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Entscheidungen

StPO

Verfassungsbeschwerde, absoluter Revisionsgrund, nur teilweise Aufhebung

Gericht / Entscheidungsdatum: VerfGH Sachsen, Beschl. v. 30.09.2014 - Vf. 19-IV-13

Leitsatz: Zur Verfassungsbeschwerde gegen ein strafrechtliches Revisionsurteil, durch welches trotz festgestellten Verfahrensverstoßes keine Aufhebung des Schuldspruches der Vorinstanz erfolgte


Vf. 19-IV-13
DER VERFASSUNGSGERICHTSHOF
DES FREISTAATES SACHSEN
IM NAMEN DES VOLKES
Beschluss
In dem Verfahren
über die Verfassungsbeschwerde
des Herrn M.,
Verfahrensbevollmächtigter: Rechtsanwalt Meinhard Starostik,
Wittestraße 30 E, 10785 Berlin,
hat der Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen durch die Präsidentin des Verfassungsgerichtshofes Birgit Munz, die Richter Jürgen Rühmann, Uwe Berlit, Christoph Degenhart, Matthias Grünberg, Ulrich Hagenloch, Hans Dietrich Knoth, Hans-Heinrich Trute sowie die Richterin Andrea Versteyl
am 30. September 2014 beschlossen:

1. Das Urteil des Oberlandesgerichts Dresden vom 17. Dezember 2012 (3 Ss 518/12 [2]) verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 18 Abs. 1 SächsVerf. Es wird aufgehoben, soweit es die weitergehende Revision des Beschwerdeführers als unbegründet verwirft; die Sache wird an das Oberlandesgericht Dresden zurückverwiesen.
2. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden vom 7. Februar 2013 (3 Ss 518/12 [2]) wird damit gegenstandslos.
3. Der Freistaat Sachsen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen
zu erstatten.

Gründe:
I.
Mit seiner am 14. März 2013 bei dem Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen eingegangenen Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen das Revisionsurteil des Oberlandesgerichts Dresden vom 17. Dezember 2012 (3 Ss 518/12 [2]) sowie hilfsweise gegen dessen Beschluss vom 7. Februar 2013 über die Anhörungsrüge (3 Ss 518/12 [2]), gegen das Berufungsurteil des Landgerichts Leipzig vom 9. Januar 2012 (10 Ns 207 Js 32541/08) und gegen das erstinstanzliche Urteil des Amtsgerichts Leipzig vom 18. Januar 2011 (200 Ds 207 Js 32541/08).

Dem Beschwerdeführer wurde zur Last gelegt, dem Finanzamt Rechnungen eines Wohnungsbauunternehmens mit gesondertem Umsatzsteuerausweis vorgelegt und auf dieser Grundlage mit seinen Umsatzsteuerjahreserklärungen für die Jahre 2000 und 2003 entsprechenden Vorsteuerabzug geltend gemacht zu haben, obwohl ihm die Rechnungen von dem Unternehmen nicht in dieser Form gestellt worden waren. Mit Urteil des Amtsgerichts Leipzig vom 18. Januar 2011 (200 Ds 207 Js 32541/08) wurde der Beschwerdeführer wegen versuchter Steuerhinterziehung in zwei tateinheitlichen Fällen zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe verurteilt. In einem Fortsetzungstermin der Berufungsverhandlung vor dem Landgericht Leipzig vom 19. Dezember 2011, in dem der Beschwerdeführer zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen vernommen worden war, war kein Verteidiger des Beschwerdeführers anwesend. In diesem Termin machte der Beschwerdeführer Angaben zu einer Erkrankung – einem Ende der 90-iger Jahre aufgetretenen Hirntumor, der 2009 entfernt worden sei. Die Vernehmung wurde später nicht im Beisein eines Verteidigers nachgeholt.
Auf die Berufung des Beschwerdeführers hin änderte das Landgericht Leipzig mit Urteil vom 9. Januar 2012 (10 Ns 207 Js 32541/08) den Rechtsfolgenausspruch in die Verhängung einer Geldstrafe ab. Dabei berücksichtigte es u.a. strafmildernd die schwere Erkrankung des Beschwerdeführers.

Mit seiner Revision rügte der Beschwerdeführer die zeitweise prozessordnungswidrige Abwesenheit eines Verteidigers in der Hauptverhandlung; es habe ein Fall der notwendigen Verteidigung vorgelegen. Mit der Sachrüge machte er geltend, das Landgericht halte es für möglich, dass ihm die betreffenden Rechnungen mit Umsatzsteuerausweis aus Gefälligkeit von einem Mitarbeiter des Unternehmens selbst erstellt worden seien. Unter diesen Voraussetzungen habe es sich jedoch um wirksame, inhaltlich zutreffende Rechnungen des Unternehmens gehandelt, die ihn zum Vorsteuerabzug berechtigten.

Mit Urteil des Oberlandesgerichts Dresden vom 17. Dezember 2012 (3 Ss 518/12 [2]) wurde das Urteil des Landgerichts Leipzig im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben; die weitergehende Revision des Beschwerdeführers wurde als unbegründet verworfen. Die Verfahrensrüge habe teilweise Erfolg. Für die Vernehmung des Beschwerdeführers über seine persönlichen Verhältnisse als wesentlichem Teil der Hauptverhandlung sei – da ein Fall der notwendigen Verteidigung vorgelegen habe – die Anwesenheit eines Verteidigers erforderlich gewesen.

Der vorliegende Verstoß führe jedoch lediglich zur Aufhebung des Strafausspruchs, da allein dieser Urteilsteil von dem Verfahrensfehler betroffen sei. Die Sachrüge sei unbegründet.

Gegen diese Entscheidung erhob der Beschwerdeführer am 20. Dezember 2012 Anhörungsrüge, mit der er geltend machte, mit Blick auf den geltend gemachten absoluten Revisionsgrund der Abwesenheit eines erforderlichen Verteidigers sei die Möglichkeit der Teilaufhebung nur des Rechtsfolgenausspruchs vorab nicht thematisiert worden. Der Schuldspruch sei hier angesichts der in Abwesenheit der Verteidiger erörterten persönlichen Verhältnisse auch in der Sache nicht abtrennbar. Die Tumorerkrankung des Beschwerdeführers könne Einfluss auf die „tatbestandliche Ebene“, insbesondere auf eine „etwaige Strafrahmenverschiebung i.S.d. § 49 Abs. 1 StGB (etwa i.V.m. §§ 20, 21 StGB)“ haben.

Mit Beschluss vom 7. Februar 2013 wies das Oberlandesgericht Dresden die Anhörungsrüge zurück. Ob die Erkrankung des Beschwerdeführers die Voraussetzungen des § 21 StGB erfülle und deshalb eine Strafmilderung nach § 49 StGB in Betracht zu ziehen sei, berühre nicht den Schuldspruch, sondern gehöre zur Straffrage.

Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 18 Abs. 1, Art. 78 Abs. 1 Satz 1 sowie Art. 78 Abs. 3 Satz 1 SächsVerf. Soweit das Oberlandesgericht seine Verfahrensrüge als unbegründet verworfen habe, werde gegen sein Grundrecht auf rechtliches Gehör verstoßen. Das Oberlandesgericht habe seinen Vortrag zu seiner Hirntumorerkrankung unberücksichtigt gelassen, der – was sich aufdränge – den Schuldspruch berühre. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts entziehe ihn insoweit auch dem gesetzlichen Richter, weil sie verhindere, dass eine andere Strafkammer des Landgerichts Leipzig, welche angesichts der gesetzlich gebotenen Aufhebung des Schuldspruchs tatsächlich hierfür zuständig sei, seine Schuldfähigkeit beurteile. Darüber hinaus werde er durch die Entscheidungen des Landgerichts Leipzig und des Oberlandesgerichts Dresden in seinem Recht auf faires Verfahren, auf Verteidigung und sowie auf Selbstbelastungsfreiheit verletzt. Die Zurückweisung der Sachrüge durch das Oberlandesgericht verstoße im Übrigen gegen das Willkürverbot und Art. 78 Abs. 3 SächsVerf.

Das Landesverfassungsgericht habe darüber hinaus auch die Rechte des Beschwerdeführers aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu berücksichtigen.

Das Staatsministerium der Justiz und für Europa hat Gelegenheit gehabt, zum Verfahren Stellung zu nehmen.

II.
Die Verfassungsbeschwerde ist in ihrem Hauptantrag zulässig und begründet.

1. Das Urteil des Oberlandesgerichts Dresden vom 17. Dezember 2012 beruht auf einer willkürlichen Auslegung von § 338 Nr. 5 StPO und verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 18 Abs. 1 SächsVerf, soweit das Oberlandesgericht der Verfahrensrüge des Beschwerdeführers hinsichtlich des Schuldspruchs keinen Erfolg zugebilligt hat.
2.
a) Ein Richterspruch verstößt gegen das Verbot der Willkür (Art. 18 Abs. 1 SächsVerf), wenn die gerichtliche Entscheidung bei verständiger Würdigung der die Verfassung beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und daher offensichtlich unhaltbar ist (SächsVerfGH, Beschluss vom 15. Mai 2007 – Vf. 99-IV-06; st. Rspr.).

Willkür liegt dann vor, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt einer Norm in krasser Weise missdeutet wird. Von einer willkürlichen Missdeutung kann jedoch nicht gesprochen werden, wenn das Gericht sich mit der Rechtslage auseinandergesetzt hat und seine Auffassung nicht jeden sachlichen Grundes entbehrt (vgl. SächsVerfGH, Beschluss vom 26. März 2009 – Vf. 115-IV-08; st. Rspr.). Dabei ist Willkür nicht im Sinne eines subjektiven Vorwurfs, sondern objektiv zu verstehen als eine Maßnahme, die im Verhältnis zu der Situation, der sie Herr werden will, tatsächlich und eindeutig unangemessen ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. August 2009, NZV 2009, 618 [619]).

Oberlandesgericht geht davon aus, dass der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO gegeben sei, weil während der Vernehmung des Beschwerdeführers über seine persönlichen Verhältnisse als einem wesentlichen Teil der Hauptverhandlung kein Verteidiger anwesend gewesen sei, obwohl ein Fall der notwendigen Verteidigung (§ 140 Abs. 2 StPO) vorgelegen habe. Die hieran anknüpfende Bewertung des Oberlandesgerichts, der Schuldspruch als Urteilsteil sei von diesem Verfahrensverstoß nicht betroffen, erscheint gemessen am Inhalt des § 338 Nr. 5 StPO offensichtlich unhaltbar.

aa) Während im Allgemeinen eine Revision nur gerechtfertigt ist, soweit ein Gesetzesverstoß für das Urteil kausal ist (§ 337 Abs. 1 StPO), stellt das Gesetz für die in § 338 StPO enthaltene Aufzählung schwerwiegender Verfahrensmängel die grundsätzlich unwiderlegbare Vermutung der Entscheidungserheblichkeit auf (BGH, Beschluss vom 5. Januar 1977, BGHSt 27, 96, [98]; Gericke in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 7. Auflage, § 338 Rn. 1 m.w.N.). Danach führt das Vorliegen eines absoluten Revisionsgrundes regelmäßig zur Aufhebung des gesamten Urteils im angefochtenen Umfang, ohne dass es darauf ankommt, ob das Urteil tatsächlich auf dem Verfahrensfehler beruhen kann (BGH, Urteil vom 23. Oktober 2002, NStZ 2003, 218; Meyer-Goßner, StPO, 56. Aufl., § 338 Rn. 2). Hiervon darf nur abgesehen werden, sofern ein Einfluss des Verfahrensfehlers auf das Urteil denkgesetzlich ausgeschlossen ist (BGH, Beschluss vom 25. Juli 1995, NStZ 1996, 49; Urteil vom 28. Juli 2010, NStZ 2011, 233 [234]; Gericke, a.a.O., § 338 Rn. 5).

Eine Beschränkung des Umfangs der Aufhebung kann erfolgen, soweit sich der Verfahrensmangel nur in einem abtrennbaren Teil des Urteils auswirkt (BGH, Urteil vom 23. Oktober 2002, NStZ 2003, 218; Meyer-Goßner, a.a.O., § 338 Rn. 2).

bb) Vor dem Hintergrund der in dieser Weise ausgeformten gesetzlichen Beruhensvermutung des § 338 StPO erscheint die Bewertung des Oberlandesgerichts nicht mehr verständlich, der Schuldspruch bleibe hier von dem festgestellten, einen absoluten Revisionsgrund begründenden Verfahrensverstoß wegen des Inhalts des betroffenen Verfahrensabschnitts unberührt.

Allerdings kommt bei Verfahrensfehlern i.S.v. § 338 StPO, die nur die Erörterung von allein den Rechtsfolgenausspruch berührenden Fragen betreffen, eine Beschränkung des Umfangs der Aufhebung auf den Strafausspruch grundsätzlich in Betracht (BGH, Urteil vom 30. März 1983, NStZ 1983, 375). Dies mag im Regelfall auf die Vernehmung eines Angeklagten zu seinen persönlichen Verhältnissen zutreffen. Das Oberlandesgericht nimmt jedoch nicht in den Blick, dass hier im Rahmen seiner Vernehmung mit der zur Tatzeit bestehenden Hirntumorerkrankung des Beschwerdeführers auch ein Umstand erörtert wurde, für den offensichtlich nicht schon denkgesetzlich ausgeschlossen werden kann, dass er nicht allein für eine den Rechtsfolgenausspruch betreffende verminderte Schuldfähigkeit des Beschwerdeführers, sondern auch für dessen Schuld(un)fähigkeit und damit für den Schuldspruch Bedeutung erlangt (vgl. BGH, Beschluss vom 2. Januar 1990 – 1 StR 643/89 – juris). Sachliche Gründe für die gegenteilige Auffassung des Gerichts lassen sich der Entscheidung nicht entnehmen und sind auch sonst nicht erkennbar.

Insbesondere verwehrt es die gesetzliche Beruhensvermutung des § 338 StPO zu erwägen, ob – jenseits bereits denkgesetzlich ausschließbarer Erheblichkeit – auch ein rechtsfehlerfreies Verfahren nach den konkreten Umständen dieses Falles hinsichtlich des Schuldspruchs zu demselben Ergebnis geführt hätte.

2. Da der Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Dresden vom 17. Dezember 2012 schon wegen der Verletzung von Art. 18 Abs. 1 SächsVerf stattzugeben ist, kann dahinstehen, ob das Urteil darüber hinaus auch gegen andere Grundrechte verstößt.

III.
Gemäß § 31 Abs. 2 SächsVerfGHG ist das Urteil des Oberlandesgerichts Dresden vom 17. Dezember 2012 (3 Ss 518/12 [2]) aufzuheben, soweit es die weitergehende Revision des Beschwerdeführers als unbegründet verwirft; die Sache ist an das Oberlandesgericht Dresden zurückzuverweisen. Der auf die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers ergangene Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden vom 7. Februar 2013 wird mit der teilweisen Aufhebung des Urteils vom 17. Dezember 2012 gegenstandslos.

IV.
Nachdem die Verfassungsbeschwerde mit ihrem Hauptantrag Erfolg hat, ist über die hilfsweise gegen das Urteil des Landgerichts Leipzig vom 9. Januar 2012 sowie gegen das Urteil des Amtsgerichts Leipzig vom 18. Januar 2011 gerichteten Rügen nicht mehr zu entscheiden.

V.
Die Entscheidung ist kostenfrei (§ 16 Abs. 1 Satz 1 SächsVerfGHG). Der Freistaat Sachsen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten (§ 16 Abs. 3 SächsVerf-GHG).


Einsender: entnommen http://www.justiz.sachsen.de

Anmerkung:


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