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Rechtsprechung

Aktenzeichen: 2 Ws 121/08 OLG Hamm

Leitsatz: Zur Fluchtgefahr bei einem Angeklagten, der zu einer Freiheitsstrafe von Jahren verurteilt worden ist, wenn die Staatsanwaltschaft ihren Antrag auf Sicherungsverwahrung mit der Revision weiter verfolgt.


Senat: 2

Gegenstand: Beschwerde

Stichworte: Haftbefehl; Fluchtgefahr; hohe Freiheitsstrafe; Sicherungsverwahrung; Hauptverhandlung; Invollzugsetzung;

Normen: StPO 112

Beschluss:

Strafsache
gegen K.J.
wegen Vergewaltigung.

Auf die Haftbeschwerde des Angeklagten vom 12. März 2008 gegen den Beschluss des Landgerichts Hagen vom 06. Februar 2008 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 30. 04. 2008 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, die Richterin am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht beschlossen:

Die Haftbeschwerde wird auf Kosten des Angeklagten (§ 473 Abs. 1 StPO) verworfen.

Gründe:
I.
Gegen den Angeklagten ist ein Verfahren wegen Vergewaltigung anhängig. In diesem ist am 16. März 2006 gegen den Angeklagten ein Haftbefehl erlassen worden (54 Gs 139/06 AG Schwelm). Der Angeklagte ist am 17. März 2006 vorläufig festgenommen worden und hat sich dann bis zum 01. Juni 2006 in Untersuchungshaft befunden. Von dieser ist er durch Beschluss des Amtsgerichts Schwelm vom 01.06.2006 (54 Gs 139/06) verschont worden.

Am 15. November 2006 hat die Staatsanwaltschaft Hagen Anklage erhoben. Danach hat das Landgericht mit dem Beschluss vom 24. Juli 2007 den Haftbefehl neu gefasst und in Vollzug gesetzt. Der Angeklagte hat sich aufgrund dieses Beschlusses dann vom 03. August 2007 bis zum 16. August 2007 in Untersuchungshaft befunden. Am 16. August 2007 ist der Vollzug des Haftbefehls durch Beschluss des Landgerichts vom selben Tage ausgesetzt worden.

Die Strafkammer hat während laufender Hauptverhandlung am 18. Oktober 2007 den Haftbefehl sodann wieder in Vollzug gesetzt und auf den Haftgrund der Verdunklungsgefahr gestützt, weil der Angeklagte einen Zeugen beeinflusst hatte. Der Angeklagte befindet sich seit dem 18. Oktober 2007 nunmehr in Untersuchungshaft.

Er ist durch Urteil des Landgerichts vom 06. Februar 2008 wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren verurteilt worden. Mit Verkündung des Urteils ist der Haftbefehl des Amtsgerichts Schwelm vom 16. März 2006 von der Strafkammer neu gefasst und in Vollzug gesetzt sowie nach Maßgabe des Urteils aufrechterhalten worden. Als Haftgrund hat die Strafkammer Fluchtgefahr gem. § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO angenommen. Gegen das Urteil des Landgerichts Hagen haben sowohl der Angeklagte als auch die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt. Die Staatsanwaltschaft hat ihre Revision mit der materiellen Rüge begründet. Sie hatte in der Hauptverhandlung eine Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 9 Monaten und die Anordnung von Sicherungsverwahrung beantragt.

Der Angeklagte wendet sich nunmehr gegen den Beschluss vom 06. Februar 2008. Das Landgericht hat seiner Haftbeschwerde nicht abgeholfen. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Haftbeschwerde als unbegründet zu verwerfen.

II.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat ihren Verwerfungsantrag wie folgt begründet:

„Der dringende Tatverdacht gegen den Angeklagten ergibt sich aus dem Ermittlungsergebnis, das in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Hagen vom 15.11.2006 (Bl. 285 ff. Bd. II d. A.) zutreffend wiedergegeben wird. Dementsprechend ist das Landgericht Hagen durch Urteil vom 06.02.2008 zu der Überzeugung gelangt, dass der Angeklagte sich einer Vergewaltigung schuldig gemacht hat. Neue Tatsachen, die zu einer Entkräftung des dringenden Tatverdachts führen könnten, sind nicht bekannt geworden und werden von dem Angeklagten auch nicht vorgetragen.

Es besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Der Angeklagte ist zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden, die erfahrungsgemäß einen erheblichen Fluchtanreiz darstellt. Zwar vermag allein eine hohe Straferwartung die Fluchtgefahr im Sinne von § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO grundsätzlich nicht zu begründen (zu vgl. Senatbeschluss vom 27.11.1998 – 2 Ws 554/98 – m.w.N.; OLG Hamm, NStZ-RR 2000, 188). Vielmehr müssen bestimmte Tatsachen vorliegen, die den Schluss rechtfertigen, der Angeklagte werde dem in der hohen Straferwartung liegenden Fluchtanreiz nachgeben. Die Beurteilung der Fluchtgefahr erfordert die Berücksichtigung aller Umstände des Falles, wozu insbesondere die Lebensverhältnisse des Angeklagten und sein bisheriges Verhalten während des Verfahrens zählen (zu vgl. Senatsbeschluss vom 20.02.2003 – 2 Ws 55/03 – m. w. N.).

Die Gesamtschau aller Umstände des Einzelfalls führt vorliegend dazu, dass Fluchtgefahr besteht. Zwar ist zutreffend, dass der Angeklagte sich dem Verfahren bislang gestellt hat. Das Landgericht hat jedoch in dem Beschluss vom 31.03.2008 zutreffend ausgeführt, dass sich der Fluchtanreiz für den nach wie vor bestreitenden Angeklagten angesichts der nunmehr erfolgten Verurteilung zu einer erheblichen Freiheitsstrafe deutlich erhöht hat und demgegenüber tragfähige soziale Bindungen, die geeignet wären, die Fluchtgefahr auszuräumen, nicht erkennbar sind. So war die Beziehung des erheblich in Erscheinung getretenen, ledigen Angeklagten zu seinen Eltern ausweislich des psychiatrisch-psychologischen Gutachtens vom 30.09.2007 bislang von Konflikten und Kontaktabbrüchen gekennzeichnet (Bl. 470 ff. Bd. III d. A.).Soweit nunmehr Kontakte bestehen sollten, erscheinen diese danach nicht geeignet, einer Fluchtgefahr wirksam zu begegnen. Auch bestehen Zweifel an der Tragfähigkeit der Beziehung des Angeklagten zu seiner Lebensgefährtin. Insoweit hat er bei der Exploration am 03.12.2007 im Rahmen des psychiatrisch-psychologischen Ergänzungsgutachtens (Bl. 678 ff. Bd. III d. A.) angeführt, dass er wegen ihrer Kinder, die ihn zu sehr aufregen würden, getrennt von ihr lebe. Er habe mit ihr eher kulturelle Aktivitäten unternommen und zugleich – mit ihrem Einverständnis – Beziehungen zu anderen Frauen unterhalten. Eine nachhaltige, auf eine gemeinsame Lebensplanung gerichtete, fluchthindernde Bindung dürfte in diesem Zusammenhang kaum anzunehmen sein. Eine Arbeitsstelle steht ebenfalls nicht zur Verfügung. Darüber hinaus droht dem bereits erheblich in Erscheinung getretenen Angeklagten der Widerruf der durch Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Dortmund vom 27.09.2004 zur Bewährung ausgesetzten Restfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Siegen vom 29.04.1992 – KLs 15 Js 111/91 -. Nach alledem ist es – auch unter Berücksichtigung der auf die Strafe anzurechnenden Untersuchungshaft – wahrscheinlicher, dass der Angeklagte dem in dem konkreten Strafmaß liegenden Fluchtanreiz nachgeben und fliehen wird, als dass er sich dem weiteren Strafverfahren stellen wird.

Der Zweck der Untersuchungshaft lässt sich auch nicht mit weniger einschneidenden Maßnahmen nach § 116 ZPO erreichen.

Schließlich steht die bisher gegen den Angeklagten vollzogene Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Tatvorwürfe und der zu erwartenden langjährigen Freiheitsstrafe.“

Diesen Ausführungen tritt der Senat nach eigener Sachprüfung bei und weist ergänzend auf Folgendes hin:

Der dringende Tatverdacht gegen den Angeklagten ergibt sich nicht nur aus der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Hagen vom 15. November 2006, sondern auch aus dem inzwischen vorliegenden Urteil der Strafkammer vom 06. Februar 2008, dessen vollständige Begründung sich bei der Akte befindet. Aufgrund der dort von der Strafkammer getroffenen tatsächlichen Feststellungen und der Beweiswürdigung geht auch der Senat von dringendem Tatverdacht i. S. d. § 112 StPO aus. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Urteilsgründe des Urteils vom 06. Februar 2008 insoweit Bezug genommen. Diese macht sich der Senat zu eigen.

Auch der Senat ist von Fluchtgefahr i. S. d. § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO ausgegangen. Er macht sich insoweit die überzeugenden Ausführungen in der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft vom 21. April 2008 zu eigen. Der Senat setzt sich damit nicht in Widerspruch zu seiner bisherigen Rechtsprechung zur Fluchtgefahr und zur Invollzugsetzung eines während laufender Hauptverhandlung außer Vollzug gesetzten Haftbefehls. Zwar hat der Senat (vgl. u. a. StV 2003, 512) in der Vergangenheit bereits darauf hingewiesen, dass bei der Frage, ob ein außer Vollzug gesetzter Haftbefehl wieder nach § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO in Vollzug gesetzt werden kann, sämtliche Umstände abzuwägen und zu beurteilen sind, wobei der Höhe einer inzwischen durch Urteil verhängten Strafe zwar erhebliche Bedeutung zukomme, sie allein aber für die Wiederinvollzugsetzung nicht ausreichen wird. An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest. Vorliegend ist jedoch zu berücksichtigen und von entscheidender Bedeutung, dass der Angeklagte nicht nur zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren verurteilt worden ist, wobei der Senat nicht verkennt, dass der Angeklagte an der Hauptverhandlung teilgenommen und keine Anstalten gemacht hat, sich dem Verfahren zu entziehen. Andererseits kann jedoch vorliegend nicht verkannt werden, dass nicht nur der Angeklagte Revision gegen das Urteil eingelegt hat, sondern auch die Staatsanwaltschaft mit der von ihr eingelegten Revision ihren in der Hauptverhandlung gestellten Antrag, gegen den Angeklagten die Sicherungsverwahrung anzuordnen, weiter verfolgt. Dies ist ein erheblicher neuer Umstand, der die Invollzugsetzung des Haftbefehls rechtfertigt. Hinzu kommt, dass der Angeklagte angesichts seiner zahlreichen Vorverurteilungen auch nicht damit rechnen kann, dass, wenn keine Sicherungsverwahrung gegen ihn verhängt wird, er möglicherweise vorzeitig (§ 57 StGB) aus der Strafhaft entlassen wird.



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