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Entscheidungen

StPO

Sitzungshaftbefehl, Fortsetzungsfeststellungsinteresse, Begründung

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Berlin, Beschl. v. 10.10.2013 - 524 Qs 48/13

Leitsatz: Liegen die Voraussetzungen vor, nach denen Zwangsmittel gemäß § 230 StPO gegen den nicht erschienenen Angeklagten verhängt werden darf, muss, wenn das Gericht sofort zum Mittel des Haftbefehls greift, aus der Entscheidung deutlich werden, dass es eine Abwägung zwischen polizeilicher Vorführung und Haftbefehl vorgenommen hat.


Landgericht Berlin
Beschluss
Geschäftsnummer: 524 Qs 48/13
In der Strafsache gegen pp.
wegen Bedrohung
hat die 24. große Strafkammer des Landgerichts Berlin - Jugendkammer - am 10.10.2013 be-schlossen:
Auf die Beschwerde des Beschuldigten wird festgestellt, dass der Haftbefehl des Amtsgerichts Leipzig vom 26.07.2007 und der Haftverschonungsbeschluss des Amtsgerichts Halle vom 18. Juli 2008 rechtswidrig waren.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Beschuldigten insoweit entstandenen not-wendigen Auslagen fallen der Landeskasse Berlin zur Last.

Gründe:
Der Beschwerdeführer war vor dem Amtsgericht Leipzig — Jugendrichter — wegen Bedrohung in Tateinheit mit Beleidigung angeklagt worden. Zu dem Hauptverhandlungstermin am 26. Juli 2007 erschien er trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht. Das Amtsgericht erließ darauf einen Haftbefehl gemäß § 230 Abs. 2 StPO. Obwohl der damals Angeklagte — dem Gericht an 9. Juni 2008 telefo-nisch mitteilte, dass er von seinem Verteidiger von dem Haftbefehl erfahren habe und dass er zu einem neuen Verhandlungstermin auf alle Fälle erscheinen würde, blieb der Haftbefehl in der Vollstreckung. Der Beschwerdeführer wurde einen guten Monat nach diesem Telefonat, nämlich am 18. Juli 2007, festgenommen und am selben Tag durch Beschluss des Amtsgerichts Halle unter Aufrechterhaltung des Haftbefehls vom weiteren Vollzug verschont, wobei ihm das Gericht eine wöchentlich ;abzuleistende Meldeauflage erteilte. Das Verfahren wurde später nach Berlin abge-geben. Das Amtsgericht Tiergarten hob am 20. November 2008 den Haftbefehl und den Haftver-schonungsbeschluss auf und stellte am 6. Mai 2009 das Verfahren gemäß §§ 45, 47 JGG ein.

Die gegen den Haftbefehl erhobene Beschwerde ist zulässig, obwohl das Strafverfahren rechts-kräftig abgeschlossen und die angefochtenen gerichtlichen Entscheidungen bereits aufgehoben wurden. Denn bei tiefgreifenden Grundrechtseingriffen — wie im vorliegenden Fall in das der Frei-heit — besteht ein berechtigtes Interesse d-es Betroffenen, klären zu lassen, ob dieser Eingriff rechtmäßig war. Eine Haftbeschwerde darf in solchen Fällen nicht wegen prozessualer Überholung als unzulässig verworfen werden; vielmehr ist die Rechtmäßigkeit der zwischenzeitlich erledigten Maßnahme zu prüfen und ggf. deren Rechtswidrigkeit festzustellen. (vgl. BVerfG, Beschluss vom 31. 10. 2005 — 2 BvR 2233/04). Diese Grundsätze gelten auch für den Haftbefehl nach § 230 Abs. 2 StPO (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 123. Februar 2001 — 1 Ws 33/01).

Das Rechtsmittel ist auch begründet. Denn der vom Amtsgericht Leipzig verhängte Haftbefehl war unverhältnismäßig. Zwar lagen im vorliegenden Fall die Voraussetzungen vor, nach denen Zwangsmittel gemäß § 230 StPO gegen den nicht erschienenen Angeklagten verhängt werden durften. Denn er war - wie dieser selbst vorträgt - ordnungsgemäß geladen. Er hatte den Gerichts-termin versäumt, weil er ihn „vergessen" hatte. Jedoch besteht zwischen den in § 230 Abs. 2 StPO vorgesehenen Zwangsmitteln ein Stufenverhältnis, d.h. grundsätzlich ist zunächst das mildere Mit-tel — nämlich die polizeiliche Vorführung - anzuordnen. Ohne diese versucht zu haben, ist der Er-lass eines Haftbefehls nur in seltenen Ausnahmefällen verhältnismäßig; ein solcher liegt etwa dann vor, wenn feststeht, dass der Angeklagte auf keinen Fall erscheinen will (vgl. KG Beschluss vom 29. Juni 2012 — 4 Ws 69/12).

Wenn ein Gericht sofort zum Mittel des Haftbefehls greift, muss aus der Entscheidung deutlich werden, dass es eine Abwägung zwischen polizeilicher Vorführung und Haftbefehl vorgenommen hat. Die Gründe, warum ausnahmsweise sofort die Verhaftung des Angeklagten angeordnet wor-den ist, müssen in dem Beschluss aufgeführt werden. Das Amtsgericht hat seinerzeit keinerlei Ab-wägung vorgenommen. Dies hätte sich hier bereits deshalb aufgedrängt, weil der Beschwerdefüh-rer zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung noch Heranwachsender war. Es ist in dieser Altersgruppe ein nicht selten anzutreffender Umstand, dass Termine verschlampt oder vergessen werden, ohne dass dahinter eine grundsätzliche Ablehnung des Gerichtsverfahrens stehen würde. Dies müsste jedem Jugendrichter aus der täglichen Praxis hinlänglich bekannt sein.

Der angefochtene Haftbefehl leidet aber nicht nur an einem Erörterungsmangel. Aus dem Aktenin-halt ergibt sich darüber hinaus auch, dass die Anordnung der Haft nicht rechtmäßig war. Denn der Angeklagte war durchaus willens, an der Hauptverhandlung teilzunehmen: Bereits am 7. März 2007 hatte er telefonisch mitgeteilt, dass er die Anklageschrift erhalten habe. Er sei unschuldig (vgl. Bd. II, 245). Auch auf die Ladung reagierte er am 4. Juni 2007 telefonisch. Er bat darum, auf seine Schwester, die als Zeugin geladen worden war, zu verzichten, da er das in ihr Wissen Ge-stellte bestätigen könne. Außerdem bat er um einen Gesprächstermin bei der zuständigen Richte-rin (vgl. Bd. II, 249). Bereits aus diesen beiden Telefonaten wird ersichtlich, dass das Gericht nicht davon ausgehen durfte, dass der Angeklagte auf keinen Fall zu einem Termin erscheinen würde. Spätestens der Anruf vom 9. Juni 2008, in dem der Angeklagte noch einmal deutlich bekräftigte, dass er zu einem neuen Hauptverhandlungstermin auf jeden Fall - erscheinen würde, hätte das Amtsgericht veranlassen müssen, seinen Haftbefehl aufzuheben.

Auch andere Gründe (Zeugenschutz. Verfahrensökonomie), die möglicherweise den sofortigen Erlass eines Haftbefehls hätten rechtfertigen können, sind nicht ersichtlich. Denn das Verfahren war relativ übersichtlich. Dem Beschwerdeführer waren Vergehen zur Last gelegt worden. In dem Termin, in dem der Haftbefehl erging, war gleichzeitig die kommissarische Vernehmung der Zeu-gen angeordnet worden, die aus München oder Kiel nach Leipzig hätten anreisen müssen.

Die Landeskasse Berlin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Ausla-gen des Beschuldigten, weil sonst niemand dafür haftet.

Einsender:

Anmerkung:


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