der Erstbeklagten gesehen. Er habe dann vor Schreck noch „ganz ganz kurz“ Gas gegeben, dann aber sofort wieder gebremst und sei circa einen halben Meter vor dem gegenüberliegenden Bürgersteig auf der Straße stehen geblieben.

(1) Nach seinen eigenen Angaben will der Kläger sich zwischen den beiden Pfosten der Einfahrt befunden, das Mofa angeschaltet und dann zwei Mal nach rechts und links geschaut haben und (erst) dann losgefahren sein. Dieses Vorgehen war von vorneherein nicht geeignet, auf der Straße herannahende bevorrechtigte Verkehrsteilnehmer zu erkennen. Der Bereich zwischen den Pfosten ist um die Breite des gesamten Bürgersteigs und der teilweise auf der Straße beiderseits der Einfahrt parkenden Pkw von der Sichtlinie entfernt.

(2) Im Übrigen will der Kläger das Fahrzeug der Erstbeklagten erst gesehen haben, als er schon im Losfahren begriffen gewesen sei. Bei der gebotenen Fahrweise hätte der Kläger den Beklagten-Pkw in der Annäherung von weitem erkennen müssen. Bei der Straße ... pp. handelt es sich in Höhe des Anwesens Nr. ... um eine gerade, nahezu ebene Straße mit Zweirichtungsverkehr ohne Mittellinie. Der Unfall ereignete sich tagsüber bei guter und weiter Sicht des Klägers nach links (vgl. Bd. I Bl. 98 unten, 105 d. A.). Der aus einem Grundstück auf die Fahrbahn Einfahrende ist bei Sichthindernissen verpflichtet, sich ganz langsam und vorsichtig so weit in die Straße hineinzutasten, bis er freie Sicht auf den bevorrechtigten Verkehr hat (Senat NJW-RR 2015, 351, 353 Rn. 80). Der Einfahrende darf nur weiterfahren, wenn er übersehen kann, dass er den Vorfahrtsberechtigten weder gefährdet noch behindert. Kann er das nicht übersehen, weil die Straßenstelle unübersichtlich ist, so hat er sich vorsichtig in die Fahrbahn hineinzutasten, bis er die Übersicht hat. Hierbei kann es geboten sein, lediglich zentimeterweise – nicht etwa mit Schrittgeschwindigkeit von 5 bis 7 km/h – mit der Möglichkeit zum sofortigen Anhalten bis zum Übersichtspunkt vorzurollen. Erforderlichenfalls ist dieser Vorgang mehrfach zu wiederholen (Senat NJW-RR 2015, 351, 353 Rn. 81). Der Wartepflichtige genügt dieser Pflicht nicht, wenn er einfach bis zum Übersichtspunkt ohne Unterbrechung vorrollt (KG NJW-RR 2011, 26; jurisPK-StrVerkR/Scholten, 1. Aufl. § 10 StVO Rn. 54). Durch das Erfordernis des Vortastens soll einerseits erreicht werden, dass der bevorrechtigte Verkehr genügend Zeit hat, sich auf das hineintastende Fahrzeug einzurichten, andererseits, dass der Wartepflichtige nahezu ohne Anhalteweg anhalten kann, wenn er einen bevorrechtigten Verkehrsteilnehmer wahrnimmt (OLG München, Urteil vom 31.03.2017 – 10 U 4716/16, juris Rn. 7; jurisPK-StrVerkR/Scholten, aaO Rn. 54.1). Diesen Anforderungen ist der Kläger offensichtlich nicht gerecht geworden; denn bei der gebotenen Fahrweise hätte er das sich nähernde Beklagten-Fahrzeug rechtzeitig gesehen und hätte nicht nach links in die Fahrbahn einfahren und den Fahrweg der bevorrechtigten Beklagten zu 1 kreuzen dürfen.

(3) Darüber hinaus merkt der Senat im Blick auf § 10 Satz 2 StVO an, dass es zur äußersten Sorgfalt auch gehört, dass der Einfahrende seine Absicht einzufahren rechtzeitig und deutlich anzukündigen und – soweit vorhanden – dabei die Fahrtrichtungsanzeiger zu benutzen hat. Die Wichtigkeit dieser Ankündigung wird im vorliegenden Fall deutlich, in dem der Kläger nach links in die Straße einfahren und dabei die Fahrbahn der Erstbeklagten kreuzen musste. Im Rahmen der eingehenden Darstellung des Unfallgeschehens in den Schriftsätzen und der Parteianhörung hat der Kläger indessen eine solche Ankündigung nicht erwähnt. Das Mofa des Klägers verfügte zwar über keine Fahrtrichtungsanzeiger, doch hätte er dann seine Absicht, nach links einzufahren, durch deutliche und länger anhaltende Arm- oder Handzeichen rechtzeitig sichtbar machen müssen.

(4) Ein weiteres Fehlverhalten des Klägers liegt darin, dass er die von ihm geschaffene Gefahrensituation weiter dadurch erhöhte, dass er vor Schreck noch „ganz ganz kurz“ Gas gegeben, dann aber sofort wieder gebremst haben und circa einen halben Meter vor dem gegenüberliegenden Bürgersteig auf der Straße stehen geblieben sein will. Statt das Einfahren abzubrechen oder die Fahrbahn der Beklagten zu 1 zu räumen, hat der Kläger somit durch das circa einen halben Meter vor dem gegenüberliegenden Fahrbahnrand quer zur Fahrbahn stehende Mofa nahezu die gesamte Straßenbreite versperrt und der Beklagten zu 1 damit jede Ausweichmöglichkeit genommen. Soweit die Berufungserwiderung und Anschlussberufung geltend macht, der Kläger habe vorkollisionär gestanden, untermauert dieser Vortrag nur noch das Fehlverhalten des Klägers; denn mit dem von § 10 Satz 1 StVO geforderten Gefährdungsausschluss ist es nicht zu vereinbaren, wenn der unter Nichtbeachtung des fließenden Verkehrs in die Straße eingefahrene Kläger mit seinem Mofa für den bevorrechtigten Verkehr ein quer zur Fahrbahn stehendes Hindernis bildete.

(5) Die Berufungserwiderung und Anschlussberufung rügt, der im Zeitpunkt der Hauptverhandlung vor dem Landgericht 17 Jahre alte Kläger wäre nicht nur im Rahmen einer informatorischen Befragung gemäß § 141 ZPO anzuhören gewesen, sondern hätte als Zeuge vernommen werden müssen; dem stehe § 455 Abs. 2 ZPO nicht entgegen. Selbst wenn man jedoch davon ausgehen müsse, dass „nur“ eine informatorische Befragung des Klägers in Betracht komme, müssten die insoweit gemachten Angaben im Rahmen der Beweiswürdigung und bei der Urteilsfindung berücksichtigt werden (Bd. II Bl. 243 f. d. A.). Diese Rügen haben keinen Erfolg.
(5.1) Der Geltendmachung eines Verfahrensfehlers steht der Verlust des Rügerechts nach § 295 ZPO entgegen. Laut der Sitzungsniederschrift vom 08.03.2016 hat das Landgericht ausgeführt, dass der Antrag auf zeugenschaftliche Vernehmung des damals 17-jährigen Klägers wegen § 455 Abs. 2 ZPO nicht angezeigt erscheine. Sodann heißt es im Protokoll: „Im Einvernehmen mit den Parteienvertretern sollen die Parteien lediglich gemäß § 141 ZPO informatorisch angehört werden.“ (Bd. I Bl. 53 d. A. oben). Außerdem sieht der Senat keine Möglichkeit, den im Berufungsverfahren volljährig gewordenen Kläger überhaupt noch als Zeugen zu vernehmen. Maßgeblicher Zeitpunkt dafür, ob jemand als Partei oder als Zeuge zu vernehmen ist, ist derjenige der Vernehmung (RGZ 46, 318, 320; MünchKomm-ZPO/Damrau, 5. Aufl. § 373 Rn. 16; Wieczorek/Schütze/Völzmann-Stickelbrock, ZPO 4. Aufl. § 455 Rn. 12).

(5.2) Im Übrigen hat der Senat vorstehend die Beweiswürdigung des Landgerichts überprüft und die erstinstanzlich erhobenen Beweise vollständig gewürdigt. Aus den dabei herangezogenen eigenen Angaben des Klägers ergibt sich, wie vorstehend dargestellt, dessen Verkehrsverstoß. Bei dieser Sachlage kommt es auf die von der Berufungserwiderung und Anschlussberufung (Bd. II Bl. 244 f. d. A.) in Zweifel gezogene Aussage der Zeugin A.-K. M. nicht mehr an.

4. Auf Seiten der Beklagten ist, wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat (Bd. II Bl. 203 d. A.), ein Verstoß der Beklagten zu 1 gegen § 3 StVO nicht festzustellen.

a) Die Anhörung der Parteien und die Aussagen der Zeugen sind zur Bestimmung der von der Beklagten zu 1 gefahrenen Ausgangsgeschwindigkeit unergiebig. Laut dem Gutachten des Sachverständigen Dipl.-Phys. J. M. „ist die Abwicklung des Klägers und der Aufprall im hinteren Bereich der Motorhaube in einer Fahrgeschwindigkeit in einer Größenordnung des Beklagten-Pkw von 20 – 25 km/h darstellbar“ (Bd. I Bl. 131 d. A.). Danach könnte der Beklagten zu 1 allenfalls eine nicht mehr näher einzugrenzende Kollisionsgeschwindigkeit von ungefähr 20 km/h nachgewiesen werden. Über die Ausgangsgeschwindigkeit hat der Sachverständige keine Angaben machen können. Da der Kläger behauptet, die Beklagte zu 1 habe vorkollisionär beschleunigt, wäre die Ausgangsgeschwindigkeit sogar noch niedriger als 20 km/h anzunehmen. Jedenfalls hat der Kläger aber nicht bewiesen, dass die Beklagte zu 1 in irgendeinem Zeitpunkt die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h überschritten hat.

b) Dieses Ergebnis wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass das Landgericht abweichend von seinen Ausführungen auf S. 7 des angefochtenen Urteils, dass der Beklagten zu 1 keine Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit am Unfallort nachzuweisen sei (Bd. II Bl. 203 d. A.), auf S. 8 die Auffassung vertreten hat, der Beklagten zu 1 sei entweder vorzuwerfen, dass sie zu langsam regiert habe, bis sie auf Grund des Auftauchens des Klägers in ihrem Sichtfeld die Bremsung eingeleitet habe, oder dass sie zwar schnell genug reagiert habe, aber dann im Umkehrschluss mit einer höheren als der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h gefahren sei (Bd. II Bl. 204 d. A. Abs. 2). Die Erwägungen auf S. 8 des angefochtenen Urteils beruhen nämlich auf unzutreffenden rechtlichen Annahmen, wie nachfolgend unter 5.b) im Einzelnen dargestellt werden wird.

5. Ein Verstoß der Beklagten zu 1 gegen § 1 Abs. 2 StVO ist weder vorkollisionär (nachfolgend unter b)) noch – entgegen der Auffassung des Landgerichts – nachkollisionär (nachfolgend unter c)) gegeben.

a) Laut der Vorschrift des § 1 Abs. 2 StVO hat, wer am Verkehr teilnimmt, sich so zu verhalten, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird. Dem – wie geboten – konzentriert fahrenden Menschen ist zuzubilligen, zuvor die Verkehrssituation mit seinen Sinnesorganen zu erfassen, um reagieren zu können. Die Reaktionszeit hängt maßgeblich von seinen Fähigkeiten und der Vorhersehbarkeit der Gefahrensituation ab (Freymann in Geigel, aaO Kap. 27 Rn. 34). Ferner ist bei einem gebotenen Bremsverhalten die Zeit der Kraftübertragung bis zum Ansprechen der Bremsen (Bremsansprechzeit) zu berücksichtigen. Beide Intervalle zusammen betragen im Allgemeinen eine knappe Sekunde (BGH NJW 2000, 3069; Freymann in Geigel, aaO).

b) Unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses der erstinstanzlichen Beweisaufnahme (§ 286 Abs. 1 ZPO) ist nicht festzustellen, dass die Beklagte zu 1 vorkollisionär verspätet reagiert hätte.

aa) Zwar hat das Landgericht ausgeführt, der Sachverständige Dipl.-Phys. J. M. habe bei der mündlichen Erläuterung des Gutachtens unter Vorführung des streitgegenständlichen Unfalls am Laptop durch Anzeige der denkbaren Fahrlinien darlegen können, dass bei dem für die Beklagtenseite günstigsten Geschehensablauf die Beklagte zu 1 zumindest 1,3 bis 1,5 s Zeit zur Gefahrerkennung, also zur Realisierung der Tatsache, dass der Kläger auf die Straße rolle, gehabt hätte (Bd. II Bl. 203 f. d. A.). Der Beklagten zu 1 sei entweder vorzuwerfen, dass sie zu langsam regiert habe, bis sie auf Grund des Auftauchens des Klägers in ihrem Sichtfeld die Bremsung eingeleitet habe, oder dass sie zwar schnell genug reagiert habe, aber dann im Umkehrschluss mit einer höheren als der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h gefahren sei (Bd. II Bl. 204 d. A. Abs. 2). Abgesehen davon, dass in der Sitzungsniederschrift des Landgerichts vom 11.10.2016 die Vorführung bzw. deren Ergebnisse nicht dokumentiert sind und die Parteien laut Protokoll entgegen §§ 285 Abs. 1, 279 Abs. 3 ZPO auch keine Gelegenheit erhalten hatten, zur Beweisaufnahme Stellungnahme zu nehmen (Bd. I Bl. 191 d. A.; vgl. dazu BGH NJW 2012, 2354 Rn. 5 ff.), hat das Landgericht nicht hinreichend zwischen vor- und nachkollisionärer Reaktion der Beklagten zu 1 unterschieden und bei zutreffender Betrachtung nicht den für die Beklagtenseite günstigsten, sondern den für diese ungünstigsten Geschehensablauf zu Grunde gelegt.

bb) Der zur Feststellung eines unfallursächlichen vorkollisionären Verstoßes der Beklagten zu 1 gegen § 1 Abs. 2 StVO auf Grund ihres Bestreitens dem Kläger obliegende Beweis, dass die Beklagte zu 1 ab dem Zeitpunkt der Reaktionsaufforderung unfallvermeidend hätte reagieren können, ist nicht geführt. Vorliegend steht nicht einmal der Zeitpunkt der Reaktionsaufforderung fest, so dass es für vorkollisionäre Vermeidbarkeitsbetrachtung an jeder Grundlage fehlt.

(1) Die eingehende Befragung des Klägers hat weder Entfernungsangaben noch konkrete Angaben zu gefahrenen Geschwindigkeiten ergeben. Die Erklärung des Klägers, er habe – so wörtlich – „vor Schreck noch ganz ganz kurz Gas gegeben, … dann aber sofort wieder gebremst und (sei) … ca. einen halben Meter vor dem gegenüberliegenden Bürgersteig auf der Straße stehen“ geblieben (Bd. I Bl. 53 d. A.), erlaubt es nicht, eine exakte Weg-Zeit-Betrachtung anzustellen.

(2) Ebenfalls unergiebig für eine Weg-Zeit-Betrachtung ist die Aussage des vom Kläger als Zeugen benannten Nachbarn H. K., der den Unfall selbst nicht gesehen hatte und deshalb nur Endpositionen fotografisch aufnehmen und vermessen konnte (Bd. I Bl. 55 d. A.).

(3) Dementsprechend hat der Sachverständige Dipl.-Phys. J. M. in seinem Gutachten zutreffend festgestellt, dass über das vorkollisionäre Fahr- und Bewegungsverhalten beider Unfallbeteiligter ohne entsprechende (Brems-) Spuren auf der Fahrbahn kein analytischer Aufschluss gegeben werden kann. Insbesondere war bei einem (möglichen) Stillstand des Klägers nahe des (aus Sicht der Beklagten zu 1) linksseitigen Fahrbahnrandes nicht aufzuklären, wie lange dieser Zustand bereits erreicht worden ist, d. h. wenige zehntel Sekunden sind ebenso möglich wie mehrere Sekunden (Bd. I Bl. 137 d. A.). Dies hat der Sachverständige bei der mündlichen Erläuterung des Gutachtens zunächst bestätigt (Bd. I Bl. 191 d. A. oben).

(3.1) Die nachfolgenden Erläuterungen des Sachverständigen hat das Landgericht nicht zutreffend eingeordnet. Der Sachverständige hat weiter erklärt, sofern man davon ausgehe, dass der Kläger sich erst zu diesem Punkt hinbewegt habe, könne man von einer beschleunigten Bewegung von maximal 12 km/h ausgehen, die er circa auf der Mitte der Straße erreicht habe könne, bis er dann wieder abgebremst habe. In diesem Fall hätte die Beklagte zu 1 für die Gefahrerkennung zwischen 1,3 und 1,5 s Zeit gehabt. Bei einer Reaktionszeit von 0,8 s wären noch 0,5 bis 0,7 s Zeit zum Anhalten bzw. Bremsen gewesen. Bei einer zeitgerechten Reaktion seien damit 32 bis 37 km/h Geschwindigkeit durch die Beklagte (zu 1) vor der Gefahrerkennung möglich, ohne dass dies durch Spuren belegt werden könne, somit nur auf einer Annahme beruhe (Bd. I Bl. 191 d. A. Mitte).

(3.2) Da im Rahmen der Haftungsabwägung – wie eingangs dargestellt – nach anerkannten Rechtsgrundsätzen die dafür maßgebenden Umstände nach Grund und Gewicht feststehen, d. h. unstreitig, zugestanden oder nach § 286 ZPO bewiesen sein müssen und nur vermutete Tatbeiträge oder die bloße Möglichkeit einer Schadensverursachung auf Grund geschaffener Gefährdungslage außer Betracht zu bleiben haben, können den Beklagten keine Umstände zur Last gelegt werden, die nur auf einer Annahme beruhen, also weder unstreitig, zugestanden oder bewiesen sind. Darüber hinaus beziehen sich die (spekulativen) Erwägungen des Sachverständigen erkennbar auf die Frage, ob die Beklagte zu 1 mit einer höheren Ausgangsgeschwindigkeit als der von ihm angegebenen Größenordnung der Kollisionsgeschwindigkeit von 20 bis 25 km/h gefahren sein kann (nicht: ist). Sie besagen nichts über Weg und Zeit zwischen der (nicht mehr aufklärbaren) Reaktionsaufforderung an die Beklagte zu 1 und der (festgestellten) Kollision.

(4) Schließlich hat der Kläger für seine Behauptung, die Beklagte habe abgebremst, 2 m vor ihm aber wieder beschleunigt, weil die Beklagte zu 1 anscheinend das Gas mit der Bremse verwechselt habe, keinen Beweis erbracht.

(4.1) Objektive Anhaltspunkte für ein solches Fehlverhalten der Beklagten zu 1 gibt es nicht. Im Gutachten und der mündlichen Erläuterung hat der Sachverständige mangels Spuren auf der Fahrbahn keine Feststellungen zum vorkollisionären Verhalten der Unfallbeteiligten treffen können. Insbesondere hat er über eine vorkollisionäre Beschleunigung der Beklagten zu 1 keine Aussage treffen können (Bd. I Bl. 137 d. A. a. E.).

(4.2) Der Kläger hat bei der Anhörung als Partei erklärt, er sei schon im Losfahren begriffen gewesen, als er das Auto der Beklagten zu 1 gesehen habe. Er habe dann – wie bereits oben unter (1) wiedergegeben – „vor Schreck noch ganz ganz kurz Gas gegeben“, dann aber sofort gebremst und sei circa einen halben Meter vor dem gegenüberliegenden Bürgersteig auf der Straße stehen geblieben. Dann habe er dagestanden, und die Gegnerin habe sofort abgebremst und sei fast stehen geblieben. Dann habe sie aber Gas gegeben und ihn auf die Motorhaube genommen. Er habe dann an die Scheibe geklopft, und als sie realisiert habe, dass er auf ihrem Auto gelegen habe, habe sie eine Vollbremsung gemacht, und er sei dann runtergefallen (Bd. I Bl. 53 d. A.). Das vom Kläger beschriebene Verhalten der Beklagten zu 1 kann nur als ungewöhnlich bezeichnet werden, denn es würde voraussetzen, dass die Beklagte zu 1 nicht nur Gas und Bremse verwechselt hätte – wofür es keine Anhaltspunkte gibt –, sondern trotz Zusammenstoß mit dem Mofa weiter Gas gegeben und erst auf Klopfzeichen des auf der Motorhaube aufgeladenen Mofafahrers gebremst hätte. Die Darstellung des Klägers ist jedenfalls nicht wahrscheinlicher als die gegenteilige Darstellung der Beklagten (Bd. I Bl. 23 d. A.).

(4.3) In der Verkehrsunfallanzeige der Polizeiinspektion Neunkirchen vom 29.07.2014 heißt es zwar, die Beklagte zu 1 habe vermutlich das Brems- mit dem Gaspedal verwechselt (Beiakte Bl. 5 unten). Hierbei handelt es sich aber um eine bloße Vermutung, die wohl auf der Angabe des Vaters des Klägers beruht (der Vater hat den Unfall selbst nicht beobachtet), der Kläger habe ihm gesagt, die Fahrerin des Pkw habe wohl zunächst gebremst, dann aber Gas gegeben. Sie habe ihn auf die Motorhaube aufgeladen und ein Stück mitgenommen, bis sie endlich gebremst hätte. Er habe ihr noch gegen die Scheibe geklopft, sie habe jedoch nicht reagiert (Beiakte Bl. 5 oben). Auch insoweit gibt es keine Gesichtspunkte, welche diese Darstellung auch nur wahrscheinlicher erscheinen lassen als diejenige der Beklagten.

c) Ebenso wenig ist ein nachkollisionärer Verstoß der Beklagten zu 1 gegen § 1 Abs. 2 StVO gegeben.
aa) Das Landgericht hat schon nicht in Erwägung gezogen, dass eine nicht vorwerfbare Fehlreaktion in Betracht kommt. Nach herrschender Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum ist anerkannt, dass Fehlreaktionen des Kraftfahrers, der in einer von ihm nicht verschuldeten Gefahr aus Schreck oder Bestürzung nicht optimal oder falsch reagiert, kein Verschulden begründen (BGH NZV 2009, 177, 178 Rn. 10; OLG München NJW-RR 2013, 1185, 1187; Freymann in Geigel, aaO Kap. 27 Rn. 34; König in Hentschel/König/Dauer, aaO Einleitung Rn. 144). Auch kann dem Verkehrsteilnehmer unter Umständen eine zusätzliche Schreckzeit („Schrecksekunde“) zugebilligt werden, wenn er von einem gefährlichen, nicht vorhersehbaren Ereignis überrascht wird (BGH VRS 15, 276, 278; 33, 350, 352; NJW 1994, 941, 942; Freymann in Geigel, aaO). Diese Grundsätze kommen der bevorrechtigt auf der Straße fahrenden Beklagten zu 1, die anders als der einfahrende Kläger die Gefahr auch nicht verschuldet hat, grundsätzlich zugute.

bb) Unbeschadet dessen ist eine Fehlreaktion der Beklagten zu 1 aber auch nicht festzustellen.

(1) Das Landgericht hat im Wesentlichen ausgeführt, die Beklagte zu 1 habe nach dem Zusammenstoß das Mofa des Klägers circa 8,5 m auf dem Boden mitgeschleift und den Kläger selbst auf der Motorhaube circa 19,5 m mitgenommen. Angebracht wäre es jedoch gewesen, das Fahrzeug direkt nach der Kollision zum Stehen zu bringen, um so die Unfallfolgen so gering wie möglich zu halten. Nach allgemeiner Lebenserfahrung sei vorliegend davon auszugehen, dass sowohl der Schaden an dem Mofa durch das Mitschleifen auf der Straße als auch die Verletzungen des Klägers auf Grund der Mitnahme auf der Motorhaube verschlimmert worden seien im Vergleich mit dem vorhandenen Schaden bei einem direkten Anhalten nach dem Zusammenstoß (Bd. II Bl. 204 d. A. oben). Diesen Überlegungen vermag der Senat nicht zu folgen.

(2) Die Beurteilung des Verhaltens der Beklagten zu 1 als vorwerfbare Fehlreaktion würde zumindest voraussetzen, dass feststeht, wann der Beklagten-Pkw unter Berücksichtigung des Zeitpunkts der Reaktionsaufforderung, der Reaktions- und Bremsanschwellzeit und des Bremsweges (frühestens) hätte zum Stehen kommen können. Bereits für diese Beurteilung fehlt es nach dem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme an jeder Grundlage. Auch wenn mit dem Landgericht – ohne Zugeständnis einer Fehlreaktion – davon ausgegangen würde, die Beklagte zu 1 hätte das Fahrzeug direkt nach der Kollision zum Stehen bringen müssen, bedeutet „direkt“ nicht ohne Reaktions- und Bremsanschwellzeit und Bremsweg. Dass die dann zurückgelegte Mitnahmestrecke beim Mofa geringer als 8,5 m und beim Kläger geringer als circa 18 m (das Landgericht hat die Mitnahmestrecke von circa 18 m zu Unrecht mit der vom Sachverständigen angenommenen Endlage des Klägers von 19,5 m nach Abwurf gleichgesetzt) gewesen wäre, ist nicht festzustellen. Deshalb bedarf es auch keiner Auseinandersetzung mit dem Umstand, dass das Gutachten Dipl.-Phys. J. M. erheblich von der von der polizeilichen Unfallaufnahme dokumentierten Endlage von Mofa (7 m) und Kläger (16 m) abweicht (vgl. Beiakte Bl. 23). Außerdem sprechen gegen die vom Landgericht bejahte, nicht begründete Lebenserfahrung physikalische Grundlagen: Wird ein bewegter Körper wie der Beklagten-Pkw (unterstellt) später oder langsamer verzögert, so wirken auf den auf der Motorhaube liegenden Kläger jedenfalls keine größeren Kräfte ein als bei sofortiger Vollbremsung.

6. Bei zutreffender Berücksichtigung aller unstreitigen und erwiesenen Umstände führt die Haftungsabwägung zur Alleinhaftung des Klägers.

a) Rechtsfolge des – auf Seiten des Klägers gegebenen – Verstoßes des in den Verkehr Einfahrenden gegen seine Sorgfaltspflicht gemäß § 10 Satz 1 StVO ist, dass demgegenüber die Betriebsgefahr des im fließenden Verkehr befindlichen Fahrzeugs im Rahmen der Abwägung nach § 17 Abs. 1 StVG zurücktritt (KG NJW-RR 2011, 26, 27; Senat NJW-RR 2015, 351, 352 Rn. 75). Der fließende Verkehr darf nämlich im Regelfall darauf vertrauen, dass sein Vorrang beachtet wird (BGH VRS 56, 202, 203; Senat NJW-RR 2015, 351, 352 Rn. 75). Die gesteigerte Sorgfaltspflicht des vom Grundstück in die Fahrbahn Einfahrenden führt dazu, dass bei einem Unfall in der Regel von seiner Alleinhaftung auszugehen ist und die Betriebsgefahr des im fließenden Verkehr Befindlichen regelmäßig zurücktritt (Senat NJW-RR 2015, 351, 352 Rn. 75).
b) Anders als die Anschlussberufung meint (Bd. II Bl. 245 d. A.), löst der Pkw der Beklagten zu 1 unter den Umständen des vorliegenden Falles nicht die deutlich höhere Betriebsgefahr aus. Im Gegenteil wurde der Beklagten-Pkw mit einer vergleichsweise geringen Geschwindigkeit geführt, die im Kollisionszeitpunkt allenfalls mit einer Größenordnung von 20 km/h angesetzt werden kann. Demgegenüber wirkte sich die Betriebsgefahr des im Vergleich mit dem Pkw wesentlich leichteren und ungeschützten Mofa im Streitfall in besonderem Maße aus, weil der Kläger nach eigener Darstellung quer zur Fahrbahn stand und ein Hindernis bildete, dem nicht ausgewichen werden konnte.

c) Da den Kläger schon aus diesen Gründen die volle Haftung für die beim Verkehrsunfall vom 22.07.2014 verursachten Schäden trifft, kommt es auf die im angefochtenen Urteil verneinte Frage, ob dem Kläger als Mofa-Fahrer darüber hinaus das Nichtanlegen einer Schutzkleidung anzulasten ist (Bd. II Bl. 203 d. A.), nicht mehr an.

II.
Die Anschlussberufung ist gemäß § 524 Abs. 1 ZPO zulässig, entsprechend den vorstehenden Ausführungen zur Berufung unter (I.) aber nicht begründet.

III.
1. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.

2. Die Revision ist gemäß § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 ZPO nicht zuzulassen; denn weder hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.


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