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Rechtsprechung

Aktenzeichen: 5 Ws 91/09 OLG Hamm

Leitsatz: Ein Rechtsmittelverzicht ist unwirksam, wenn er vom unverteidigten Angeklagten abgegeben wird, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers jedoch erforderlich war.
Zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers im JGG-Verfahren.

Senat: 5

Gegenstand: Beschwerde

Stichworte: Pflichtverteidiger; Rechtsmittelverzicht; Unwirksamkeit, JGG-Verfahren

Normen: StPO 140; StPO 302; JGG 68

Beschluss:

In pp.
hat der 5. Strafsenat des OLG Hamm am 26. 03. 2009 beschlossen:
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der notwendigen
Auslagen der Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last.
Gründe
I.
Die Angeklagte wurde durch Urteil des Amtsgerichts – Jugendschöffengericht – Bottrop vom 19. Dezember 2008 wegen gemeinschaftlichen Diebstahls in 3 Fällen, wobei es in einem Fall beim Versuch blieb, zu einer Jugendstrafe von 7 Monaten ohne Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls erklärte die anwaltlich nicht vertretene seinerzeit 19 Jahre und 3 Monate alte Angeklagte nach Belehrung über die Möglichkeit der Einlegung der Berufung und der Revision und über die Form- und Fristvorschriften, dass sie – wie auch der Vertreter der Staatsanwaltschaft – auf die Einlegung eines Rechtsmittels gegen das soeben verkündete Urteil verzichte. Diese Erklärung wurde ausweislich des Protokolls vorgelesen und genehmigt.

Mit am selben Tag bei dem Amtsgericht Bottrop eingegangenem Schriftsatz vom 23. Dezember 2008 meldete sich für die Angeklagte erstmals – unter Vorlage einer Vollmacht – der Verteidiger, der u. a. gegen das Urteil vom 19. Dezember 2008 Rechtsmittel einlegte und erklärte, für die Angeklagte als Pflichtverteidiger tätig werden zu wollen. Nach Zustellung des Urteils an den Verteidiger am 15. Januar 2009 beantragte der Verteidiger mit näheren Ausführungen die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, soweit dem eingelegten Rechtsmittel ein – seiner Auffassung nach unwirksamer – Rechtsmittelverzicht entgegenstehe.

Mit Beschluss vom 10. Februar 2009 hat die XVI. große Strafkammer – Jugendkammer – des Landgerichts Essen das Rechtsmittel der Angeklagten vom 23. Dezember 2008 gegen das Urteil des Jugendschöffengerichts Bottrop vom 19. Dezember 2008 sowie den Antrag auf Wiedereinsetzung den vorigen Stand als unzulässig verworfen.

Gegen diesen dem Verteidiger am 18. Februar 2008 zugestellten Beschluss wendet sich die Angeklagte durch ihren Verteidiger mit der sofortigen Beschwerde vom 19. Februar 2009, eingegangen bei dem Landgericht Essen am 25. Februar 2009, die mit Schriftsatz des Verteidigers vom 03. März 2009 mit näheren Ausführungen begründet worden ist.
II.
Die gem. § 322 Abs. 2 StPO statthafte sofortige Beschwerde ist zulässig und in der Sache auch begründet. Das Landgericht hat das als Berufung zu behandelnde Rechtsmittel der Angeklagten zu Unrecht als unzulässig verworfen, denn der von der seinerzeit nicht anwaltlich vertretenen Angeklagten in der Hauptverhandlung vor dem Jugendschöffengericht erklärte und im Protokoll beurkundete Rechtsmittelverzicht war unwirksam. Der Rechtsmittelverzicht steht mithin der Zulässigkeit des von dem alsdann beauftragten Verteidiger fristgerecht eingelegten Rechtsmittels nicht entgegen.

Zwar kann ein erklärter Rechtsmittelverzicht als Prozesshandlung grundsätzlich nicht widerrufen, angefochten oder sonst zurückgenommen werden. In der Rechtsprechung ist jedoch anerkannt, dass in besonderen Fällen schwerwiegende Willensmängel bei der Erklärung des Rechtsmittelverzichts aus Gründen der Gerechtigkeit dazu führen, dass eine Verzichtserklärung von Anfang an unwirksam ist (vgl. BVerfG NStZ-RR 2008, 209 m. zahlr. w. N., BGH NStZ-RR 1997, 173; NStZ 2000, 441); denn im Hinblick auf die Unwiderruflichkeit des Rechtsmittelverzichts kann es mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar sein, wenn der Angeklagte nur aus formellen Gründen an den äußeren Wortsinn einer Erklärung gebunden wird, der mit seinem Willen nicht Einklang steht (BVerfG a.a.O.).

Ein solcher Ausnahmefall wird u. a. dann angenommen, wenn entgegen § 140 StPO ein Verteidiger in der Hauptverhandlung nicht mitgewirkt hat und der Angeklagte unmittelbar nach der Urteilsverkündung auf Rechtsmittel verzichtet hat (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 51. Aufl., Rdnr. 24 zu § 302 m. w. N.). Der von einem Angeklagten in derartiger Weise abgegebene Rechtsmittelverzicht wird als unwirksam angesehen, weil sich der Angeklagte nicht mit einem Verteidiger beraten konnte, der ihn vor übereilten Erklärungen hätte abhalten können (vgl. Kammergericht NStZ-RR 2007, 209; Meyer-Goßner, a.a.O., Rdnr. 25 a zu § 302).

Im Jugendgerichtsverfahren ist dem Heranwachsenden gem. §§ 109 Abs. 1, 68 Nr. 1 JGG ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn die Bestellung auch für einen Erwachsenen geboten wäre. Hierin sieht die allgemeine Meinung eine Verweisung auf die Vorschrift des § 140 StPO (vgl. OLG Hamm, NStZ-RR 2006, 26, Strafverteidiger 2008, 120 jeweils m. w. N.). Danach ist die Mitwirkung eines Verteidigers in der Hauptverhandlung und die Bestellung eines Pflichtverteidigers erforderlich, wenn wegen der Schwere der Tat oder der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Angeklagte nicht selbst verteidigen kann. Die "Schwere der Tat", die sich vor allem nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung richtet, gebietet nach wohl überwiegender Meinung in der obergerichtlichen Rechtsprechung und der Auffassung in der Literatur (vgl. Meyer-Goßner, a.a.O., § 140 Rdnr. 23 ff. m. w. N.) die Beiordnung eines Pflichtverteidigers in der Regel dann, wenn eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr zu erwarten ist wobei die Strafgrenze keine starre Grenze ist, sondern auch sonstige Umstände zu berücksichtigen sind, die im Zusammenhang mit der verhängten oder drohenden Strafe dazu führen können, dass die Mitwirkung eines Verteidigers auch bei einer niedrigeren Strafe geboten erscheint. Für das Jugendrecht kann nichts anderes gelten; denn gerade im Jugendrecht ist wegen der in der Regel geringeren Lebenserfahrung des jugendlichen oder heranwachsenden Angeklagten und seiner daher größeren Schutzbedürftigkeit noch eher die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich als im Erwachsenenstrafverfahren. Ob die Beiordnung eines Pflichtverteidigers sogar schon dann erforderlich erscheint, wenn überhaupt Jugendstrafe droht, braucht vorliegend nicht entschieden zu werden, da vorliegend weitere Aspekte hinzu kommen: Neben der Tatsache, dass vorliegend Anklage beim Jugendschöffengericht erhoben und damit die Verhängung von Jugendstrafe zu erwarten war, ist eine immerhin neunmonatige Jugendstrafe ohne Bewährung von der Staatsanwaltschaft beantragt und eine siebenmonatige Jugendstrafe ohne Bewährung auch verhängt worden. Zudem liegen besondere Umstände in der Person der Angeklagten insoweit vor als die heranwachsende 19-jährige Angeklagte im Hauptverhandlungstermin vor dem Jugendschöffengericht ausweislich des Protokolls mitgeteilt hat, dass sie – was durchaus im Einklang mit dem Akteninhalt steht - heroinabhängig sei und täglich ein halbes Gramm Heroin benötige. Besonderheiten ergeben sich weiter aus dem Lebenslauf der Angeklagten, die bereits im Alter von gerade 15 Jahren Mutter eines Kindes geworden ist, im Folgenden mehrere Ausbildungen abgebrochen hat, zeitweise außerhalb des elterlichen Haushalts gelebt hat und beruflich nach wie vor in keiner Weise integriert ist. Bei Würdigung dieser Gesamtumstände ergibt sich, dass hier die Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Verfahren vor dem Jugendschöffengericht gemäß § 140 StPO i.V.m. §§ 109 Abs. 1, 68 Nr. 1 JGG geboten war. Aus Gründen der prozessualen Fürsorgepflicht war der Vorsitzende gehalten, der Angeklagten von Amts wegen einen Verteidiger beizuordnen, der ihr u.a. in der Hauptverhandlung beistehen und mit dem sie sich hätte beraten können.

Der unmittelbar nach Urteilsverkündung von der Angeklagten erklärte Rechtsmittelverzicht kann bei Würdigung der konkreten Prozesssituation und der Gesamtumstände in der Person der Angeklagten nicht als rechtswirksam erachtet werden. Vielmehr ergibt sich, dass massive Gründe für das Vorliegen schwerwiegender Willensmängel auf Seiten der Angeklagten bestehen, die nach den Grundsätzen des fairen Verfahrens und aus Gründen der Gerechtigkeit die Erklärung des Rechtsmittelverzichts als von Anfang an unwirksam erscheinen lassen.

Für die hier zu treffende Entscheidung konnte letztlich offen bleiben, ob bei der Abgabe des Rechtsmittelverzichts durch die Angeklagte – wie in der Beschwerdebegründung dargetan – für sie von maßgeblicher Relevanz war, dass der Staatsanwalt während der Urteilsberatung gegenüber der Angeklagten geäußert habe, er habe sich überlegt, angesichts der bevorstehenden Weihnachtszeit einen Haftbefehl zu beantragen, da zu befürchten sei, dass die Angeklagte aufgrund ihrer Betäubungsmittelabhängigkeit weitere Straftaten begehen könne. Wenngleich hierin in Anbetracht der konkreten Prozesssituation der Angeklagten und falls damit eine Einflussnahme auf sie zum Zwecke der späteren Abgabe eines Rechtsmittelverzichts beabsichtigt war, ein erheblicher Verstoß gegen die Grundsätze eines an Gerechtigkeit und Billigkeit orientierten Verfahrens zu sehen wäre, kam es für die hier zu treffende Entscheidung darauf nicht an.

Da der im Protokoll beurkundete Rechtsmittelverzicht mithin der Zulässigkeit des fristgerecht eingelegten Rechtsmittels nicht entgegensteht, war der angefochtene Beschluss aufzuheben.

Soweit sich die sofortige Beschwerde der Angeklagten dagegen richtet, dass der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand durch den angefochtenen Beschluss als unzulässig verworfen worden ist, geht die sofortige Beschwerde ins Leere.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 473 Abs. 4, 467 StPO analog.




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