Diese Homepage verwendet Cookies, um Inhalte und Anzeigen zu personalisieren, Funktionen für soziale Medien anbieten zu können und die Zugriffe auf die Website zu analysieren. Außerdem gebe ich Informationen zu Ihrer Nutzung meiner Website an meine Partner für soziale Medien, Werbung und Analysen weiter.

OK Details ansehen Datenschutzerklärung

Entscheidungen

StGB/Nebengebiete

Notwehr, Nothilfe, Erforderlichkeit, Hilfehandlung

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Hamm, Urt. 15.07.2013 - 1 RVs 38/13

Leitsatz: 1.Zu den Voraussetzungen einer Nothilfelage.
2. Ob die Verteidigungshandlung i.S.d. § 32 StGB erforderlich ist, hängt im Wesentlichen von Art und Maß des Angriffs ab. Dabei darf sich der Angegriffene grundsätzlich des Abwehrmittels bedienen, das er zur Hand hat und das eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr erwarten lässt. Das schließt auch den Einsatz lebensgefährlicher Mittel (im konkreten Fall: Schlag mit einem Bierglas gegen den Kopf) ein. Zwar kann dieser nur in Ausnahmefällen in Betracht kommen und darf auch nur das letzte Mittel der Verteidigung sein; doch ist der Angegriffene nicht genötigt, auf die Anwendung weniger gefährlicher Verteidigungsmittel zurückzugreifen, wenn deren Wirkung für die Abwehr zweifelhaft ist. Auf einen Kampf mit ungewissem Ausgang braucht er sich nicht einzulassen. Bei mehreren Einsatzmöglichkeiten des vorhandenen Abwehrmittels hat der Verteidigende nur dann das für den Angreifer am wenigsten gefährliche zu wählen, wenn ihm Zeit zum Überlegen zur Verfügung steht und durch die weniger gefährliche Abwehr dieselbe, oben beschriebene Wirkung erzielt wird.


Strafsache

In pp.
hat der 1. Strafsenat des OLG Hamm am 15.07.2013 für Recht erkannt:

Die Revision wird verworfen.

Die Kosten des Rechtsmittels und die dem Angeklagten im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen hat der Nebenkläger zu tragen.

Die Kosten der Revision der Staatsanwaltschaft einschließlich der insoweit entstandenen Auslagen hat die Landeskasse zu tragen.

Gründe
I.
Mit der zugelassenen Anklage waren dem (nunmehr allein im Verfahren verbliebenen) Angeklagten sowie dem früheren Mitangeklagten V Straftaten der Beleidigung und der gefährlichen Körperverletzung zur Last gelegt worden. Sie sollen (u.a.) am frühen Morgen des 07.06.2012 die Zeugen H (revidierender Nebenkläger) und U als "Kanaken" beschimpft und sodann der Angeklagte dem Nebenkläger mittels eines Bierkruges gegen den Kopf geschlagen haben. Das Amtsgericht sprach den früheren Mitangeklagten V frei. Den Angeklagten verurteilte es "wegen gefährlicher Körperverletzung in einem minderschweren Fall" zu einer Freiheitsstrafe von 4 Monaten, deren Vollstreckung es zur Bewährung aussetzte. Im Übrigen sprach es ihn frei.

Auf die Berufung des Angeklagten und der (zu seinen Lasten eingelegten) Berufung der Staatsanwaltschaft hat das Landgericht mit dem angefochtenen Urteil das amtsgerichtliche Urteil aufgehoben und den Angeklagten freigesprochen.

Nach den Feststellungen des Landgerichts kam es zu dem besagten Tatzeitpunkt zunächst zu einer verbalen Auseinandersetzung zwischen der aus dem Angeklagten, dem früheren Mitangeklagten V sowie weiteren Personen bestehenden Gruppe um den Angeklagten und den Zeugen H und U. Von wem diese ausging, konnte nicht geklärt werden. Weiter heißt es dann im angefochtenen Urteil:

"Jedenfalls riefen H und/oder U über die Straße hinweg zu den Personen um den Pkw in etwa sinngemäß, ob sie Ärger haben wollten.

Nicht ausschließbar fiel von ihrer Seite auch das Wort "Glatzen" oder "Scheiß-Glatzen" in Richtung der Personen um den Pkw. Der Zeuge Y, der sich im Bereich hinter dem Fahrzeugheck aufhielt, reagierte hierauf,indem er zu H und U zurückrief, was sie "Scheiß-Kanaken" hier wollten bzw. sie sollten sich in ihren "Kanakenladen" - gemeint war das "Z" - machen.

H und U , die V als den Rufenden wähnten, ließen die Sache nicht auf sich beruhen. Vielmehr querten sie nun die L ### und näherten sich der Gruppe, die um den Pkw stand. Dabei ging H vorneweg, wobei er weiterhin Rufe in Richtung der Gruppe, insbesondere in Richtung des ihnen am nahesten stehenden V richtete, ob sie Stress haben wollten und ob sie was auf die Fresse haben wollten. Es war die Rede davon, die Sache 1 zu 1 - gemeint ist im Kampf Mann gegen Mann - zu klären. Eine verbale Retoure seitens des Angeklagten und seiner Begleiter gab es hierauf nicht.

Zwischenzeitlich hatte der Zeuge X2 nach Einladen der Kleidung auf dem Fahrersitz des Wagens Platz genommen und wartete, dass die anderen mit Rauchen fertig sein und einsteigen würden. V stand auf der Fahrerseite direkt in der hinteren Fahrgasttüre; L2 stand immer noch mit dem Bierkrug in der Hand, vielleicht einen halben bis einen Meter entfernt von V, linksseitig Höhe Heckbereich des Pkw. Diese Position behielt er weiterhin bei. Die Zeugin X hatte sich während des Annäherns von H und U auf den Beifahrersitz gesetzt und - da sie Ärger infolge der Rufe des H befürchtete - forderte sie V auf schon mal einzusteigen. Die Zeugen X+X2 verfolgten das weitere Geschehen aus dem Pkw heraus. V folgte der Aufforderung einzusteigen zunächst und hatte hinter dem Fahrer Platz genommen, war aber dann, als H und U immer näher und direkt auf die Autotür zukamen, hinter der er saß, zügig wieder ausgestiegen, aus Sorge vor einem Angriff in das Auto hinein, dem er sich nicht entziehen könne. Er hatte nämlich beobachtet, dass H mit den Händen in der Tasche seiner Lederjacke kramte und zu den X und X2 im Aussteigen begriffen noch geäußert, der - gemeint war H - werde doch wohl kein Messer ziehen. V war kaum aus dem Fahrzeug heraus, als H unmittelbar vor ihm Halt machte und - U hielt sich dabei ein wenig hinter H - ihm unvermittelt mit der rechten Faust in einer Ausholbewegung von unten herauf ins Gesicht schlug. H traf V, da dieser mit einer Bewegung des Oberkörpers nach hinten rechts auswich, nur leicht im Bereich des linken Unterkiefers. Der Angeklagte L2, der diese körperliche Attacke mitbekommen hatte und seinen Bierkrug noch immer in der rechten (seiner Schlag-) Hand hielt, machte unmittelbar darauf einen Schritt auf V und H zu, so dass er quasi links neben V, der die Arme hochgerissen hatte, gelangte und an V vorbei dem immer noch direkt vor V stehenden H den Bierkrug in einer seitlich geführten Ausholbewegung gegen den Kopf schlug, um V zu helfen und weitere tätliche Attacken gegen diesen zu unterbinden. Der Krug traf H im Bereich des linken hinteren Oberkopfes, wo er eine 3 cm lange blutende Platzwunde verursachte. Nun schaltete sich auch U aktiv ein, in dem er L2 dort weg und zu Boden riss. Auch H war kurz zu Boden gegangen. Es kam zu einem kurzen Gerangel, in dessen Zuge U einen leichten Schlag abbekam - er vermutet von V."

Der Nebenkläger erlitt eine Platzwunde, die genäht werden musste, ein Hämatom und eine Gehirnerschütterung.

Das Landgericht hat zwar den Tatbestand einer gefährlichen Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB durch das Verhalten des Angeklagten als erfüllt angesehen. Es hat aber gemeint, dass dieser durch Nothilfe zu Gunsten des früheren Mitangeklagten V gerechtfertigt gewesen sei.

Gegen das freisprechende Urteil wendet sich nunmehr noch alleine der Nebenkläger mit dem Rechtsmittel der Revision, nachdem die Staatsanwaltschaft ihr zunächst eingelegtes Rechtsmittel zurückgenommen hat. Der Nebenkläger meint, dass eine Rechtfertigung wegen Nothilfe nicht vorläge. Zum Zeitpunkt des Schlages mit dem Bierkrug sei sein vermeintlicher Angriff bereits beendet gewesen. Zwischen seinem Schlag gegen V und dem Schlag mit dem Bierkrug habe eine deutliche zeitliche Zäsur bestanden. Nothilfe sei zudem angesichts der zuvor gefallenen beleidigenden Äußerungen aus der Gruppe um den Angeklagten auch nicht geboten gewesen. Der Angeklagte hätte ein weniger gefährliches Verteidigungsmittel wählen müssen.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das angefochtene Urteil mit den zu Grunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache an eine andere Strafkammer des Landgerichts Siegen zurückzuverweisen. Sie meint, dass die getroffenen Feststellungen den Freispruch nicht trügen. Feststellungen und Beweiswürdigung seien zu unvollständig, um eine revisionsgerichtliche Überprüfung des Tathergangs und der Notwehrlage zu ermöglichen. Dem Urteil ließe sich nicht entnehmen, warum das angewandte Maß an Einwirkung notwendig gewesen sein soll, einen bevorstehenden Angriff abzuwehren. Die Gegenwärtigkeit des Angriffs sei nicht festgestellt. Der erste Angriff des Nebenklägers sei beendet gewesen, ohne dass es objektive Anhaltspunkte für eine erneute Attacke gegeben hätte. Auch sei die gewählte Verteidigungshandlung nicht erforderlich gewesen.

II.
Die statthafte und zulässige (§§ 395, 400 Abs. 1 StPO) Revision des Nebenklägers ist unbegründet.

Die dem vom Landgericht festgestellten Tathergang zu Grunde liegende Beweiswürdigung selbst ist frei von Rechtsfehlern.

Die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte sei durch Nothilfe nach § 32 StGB gerechtfertigt, begegnet ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken.

1. Nach den rechtsfehlerfrei getroffenen - und damit für den Senat bindenden - Feststellungen des Landgerichts lag hier eine Nothilfelage vor. Der Angeklagte handelte, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von dem früheren Mitangeklagten V abzuwenden. Ein Angriff ist gegenwärtig, wenn eine Rechtsgutsverletzung unmittelbar bevorsteht (Fischer, StGB, 60. Aufl., § 32 Rdn. 17). Er bleibt gegenwärtig, solange die Gefahr einer Rechtsgutsverletzung oder deren Vertiefung andauert und noch abgewendet werden kann (BGH NStZ 2006, 152, 153 [BGH 09.08.2005 - 1 StR 99/05]; BGH 5 StR 404/06; OLG Koblenz, Beschl. v. 17.01.2011 - 2 Ss 234/10 - [...]).

So liegt der Fall hier. Zum Zeitpunkt seines Schlages mit dem Bierkrug musste der Angeklagte aufgrund des Verhaltens des Nebenklägers und des Zeugen U von weiteren Tätlichkeiten gegen V ausgehen. Der Schlag des Angeklagten mit dem Bierkrug erfolgte nach den Feststellungen des Landgerichts "unmittelbar" nach dem Angriff des Nebenklägers und nicht erst längere Zeit, nachdem dieser seinen Angriff bereits abgeschlossen hatte. Dies war auch - entgegen der Ansicht der Revision - ohne weiteres möglich, denn er befand sich in dessen unmittelbarer Nähe und musste nur einen Schritt auf den Nebenkläger zu machen.

Der Nebenkläger hatte zuvor die Straße in Richtung des V überquert und dabei gerufen, ob die Personen aus der Gruppe des Angeklagten "was auf die Fresse haben wollten". Er hat sich dann dem V genähert und zumindest versucht, die zunächst in Frageform gekleidete Drohung in die Tat umzusetzen. Angesichts dieses Vorverhaltens und angesichts des Umstandes, dass (UA S. 13) der Nebenkläger nach dem Schlag nicht von V zurückgewichen war und immer noch die Rückendeckung von U hatte, bestanden genügend objektive Anhaltspunkte für die zutreffende Wertung des Landgerichts, dass - auch ohne erneute bedrohende Gebärden des Nebenklägers (wenn sie denn überhaupt in diesem kurzen Zeitraum zwischen dem Angriff des Nebenklägers und dem Handeln des Angeklagten möglich waren) - eine Nothilfelage fortbestand, nämlich der Nebenkläger versuchen würde, seine angekündigte Drohung weiter in die Tat umzusetzen. Das Landgericht hat insoweit keineswegs - wie die Revision meint - auf eine "Gesamtkampfsituation" abgestellt, sondern entsprechend den höchstrichterlichen Vorgaben die einzelnen Handlungsabschnitte und die festgestellten Gewalthandlungen jeweils einer konkreten Betrachtung im Hinblick auf mögliche Nothilfelagen (vgl. BGH, Beschl. v. 17.06.2009 - 2 StR 105/09 - [...]) unterzogen.

2. Nach den getroffenen Feststellungen handelte der Angeklagte auch mit Verteidigungswillen.

3. Die Nothilfehandlung des Angeklagten war auch erforderlich i.S.d. § 32 Abs. 2 StGB. Ob die Verteidigungshandlung erforderlich ist, hängt im Wesentlichen von Art und Maß des Angriffs ab. Dabei darf sich der Angegriffene grundsätzlich des Abwehrmittels bedienen, das er zur Hand hat und das eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr erwarten lässt. Das schließt auch den Einsatz lebensgefährlicher Mittel ein. Zwar kann dieser nur in Ausnahmefällen in Betracht kommen und darf auch nur das letzte Mittel der Verteidigung sein; doch ist der Angegriffene nicht genötigt, auf die Anwendung weniger gefährlicher Verteidigungsmittel zurückzugreifen, wenn deren Wirkung für die Abwehr zweifelhaft ist. Auf einen Kampf mit ungewissem Ausgang braucht er sich nicht einzulassen. Bei mehreren Einsatzmöglichkeiten des vorhandenen Abwehrmittels hat der Verteidigende nur dann das für den Angreifer am wenigsten gefährliche zu wählen, wenn ihm Zeit zum Überlegen zur Verfügung steht und durch die weniger gefährliche Abwehr dieselbe, oben beschriebene Wirkung erzielt wird (BGH NStZ 2006, 152, 153 [BGH 09.08.2005 - 1 StR 99/05] m.w.N.; OLG Koblenz a.a.O.).

Der Schlag mit dem Bierglas ließ eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr erwarten. Der Angeklagte musste sich nicht auf ein bloßes Wegschubsen des Nebenklägers, einen Schlag mit seiner freien linken Hand (der Angeklagte ist Rechtshänder) oder darauf einlassen, zunächst das Bierglas aus der rechten Hand zu nehmen, um dann mit der bloßen Faust zuzuschlagen, oder vorher den Schlag mit dem Bierglas anzudrohen. Angesichts der Unmittelbarkeit der Gefahr eines weiteren Angriffs hätten schon diesbezügliche Überlegungen zu einer zeitlichen Verzögerung geführt, die womöglich eine erneute Attacke des Nebenklägers begünstigt hätten. Hinzu kommt, dass die dargestellten Alternativen, auch wenn der Nebenkläger von eher schmächtiger Natur ist, angesichts der Aggressivität seines bis dahin gezeigten Verhaltens und der Rückendeckung durch den Zeugen U in ihrer Geeignetheit zur sofortigen Beseitigung der Gefahr zweifelhaft gewesen wären.

4. Auch war die Handlung des Angeklagten als Nothilfehandlung geboten. Sein Handlungsspektrum war nicht dadurch eingeschränkt, dass es zuvor Beleidigungen in Richtung des Nebenklägers und des Zeugen U gegeben hatte. Die allein festgestellte Beleidigung durch Bezeichnung des Nebenklägers und des Zeugen U als "Kanaken" ging von dem Zeugen Y, nicht aber vom Angeklagten aus. Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Angeklagte den Zeugen Y zu diesen Äußerungen angestiftet, ihn sonst dabei unterstützt oder diese Äußerungen auch nur gebilligt hätte.

III.
Die Kostenentscheidungen beruhen auf § 473 Abs. 1 StPO. Über die Kosten der zurückgenommenen Revision der Staatsanwaltschaft konnte der Senat mitentscheiden (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., § 473 Rdn. 5).

Einsender:

Anmerkung:


zurück zur Übersicht

Die Nutzung von Burhoff-Online ist kostenlos. Der Betrieb der Homepage verursacht aber für Wartungs-, Verbesserungsarbeiten und Speicherplatz laufende Kosten.

Wenn Sie daher Burhoff-Online freundlicherweise durch einen kleinen Obolus unterstützen wollen, haben Sie hier eine "Spendenmöglichkeit".