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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidigerbestellung; Notwendigkeit, Jugendstrafverfahren, Schwere der Tat

Gericht / Entscheidungsdatum: KG, Beschl. v. 26. 11.2012 – (4) 161 Ss 226/12 (286/12)

Leitsatz: 1. Für die Beurteilung der Notwendigkeit der Pflichtverteidigerbestellung im Jugendstrafverfahren gelten die Grundsätze, die auch bei der Bestellung eines Pflichtverteidigers im Strafverfahren gegen Erwachsene gelten; den Besonderheiten des Jugendstrafverfahrens ist jedoch Rechnung zu tragen.
2. Für die Gewichtung des Tatvorwurfs ist auch im Jugendstrafrecht maßgeblich auf die zu erwartende Rechtsfolgenentscheidung abzustellen. Die Schwere der Tat gebietet die Beiordnung eines Pflichtverteidigers grundsätzlich auch im Jugendstrafrecht jedenfalls dann, wenn nach den Gesamtumständen eine Freiheitsentziehung von mindestens einem Jahr zu erwarten ist oder jedenfalls angesichts konkreter Umstände in Betracht kommt.

3. Eine Pflichtverteidigerbestellung ist nicht allein deshalb notwendig, weil Anklage vor dem Jugendschöffengericht erhoben worden oder überhaupt die Verhängung einer Jugendstrafe, deren Mindestmaß nach § 18 Abs. 1 Satz 1 JGG mit sechs Monaten deutlich über dem Mindestmaß der Freiheitsstrafe liegt, zu erwarten ist.


KAMMERGERICHT
Beschluss
Geschäftsnummer:
(4) 161 Ss 226/12 (286/12)

In der Strafsache gegen pp.
wegen Diebstahls
hat der 4. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin
am 26. November 2012 beschlossen:

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin – Jugendrichter - vom 27. Juli 2012 im Rechtsfolgenausspruch mit den dazugehörigen Feststellungen aufgehoben.

2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird nach § 349 Abs. 2 StPO mit der Maßgabe verworfen, dass der Angeklagte des Diebstahls in zwei Fällen schuldig ist.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Ver-handlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Jugendrichterabteilung des Amtsgerichts Tiergarten zurückverwiesen.

Gründe:
Das Amtsgericht Tiergarten in Berlin – Jugendrichter - hat den bis zum Urteilserlass nicht verteidigten Angeklagten am 27. Juli 2012 des „gemeinschaftlichen Diebstahls in zwei Fällen“ schuldig gesprochen und gegen ihn wegen schädlicher Neigungen eine Jugendstrafe von sechs Monaten verhängt. Die Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung der Jugendstrafe zur Bewährung wurde für die Dauer von sechs Monaten zurückgestellt.

Die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt, hat mit der Sachrüge in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang (vorläufigen) Erfolg.

1. Im Übrigen ist das Rechtsmittel mit der Maßgabe im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO unbegründet, dass die gemeinschaftliche Begehungsweise der festgestellten Diebstähle (§ 25 Abs. 2 StGB) in der Urteilsformel nicht aufgeführt wird.

a) Anders als die Teilnahmeform (Anstiftung, Beihilfe) ist im Entscheidungstenor nicht mitzuteilen, ob der Angeklagte als Allein- oder Mittäter gehandelt hat, da dies für die Kennzeichnung des begangenen Unrechts – Zweck der Urteilsformel (neben der Mitteilung der richterlich verhängten Rechtsfolgen) – ohne Bedeutung ist und die gemeinschaftliche Tatbegehung im Verhältnis zur Alleintäterschaft kein eigenes Unrecht darstellt (vgl. BGHSt 27, 287; Meyer-Goßner, StPO 55. Aufl., § 260 Rn. 24 m.w.N.). Der Senat hat den Schuldspruch daher insoweit klargestellt.

b) Die von dem Angeklagten erhobene Verfahrensrüge, mit der er die Verletzung des § 68 Nr. 1 JGG in Verbindung mit § 140 Abs. 2 StPO geltend macht, hat keinen Erfolg.

aa) Die Generalstaatsanwaltschaft hat insoweit zutreffend ausgeführt, es könne dahingestellt bleiben, ob die Rüge zulässig erhoben ist, „obwohl die Revision verschweigt, dass der Ange-klagte in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht einen Dol-metscher hatte, und dass die Sitzungsvertreterin der Staatsan-waltschaft bereits nur eine Verhängung einer sechsmonatigen Jugendstrafe beantragte, mithin nicht ersichtlich ist, dass die Verhängung einer höheren Jugendstrafe gedroht hätte.“

bb) Die Rüge ist jedenfalls unbegründet. Die Hauptverhandlung hat nicht in vorschriftswidriger Abwesenheit eines Verteidigers stattgefunden (§ 338 Nr. 5 StPO), denn die Voraussetzungen, unter denen dem Angeklagten ein Pflichtverteidiger hätte bestellt werden müssen, lagen nicht vor. Nach § 68 Nr. 1 JGG ist dem jugendlichen Angeklagten ein Pflichtverteidiger zu be-stellen, wenn einem Erwachsenen ein Verteidiger zu bestellen wäre. Für die Beurteilung der Notwendigkeit der Pflichtvertei-digerbestellung im Jugendstrafverfahren gelten daher zunächst die Grundsätze, die auch bei der Bestellung eines Pflichtver-teidigers im Strafverfahren gegen Erwachsene gelten. Liegen – wie hier – die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 StPO nicht vor, ist gemäß § 140 Abs. 2 StPO die Mitwirkung eines Verteidigers in der Hauptverhandlung und die Bestellung eines Pflichtverteidigers erforderlich, wenn wegen der Schwere der Tat oder der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Mit-wirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn er-sichtlich ist, dass sich der Angeklagte nicht selbst verteidi-gen kann. Entgegen der Auffassung der Revision ist § 68 Nr. 1 JGG nicht lediglich als Verweis auf den Wortlaut des § 140 Abs. 2 StPO selbst zu verstehen. Wäre dies Intention des Ge-setzgebers gewesen, hätte er den Text des § 68 Nr. 1 JGG ent-sprechend gefasst und § 140 StPO ausdrücklich in Bezug genom-men. In § 68 Nr. 1 JGG wird vielmehr hinsichtlich der Voraus-setzungen für eine Pflichtverteidigerbestellung uneingeschränkt auf das allgemeine Strafrecht verwiesen. Die zur näheren Konkretisierung und Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe des § 140 Abs. 2 StPO im Erwachsenenrecht ergangene Rechtsprechung findet daher auch im Jugendstrafrecht Anwendung; den Besonderheiten des Jugendstrafverfahrens ist jedoch Rechnung zu tragen.

Für die Gewichtung des Tatvorwurfs ist folglich auch im Ju-gendstrafrecht maßgeblich auf die zu erwartende Rechtsfol-genentscheidung abzustellen. Zu berücksichtigen sind aber auch die Verteidigungsfähigkeit des Angeklagten sowie sonstige schwerwiegende Nachteile, die er infolge der Verurteilung zu gewärtigen hat (vgl. OLG Saarbrücken, StV 2007, 9; OLG Köln, StraFo 2003,420 jeweils m.w.N.). Die Schwere der Tat gebietet danach die Beiordnung eines Pflichtverteidigers grundsätzlich auch im Jugendstrafrecht jedenfalls dann, wenn nach den Ge-samtumständen eine Freiheitsentziehung von mindestens einem Jahr zu erwarten ist oder jedenfalls angesichts konkreter Um-stände in Betracht kommt (vgl. Senat, Beschluss vom 7. April 2011 – 4 Ws 36/11 -; StV 1998, 325; OLG Hamm, StV 2009, 85; StV 2008, 120; NStZ-RR 2006, 26; NStZ 2004, 293; OLG Saarbrücken aaO; OLG Köln aaO; jeweils m.w.N.).

Entgegen den – dem Landgericht Gera (StV 1999, 654) folgenden – jüngeren Erwägungen des OLG Hamm (StV 2009, 85; StV 2008, 120; NStZ-RR 2006, 26; anders noch: NStZ 2004, 293) ist eine Pflichtverteidigerbestellung dagegen nicht allein deshalb not-wendig, weil Anklage vor dem Jugendschöffengericht erhoben worden oder überhaupt die Verhängung einer Jugendstrafe, deren Mindestmaß nach § 18 Abs. 1 Satz 1 JGG mit sechs Monaten deut-lich über dem Mindestmaß der Freiheitsstrafe liegt, zu erwarten ist (vgl. OLG Saarbrücken aaO). Zwar stellt, wie die Revision zu Recht vorträgt, für einen Jugendlichen jeder Vollzug einer Jugendstrafe regelmäßig einen erheblichen Eingriff dar. Allein dieser Umstand rechtfertigt es aber nicht, ohne entsprechende (Sonder-)Regelung im JGG von den vorzitierten Grundsätzen der obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen. Die nachteiligen Folgen, die bereits die Vollstreckung einer sechsmonatigen Jugendstrafe für einen jungen Menschen hat, sind vielmehr im Rahmen einer Gesamtschau neben den sonstigen schwerwiegenden Nachteilen, die der jugendliche (oder heranwachsende) Angeklagte in dem Strafverfahren zu erwarten hat, zu berücksichtigen. Letztlich kommt es dabei immer auf die Um-stände des Einzelfalls an (vgl. OLG Brandenburg, NStZ-RR 2002,184).

Bei der Straferwartung von einem Jahr handelt es sich danach nicht um eine starre Grenze, sondern es sind vielmehr auch sonstige Umstände zu berücksichtigen, die im Zusammenhang mit der verhängten bzw. drohenden Strafe dazu führen können, dass die Mitwirkung eines Verteidigers auch bei einer niedrigeren Strafe geboten erscheint. Neben der Frage eines möglichen Be-währungswiderrufs wegen der zu verhängenden Strafe können dabei auch, gerade im Jugendstrafrecht, andere Gesichtspunkte eine Rolle spielen. Denn gerade im Jugendstrafrecht ist wegen der in der Regel geringeren Lebenserfahrung des jugendlichen oder heranwachsenden Angeklagten und seiner daher größeren Schutzbedürftigkeit eher die Beiordnung eines Pflichtverteidi-gers erforderlich als im Erwachsenenstrafrecht (vgl. OLG Schleswig, StV 2009, 86; OLG Hamm, StV 2008, 120; NStZ-RR 2006, 26; OLG Karlsruhe, StV 2007, 3; OLG Saarbrücken, StV 2007, 9).

Bei wertender Betrachtung der besonderen Umstände des Einzel-falls und unter Berücksichtigung der Auswirkungen der Voll-streckung einer Jugendstrafe auf die persönliche Situation des jugendlichen Angeklagten war vorliegend die Mitwirkung eines Verteidigers nicht notwendig. Die Staatsanwaltschaft hat An-klage beim Jugendrichter erhoben und damit gerade nicht von vornherein zum Ausdruck gebracht, dass die Verhängung von Ju-gendstrafe unbedingt zu erwarten ist. Die konkrete Straferwar-tung lag hier ganz deutlich unterhalb der Jahresgrenze; sie hat sich mit der erstinstanzlichen Verurteilung bei sechs Monaten Jugendstrafe konkretisiert. Ein Bewährungswiderruf in anderer Sache aufgrund der Verurteilung in hiesigem Verfahren drohte dem bislang nicht zu Jugendstrafe verurteilten Angeklagten nicht. Auch die Auswirkungen, die eine – möglicherweise zu vollstreckende - Jugendstrafe auf den Angeklagten hat, und die mit ihr verbundenen Nachteile rechtfertigen die Annahme nicht, die Schwere der Tat würde die Pflichtverteidigerbestellung gebieten. Der Angeklagte, der zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung kurz vor Vollendung des 18. Lebensjahres stand, lebt gegenwärtig nicht in einem annähernd gefestigten sozialen Umfeld. Eine Schule oder Berufsausbildung besucht er nicht; die Teilnahme an einem Deutschkurs hat er abgelehnt. Die Verbüßung einer Jugendstrafe würde danach keinen so erheb-lichen, mit negativen Auswirkungen für seine soziale Integra-tion verbundenen Einschnitt in sein bisheriges Leben darstel-len, dass dieser Nachteil in Zusammenschau mit der konkreten Straferwartung die Beiordnung eines Pflichtverteidigers unter dem Gesichtspunkt der Schwere der Tat geboten hätte.

Die Sach- und Rechtslage war nicht schwierig im Sinne der Bei-ordnungsvorschriften. Dem geständigen Angeklagten lagen ledig-lich zwei Ladendiebstähle zur Last. Diese Vorwürfe betrafen einfache Sachverhalte, deren rechtliche Einordnung keine schwierigen Rechtsfragen aufwarf. Allein der Umstand, dass der unbestimmte Rechtsbegriff der schädlichen Neigungen von aus-schlaggebender Bedeutung ist für die Entscheidung, ob die Vo-raussetzungen der Verhängung einer Jugendstrafe vorliegen, macht die Sach- und Rechtslage nicht schwierig. Dies gilt ins-besondere, weil die Feststellung (auch) der Tatsachen, die den unbestimmten Rechtsbegriff ausfüllen können, dem zu Neutralität und Fürsorge für den jugendlichen Angeklagten verpflichteten Gericht obliegt.

Auch ist nicht ersichtlich, dass der Angeklagte wegen in seiner Person liegender Umstände nicht in der Lage gewesen wäre, sich selbst zu verteidigen. Sein Lebensalter bot für Zweifel an seiner Verteidigungsfähigkeit keinen Anlass. Die straf-rechtliche Verantwortlichkeit des Angeklagten stand nicht in Frage. Er hatte bereits eine Hauptverhandlung vor dem Jugend-richter erlebt und verfügte insoweit über eine gewisse Ge-richtserfahrung. Seine Sozialisation in Russland und sein zur Zeit der Hauptverhandlung erst relativ kurzer Aufenthalt in Deutschland bedingen entgegen der Revision keinesfalls das Fehlen eines gewissen Grundverständnisses für strafprozessuale Abläufe und möglicherweise drohende Rechtsfolgen. Auch in Russland ist der Ladendiebstahl eine Straftat, die eine straf-prozessuale Behandlung und staatliche Sanktionen nach sich zieht. Defizite in der Beherrschung der deutschen Sprache wur-den durch die Beiziehung eines Dolmetschers in der Hauptver-handlung ausgeglichen.

2. Hinsichtlich der Rechtsfolgenentscheidung hat die Revision des Angeklagten mit der Sachrüge (vorläufigen) Erfolg.

a) Unschädlich ist insoweit, dass der Angeklagte sein Rechts-mittel zunächst ausdrücklich als Berufung bezeichnet und erst mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 19. September 2012 – innerhalb der Revisionsbegründungsfrist - mitgeteilt hat, dass er das Rechtsmittel als Revision weiterführt. Es ist gefestigte Rechtsprechung, dass der Rechtsmittelführer, der in der Rechtsmitteleinlegungsfrist Berufung eingelegt hat, innerhalb der Revisionsbegründungsfrist des § 345 Abs. 1 StPO noch er-klären darf, von der ursprünglich gewählten Berufung zur Revi-sion überzugehen (vgl. OLG Hamm, StV 2008, 120 m.w.N.).

b) Der Rechtsfolgenausspruch des amtsgerichtlichen Urteils hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Generalstaatsanwalt-schaft hat diesbezüglich zutreffend ausgeführt:

„Der Jugendrichter hat die Verhängung einer Jugendstrafe auf die Erkennbarkeit schädlicher Neigungen gestützt.

Die Entscheidung für eine der im Jugendgerichtsgesetz vorge-sehenen Sanktionen unterliegt zwar grundsätzlich dem Ermessen des Tatrichters. Denn nur er ist in der Lage, sich in der Hauptverhandlung einen umfassenden Eindruck von der Tat und der Täterpersönlichkeit zu verschaffen und auf dieser Grund-lage die wesentlichen entlastenden und belastenden Umstände festzustellen, zu bewerten und gegeneinander abzuwägen. Gemäß den für die Überprüfung der Strafzumessung nach den allgemei-nen Vorschriften geltenden Maßstäben und aufgrund der Beson-derheiten des Jugendstrafrechts beschränkt sich die Prüfung durch das Revisionsgericht daher auf Rechtsfehler und die Be-achtung des im Jugendstrafrecht vorrangigen Erziehungsgedan-kens. Jedoch muss der Tatrichter seine Zumessungserwägungen in einem die Nachprüfung ermöglichenden Umfang darlegen; da-bei ist zu berücksichtigen, dass § 54 Abs. 1 JGG eine gegen-über § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO erweiterte Begründungspflicht enthält. Erforderlich sind danach eine sorgfältige Auseinan-dersetzung mit der Biographie des Angeklagten, eine Bewertung der Tat im Zusammenhang mit den Lebensverhältnissen des Ange-klagten sowie die Begründung der hiernach unter Berücksichti-gung ihrer Eingriffsintensität erforderlichen Rechtsfolgen, wobei die Anforderungen an die Begründung tendenziell mit der Eingriffsintensität der angeordneten Rechtsfolge ansteigen.

Unter schädlichen Neigungen sind erhebliche – seien es anla-gebedingte oder durch unzulängliche Erziehung oder Umweltein-flüsse bedingte – Mängel zu verstehen, die ohne längere Ge-samterziehung des Täters die Gefahr weiterer Straftaten in sich bergen, die nicht nur gemeinlästig sind oder den Charak-ter von Bagatelldelikten haben. Sie können in aller Regel nur dann bejaht werden, wenn erhebliche Persönlichkeitsmängel schon vor der Tat, wenn auch verborgen, angelegt waren. Zu verlangen ist weiter, dass die festgestellten Bildungs- und Sozialisationsdefizite nicht nur auf entwicklungsbedingten Reifungsverzögerungen, sondern auf erheblichen, schon verfes-tigten Persönlichkeitsmängeln beruhen, denen mit weniger ein-schneidenden Erziehungsmaßnahmen nicht wirksam begegnet wer-den könnte. Die festgestellten schädlichen Neigungen müssen schließlich sowohl bei der Tatbegehung als auch noch im Zeit-punkt der Entscheidung vorliegen und weitere Straftaten be-fürchten lassen, so dass sich eine nachträgliche Besserung zu Gunsten des Angeklagten auswirkt (vgl. KG, Beschluss vom 2. August 2012 – (4) 161 Ss 156/12 (191/12) - m.w.N.).

Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht ge-recht. Die Annahme von "schädlichen Neigungen" im Sinne des § 17 Abs. 2 JGG ist nicht rechtsfehlerfrei begründet. Der Ju-gendrichter hat diese lediglich darauf gestützt, dass der An-geklagte in kürzester Zeit wegen Diebstahls fünfmal auffällig geworden sei, sich bisher nicht integrationswillig zeigte und offenbar auch durch den gegen ihn vollstrecken Jugendarrest nicht beeindruckt werden konnte. Zwar kann die wiederholte Begehung von Straftaten des Diebstahls tragfähige Rückschlüs-se auf erhebliche Anlage- und Erziehungsmängel zulassen. Be-reits der Umstand dass alle Taten in einem Zeitraum vom 15. August 2011 bis zum 24. Januar 2012 begangen wurden, lässt es aber ohne weitere Erkenntnisse fraglich erscheinen, hieraus bereits auf einen verfestigten Persönlichkeitsmangel zu schließen, dem mit weniger einschneidenden Erziehungsmaßnah-men nicht wirksam begegnet werden könnte. Das Amtsgericht hätte zudem feststellen und darlegen müssen, dass die von ihm angenommenen schädlichen Neigungen nicht nur bei Begehung der Taten sondern auch noch im Zeitpunkt des Urteils vorlagen und deshalb weitere Straftaten des Angeklagten zu befürchten sind (vgl. KG, Beschluss vom 30. Juni 2010 - (1) 1 SS 239/10 (18/10) -). Hierbei ist zu besorgen, dass das Amtsgericht be-reits verkannt hat, dass die hier verfahrensgegenständlichen Taten bereits am 8. September und am 29. Oktober 2011 began-gen wurden, mithin noch vor dem Urteil vom 12. April 2012 und insbesondere vor der dortigen Vollstreckung des einwöchigen Jugendarrestes. Denn allein, dass der Angeklagte im Arrest den Arbeitsdienst verweigerte, lässt noch nicht den Schluss zu, dieser Arrest habe nicht zu einer positiven erzieheri-schen Wirkung geführt, welche die Verhängung von Jugendstrafe entbehrlich machte (vgl. KG wie vor). Soweit der Jugendrich-ter auf das frühere Verfahren bezüglich der am 15. August 2011 begangenen Diebstahlstat abgestellt hat, hat er sich bei seiner Entscheidung für die Verhängung von Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen zudem nicht in der gebotenen Weise mit den Grundlagen, Umständen und Auswirkungen dieses vorangegan-genen Verfahrens auseinandergesetzt. Will der Tatrichter bei seiner Rechtsfolgenentscheidung nicht lediglich die Warnwir-kung einer früheren Verurteilung oder eines früheren Verfah-rens, sondern darüber hinaus die Tatsache der Begehung einer früheren Straftat oder die Umstände ihrer Begehung zu Lasten des Angeklagten berücksichtigen, muss er diese feststellen. Das gilt insbesondere dann, wenn die Verhängung von Jugend-strafe wegen schädlicher Neigungen mit früheren Straftaten des Angeklagten begründet wird (vgl. KG, Beschluss vom 2. Au-gust 2012 – (4) 161 SS 156/12 (191/12) - m.w.N.). Da zudem unklar ist, wann die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Ber-lin über das Absehen von Strafe gem. § 45 JGG ergangen ist, bleibt auch offen, ob diesem Verfahren zumindest eine Warn-wirkung hätte zugesprochen werden können. Denn ohne nähere Ausführungen hierzu erschließt sich nicht, welche Warnwirkung ein nicht mit einer rechtskräftigen Verurteilung beendetes Strafverfahren gehabt hat (vgl. KG wie vor).

Das angefochtene Urteil leidet darüber hinaus an einem weite-ren Mangel. Beherrschender Strafzweck des Jugendstrafrechts ist der Erziehungsgedanke. Danach darf Jugendstrafe nur ver-hängt werden, wenn und soweit dies aus erzieherischen Gründen - noch - erforderlich ist. Für die rechtsfehlerfreie Anwen-dung des § 17 Abs. 2 JGG ist daher die zusätzliche Erörte-rung, ob die Verhängung von Jugendstrafe zur erzieherischen Einwirkung auf den geständigen Angeklagten geboten ist, uner-lässlich. Das Urteil muss erkennen lassen, welche konkreten erzieherischen Wirkungen von der Jugendstrafe ausgehen sollen (KG wie vor, m.w.N.). Daran fehlt es völlig.

Das angefochtene Urteil kann daher im Rechtsfolgenausspruch keinen Bestand haben.“

Diese Ausführungen folgen der Rechtsprechung des Kammerge-richts, an welcher der Senat festhält.

Das Urteil war hiernach gemäß § 349 Abs. 4 StPO im Rechtsfol-genausspruch mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufzu-heben und die Sache insoweit zu neuer Verhandlung und Ent-scheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Tiergarten – Jugendrichter – zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 StPO).

Einsender: RiKG Klaus-Peter Hanschke, Berlin

Anmerkung:


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