Diese Homepage verwendet Cookies, um Inhalte und Anzeigen zu personalisieren, Funktionen für soziale Medien anbieten zu können und die Zugriffe auf die Website zu analysieren. Außerdem gebe ich Informationen zu Ihrer Nutzung meiner Website an meine Partner für soziale Medien, Werbung und Analysen weiter.

OK Details ansehen Datenschutzerklärung

aus ZAP 2025, 161

(Ich bedanke mich bei der Schriftleitung von "ZAP" für die freundliche Genehmigung, diesen Beitrag aus "ZAP" auf meiner Homepage einstellen zu dürfen.)

Verfahrenstipps und Hinweise für Strafverteidiger – 1. Halbjahr 2025

Von Rechtsanwalt Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

Inhaltsverzeichnis

I. Ermittlungsverfahren

  1. Erstreckung der Pflichtverteidigerbestellung auf das Adhäsionsverfahren

  2. Rechtsprechungsübersicht zur Pflichtverteidigung

II. Hauptverhandlung

  1. Rechtlicher Hinweis bei „besonderer Schwere der Schuld“?

  2. Genügend Vorbereitungszeit für das letzte Wort

  3. Befangenheit bei Ablehnung eines Verlegungsantrags

III. Rechtsmittelverfahren

  1. Verweigerung der Aufnahme der Rechtsmittelbegründung zu Protokoll der Geschäftsstelle

  2. Berufungsverwerfung trotz Vertretungsvollmacht?

I. Ermittlungsverfahren

1. Erstreckung der Pflichtverteidigerbestellung auf das Adhäsionsverfahren

Auch das OLG Bamberg hat inzwischen entschieden, dass sich die Pflichtverteidigerbestellung auf das Adhäsionsverfahren erstreckt (OLG Bamberg, Beschl. v. 5.9.2024 – 1 Ws 187/24). Ergangen ist der Beschluss, nachdem der Pflichtverteidiger beantragt hatte, für von ihm im Hinblick auf das Adhäsionsverfahren erbrachte Tätigkeiten eine Gebühr nach Nr. 4143 VV RVG sowie nach Nr. 1003 VV RVG festzusetzen. Die Rechtspflegerin hatte das abgelehnt, das OLG hat dem Pflichtverteidiger Recht gegeben.

Nach Auffassung des OLG (a.a.O.) erstreckt sich die Beiordnung des Pflichtverteidigers gem. § 140 Abs. 1 StPO auch auf die Vertretung des Angeklagten im Adhäsionsverfahren. An seiner früheren entgegenstehenden Rechtsauffassung (OLG Bamberg, Beschl. v. 22.10.2008 – 1 Ws 576/08 NStZ-RR 2009, 114) hat das OLG im Hinblick auf die Umsetzung der RL 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.10.2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie die Entscheidung des BGH v. 27.7.2021 nicht mehr festgehalten. Es hat sich vielmehr dem BGH (Beschl. v. 27.7.2021 – 6 StR 307/21, NJW 2021, 2901 = StraFo 2021, 473) und dessen Begründung angeschlossen (so auch schon OLG Brandenburg, Beschl. v. 24.1.2022 – 1 Ws 108/21, AGS 2022, 211; OLG Dresden, Beschl. v. 21.12.2023 – 2 Ws 298/23, AGS 2024, 90).

Für die hier auch geltend gemachte Nr. 1003 VV RVG ist hinzuweisen auf die Rspr. der OLG (OLG Hamm, Beschl. v. 7.3.2022 – 1 Ws 579/21, AGS 2022, 554; OLG Jena, AGS 2009, 587 = StRR 2010, 114 = NJW 2010, 455; OLG Nürnberg, RVGreport 2014, 72 = AGS 2014, 18 m. abl. Anm. N. Schneider = StraFo 2014, 37). Danach entsteht die Einigungsgebühr auch, wenn kein förmliches Adhäsionsverfahren nach § 404 StPO vorausgegangen ist.

2. Rechtsprechungsübersicht zur Pflichtverteidigung

Wir haben in der ZAP 2024, 283 über Rspr. zum (neuen) Recht der Pflichtverteidigung berichtet. Wir stellen nun weitere Rspr. vor. Die vorgestellten Entscheidungen stehen, soweit sie nicht auch in Fachzeitschriften veröffentlicht sind, weitgehend alle im Volltext auf der Homepage www.burhoff.de.

· Bestellung, Aufhebung

Gemäß § 143a Abs. 1 S. 1 StPO ist es – grds. zwingend – geboten, eine Pflichtverteidigerbestellung aufzuheben, wenn der Beschuldigte einen anderen Verteidiger gewählt und dieser zudem die Wahl angenommen hat. Eine Ausnahme besteht u.a., wenn zu besorgen steht, dass der neue Verteidiger das Mandat demnächst niederlegen und seine Beiordnung als Pflichtverteidiger beantragen wird (BGH, Beschl. v. 21.8.2024 – StB 47/24). Eine nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO erfolgte Pflichtverteidigerbestellung ist aufzuheben, wenn der Beschuldigte aus der Haft entlassen worden ist und die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO nicht vorliegen (zugleich auch zur Unfähigkeit der Selbstverteidigung LG Siegen, Beschl. v. 14.11.2024 – 10 Qs-69 Js 794/24-94/24; s. auch AG Siegen, Beschl. v. 24.10.2024 – 401 Ds-69 Js 794/24-745/24).

Der Beschluss, durch den eine Pflichtverteidigerbestellung aufgehoben worden ist, muss eine Begründung enthalten, damit für die Beschwerdekammer die Entscheidung des aufhebenden Gerichts entweder bezogen auf eine fehlerfreie Rechtsanwendung oder auf eine rechtsfehlerfreie Ermessensausübung nachprüfbar ist (LG Bonn, Beschl. v. 9.12.2024 - 63 Qs 77/24).

II. Hauptverhandlung

1. Rechtlicher Hinweis bei „besonderer Schwere der Schuld“?

Die mit der Hinweispflicht des Gerichts nach § 265 StPO zusammenhängenden Fragen spielen in der Rspr. des BGH eine nicht unerhebliche Rolle (eingehend zu § 265 StPO auch in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 11. Aufl. 2025, Rn 2172 ff. [im Folgenden kurz: Burhoff, HV]. Nun hat der BGH ein weiteres Mal dazu Stellung genommen und sich dabei insb. auch noch einmal zu den Auswirkungen des „Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens“ v. 17.8.2017 (BGBl I, S. 3202, 3210) geäußert.

Dem BGH, Beschl. v. 11.9.2024 (3 StR 109/24) lag folgender Sachverhalt zugrunde: Das LG hat den Angeklagten wegen Mordes zu einer lebenslangen Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt sowie die besondere Schwere der Schuld festgestellt. In rechtlicher Hinsicht hat das LG das festgestellte Tatgeschehen als Mord aus Habgier gem. § 211 Abs. 2 Alt. 3 StGB gewürdigt. In Abweichung zur ursprünglichen Anklage hat es hingegen das Mordmerkmal der Heimtücke (§ 211 Abs. 2 Alt. 5 StGB) nicht angenommen. Die Inbrandsetzung einer Wohnung hat es als Brandstiftung gem. § 306 Abs. 1 Nr. 1 StGB gewertet. Neben der Verhängung einer lebenslangen Gesamtfreiheitsstrafe hat das LG die besondere Schwere der Schuld gem. § 57a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB festgestellt. Einen Hinweis auf die mögliche Feststellung der besonderen Schuldschwere gem. § 57a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB enthielt weder die Anklage noch der Eröffnungsbeschluss. Während der Hauptverhandlung wies der Vorsitzende den Angeklagten darauf hin, dass anstelle einer Verurteilung wegen besonders schwerer Brandstiftung nach § 306a Abs. 1, § 306b Abs. 2 Nr. 2 StGB auch eine Verurteilung wegen Brandstiftung gem. § 306 Abs. 1 Nr. 1 StGB in Betracht komme, nicht aber auf die Möglichkeit der Feststellung der besonderen Schuldschwere. Diese beantragten auch weder der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft noch der Nebenklägervertreter in ihren Schlussvorträgen. Der Angeklagte hat mit der Verfahrensrüge geltend macht, dass aufgrund der Neufassung des § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO eine Pflicht des LG bestanden habe, auf die Feststellung der besonderen Schuldschwere hinzuweisen. Er habe aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls darauf vertrauen dürfen, dass § 57a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB nicht zur Anwendung komme. Der fehlende Hinweis sei zur genügenden Verteidigung erforderlich gewesen. Ferner ergebe sich die Hinweispflicht aus Art. 6 Abs. 3 Buchst. a und b EMRK sowie aus Art. 103 Abs. 1 GG.

Die Verfahrensrüge hatte keinen Erfolg. Nach Auffassung des BGH (a.a.O.) ist eine sich ggf. aus § 265 Abs. 1 und 2 StPO ergebende Hinweispflicht nicht verletzt. Auch eine analoge Anwendung des § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO scheide aus. Ferner sei durch die Verfahrensweise des LG weder das Recht des Angeklagten auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 3 Buchst. a und b EMRK) noch der Grundsatz des fairen Verfahrens (Art. 20 Abs. 3 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) verletzt.

§ 265 Abs. 1 StPO sei im Fall der Feststellung der besonderen Schwere der Schuld (§ 57a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB) bereits nach seinem Wortlaut nicht anwendbar (vgl. u.a. BGH, Beschl. v. 26.6.1996 – 1 StR 328/96, Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl. 2024, § 265 Rn 15a [im Folgenden kurz: Meyer-Goßner/Schmitt]; KK-StPO/Bartel, 9. Aufl. 2023, § 265 Rn 9; a.A. MüKo-StPO/Norouzi, Bd. 2, 2. Aufl. 2024, § 265 Rn 27, 29; BeckOK-StPO/Eschelbach, 53. Ed. [Stand: 1.10.2024], § 265 Rn 28; zweifelnd BGH, Beschl. v. 10.7.2002 – 1 StR 140/02). Denn die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld sei systematisch kein Teil der Entscheidung zu Schuld- und Strafausspruch. Sie sei vielmehr eine Entscheidung für das Vollstreckungsverfahren, die nach der Rspr. des BVerfG aus diesem herausgelöst und dem Tatgericht übertragen worden sei. Sie diene nicht der Bemessung der Sanktion, sondern der Vorbereitung einer Entscheidung über die Aussetzung ihrer weiteren Vollstreckung, die grds. dem Vollstreckungsgericht obliege (vgl. BGH, Beschl. v. 22.11.1994 – GSSt 2/94, BGHSt 40, 360, 366 f.; BGH, Urt. v. 4.7.2018 – 5 StR 46/18, NStZ 2018, 652, 653).

Weiterhin lasse sich aus § 265 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 StPO keine Pflicht zur Erteilung eines Hinweises auf § 57a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB entnehmen. Unter diese Regelung fallen – so der BGH – etwa Qualifikationen und Regelbeispiele für besonders schwere Fälle, nicht aber der Ausspruch über die besondere Schwere der Schuld (BGH, Beschl. v. 26.6.1996 – 1 StR 328/96; Urt. v. 2.2.2005 – 2 StR 468/04, StV 2006, 60, 61). Denn um die Entscheidung des Vollstreckungsgerichts über die Aussetzung der weiteren Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe vorzubereiten, habe das Tatgericht im Urteil die Umstände aufzuführen, die eine Beurteilung der Schuldschwere ermöglichen. Es habe diese Umstände abzuwägen, zu gewichten und danach zu entscheiden, ob die Schuld des Angeklagten besonders schwer wiegt. Dieser Beurteilungsvorgang entspreche damit in der Sache demjenigen, der bei den im StGB aufgeführten unbenannten besonders schweren Fällen stattfinde, für die § 265 Abs. 2 StPO ebenfalls nicht gelte (BGH, Beschl. v. 26.6.1996 – 1 StR 328/96; Meyer-Goßner/Schmitt, § 265 Rn 19; KK-StPO/Bartel, a.a.O., § 265 Rn 17). Auch aus der Neufassung des § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO folge nichts Anderes, da die hier allein in Betracht kommende Alt. 1 der vorgenannten Vorschrift unverändert geblieben sei.

Die Verfahrensweise des LG seien auch mit § 265 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. Abs. 1 StPO in der Fassung des „Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens“ v. 17.8.2017 (BGBl I, S. 3202, 3210) vereinbar. Durch diese Regelung sei die Hinweispflicht des § 265 Abs. 1 StPO auf Fälle erweitert worden, in denen sich in der Hauptverhandlung die Sachlage gegenüber der Schilderung des Sachverhalts in der zugelassenen Anklage ändert und dies zur genügenden Verteidigung vor dem Hintergrund des Gebots rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) und des rechtsstaatlichen Grundsatzes des fairen Verfahrens einen Hinweis erforderlich mache (vgl. BT-Drucks 18/11277, S. 37; BGH, Urt. v. 9.5.2019 – 1 StR 688/18, StV 2019, 818). Der Gesetzgeber hat insoweit an die st. Rspr. angeknüpft, wonach eine Veränderung der Sachlage eine Hinweispflicht auslöst, wenn sie in ihrem Gewicht einer Veränderung eines rechtlichen Gesichtspunkts gleichsteht (BT-Drucks 18/11277, S. 37). Die durch den BGH hierzu entwickelten Grundsätze sollten kodifiziert, noch weitergehende Hinweispflichten hingegen nicht eingeführt werden (vgl. BGH, Beschl. v. 10.4.2024 – 5 StR 85/24; v. 10.1.2024 – 6 StR 276/23, NJW 2024, 1594; v. 24.7.2019 – 1 StR 185/19). Vor diesem Hintergrund stehe bereits der Gesetzeswortlaut des § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO der Erforderlichkeit eines Hinweises auf die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld entgegen. Die Norm setze voraus, dass sich die Sachlage gegenüber der Schilderung des Sachverhalts in der zugelassenen Anklage geändert habe. Dies sei bei der Feststellung der besonderen Schwere der Schuld gem. § 57a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB nicht der Fall. Denn insoweit treffe das Tatgericht aus dem unverändert gebliebenen Tatsachenmaterial lediglich die von der Anklage abweichende rechtliche Beurteilung, wonach die Voraussetzungen der besonderen Schuldschwere erfüllt seien.

Nach Auffassung des BGH ist auch für eine analoge Anwendung des § 265 Abs. 2 Nr. 3 StPO kein Raum. Es fehlte an einer planwidrigen Regelungslücke. Dem Gesetzgeber sei bei der Neuregelung der Vorschrift durch Art. 3 Nr. 33 Buchst. a des „Gesetzes zur effektiven und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens“ v. 17.8.2017 (BGBl I, S. 3202) die Rspr. des BGH zur früheren Gesetzeslage bekannt gewesen (vgl. BT-Drucks 18/11277, S. 15, 37; s. auch BGH, Beschl. v. 22.10.2020 – GSSt 1/20, BGHSt 66, 20). Danach bestand keine Hinweispflicht auf die Feststellung der besonderen Schuldschwere nach § 57a Abs. 1 Nr. 2 StGB. In Kenntnis dessen habe der Gesetzgeber die Hinweispflicht nicht erweitert.

Schließlich gebot nach Ansicht des BGH auch weder das Recht des Angeklagten auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 3 Buchst. a und b EMRK) noch der Grundsatz des fairen Verfahrens (Art. 20 Abs. 3 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) eine Hinweispflicht (vgl. hierzu BGH, a.a.O.; s. auch BT-Drucks 18/11277, S. 37). Nach den insoweit geltenden Maßstäben sei die Feststellung der besonderen Schuldschwere für den Angeklagten – auch mit Blick auf die Besonderheiten des Falles – hier nicht überraschend. Ihm sei in der Anklage die Erfüllung zweier Mordmerkmale sowie die Begehung eines weiteren tatmehrheitlich begangenen Verbrechens zur Last gelegt worden. Bereits hierdurch sei für den verteidigten Angeklagten erkennbar gewesen, dass eine Verurteilung wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe konkret drohte und das Gericht daher auch eine Entscheidung über die besondere Schwere der Schuld zu treffen hatte (vgl. BGH, Urt. v. 2.2.2005 – 2 StR 468/04, StV 2006, 60, 61; Beschl. v. 26.6.1996 – 1 StR 328/96; LR/Stuckenberg, StPO, 27. Aufl. 2024, § 265 Rn 32). In Anbetracht dessen habe auch der Inhalt des erteilten Hinweises sowie der Schlussplädoyers kein besonderes Vertrauen beim Angeklagten begründen können, dem durch eine gerichtliche Hinweispflicht Rechnung zu tragen gewesen wäre.

2. Genügend Vorbereitungszeit für das letzte Wort

In einem Beschl. v. 18.4.2024 – hat der BGH (6 StR 545/23) mal wieder die herausragende Bedeutung des letzten Wortes (§ 258 StPO), dem in der Rspr. des BGH eine erhebliche Bedeutung zukommt, betont. Nach dem Sachverhalt war der Angeklagte vom LG wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von fünf Jahren verurteilt worden. Mit seiner Rüge rügt der Angeklagte eine Verletzung des § 258 Abs. 1 StPO. Dem lag folgender Verfahrensgang zugrunde: Dem Angeklagten war mit der Anklageschrift versuchter Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil des Adhäsionsklägers H. und gefährliche Körperverletzung zum Nachteil einer weiteren Geschädigten vorgeworfen worden. Der Strafkammervorsitzende terminierte die Hauptverhandlung auf drei Sitzungstage. Am zweiten Sitzungstag erteilte der Vorsitzende um 14.47 Uhr einen rechtlichen Hinweis; demzufolge sollte hinsichtlich der Tat zum Nachteil des Adhäsionsklägers auch eine Verurteilung wegen „tateinheitlichen versuchten Mordes gem. § 211 Abs. 2 Alt. 4 und 5 – sonstiger niedriger Beweggrund bzw. Heimtücke – in Betracht kommen. Die Vorschrift wurde verlesen, ein Haftbefehl verkündet und der Angeklagte um 14.56 Uhr im Saal verhaftet. Im Haftbefehl wurde der Tatvorwurf zu Fall 1 der Anklageschrift dahin konkretisiert, dass der Angeklagte die ihm zur Last gelegten Messerstiche in Richtung des Oberkörpers des sich „keines Angriffs versehenen und deshalb wehrlosen“ Adhäsionsklägers geführt habe. Ein vom Verteidiger daraufhin gestellter Aussetzungsantrag, gestützt auf die wegen des verschärften Tatvorwurfs notwendige Vorbereitungszeit, wurde zurückgewiesen und auch die hilfsweise begehrte Unterbrechung für die Dauer von einer Woche abgelehnt. Es seien keine neuen Tatsachen oder tatsächlichen Verhältnisse in der Hauptverhandlung aufgetreten, die der Angeklagte nicht bereits der Anklageschrift oder dem Eröffnungsbeschluss habe entnehmen können. Die Hauptverhandlung wurde um 15.16 Uhr bis zum nächsten Sitzungstag unterbrochen.

Am Morgen des folgenden Tages wurde die Hauptverhandlung fortgesetzt. Nach weiteren Beweiserhebungen, insb. Vernehmungen von Zeugen und Sachverständigen, wurde die Beweisaufnahme „im allseitigen Einverständnis“ geschlossen. Der Verteidiger beantragte um 14.15 Uhr zur Vorbereitung auf den Schlussvortrag eine Unterbrechung der Hauptverhandlung bis zu einem weiteren, noch abzustimmenden Sitzungstag. Er sehe sich eingedenk des Verfahrensablaufs, namentlich des gerichtlichen Hinweises, der Verhaftung seines Mandanten im Sitzungssaal und der bis 14.10 Uhr durchgeführten Beweisaufnahme nicht in der Lage, sachgerecht zu plädieren. Den Antrag wies der Vorsitzende unter Hinweis auf die Gründe der abgelehnten Aussetzung vom vorangegangenen Sitzungstag zurück. Es seien „netto drei Stunden“ verhandelt worden, sodass keine Gründe ersichtlich seien, die einen Schlussvortrag nicht zuließen. Diese Anordnung wurde von der Kammer sodann bestätigt. Nach den Schlussvorträgen wurde das angefochtene Urteil verkündet.

Die mit der Revision des Angeklagten erhobene Verfahrensrüge der Verletzung des § 258 Abs. 1 StPO war nach Auffassung des BGH (a.a.O.) begründet. Auf die ebenfalls beanstandeten mehrfachen Verletzungen des § 265 Abs. 1 StPO kam es deshalb ebenso wie auf die sachlich-rechtlichen Beanstandungen nicht an. Zur Begründung führt der BGH (a.a.O.) aus: Der Angeklagte erhalte durch § 258 Abs. 1 StPO das Recht, nach Beendigung der Beweisaufnahme und vor der endgültigen Entscheidung des Gerichts zum gesamten Sachverhalt und zu allen Rechtsfragen des Verfahrens Stellung zu nehmen. Die Vorschrift diene damit unmittelbar der Gewährleistung des durch Art. 103 Abs. 1 GG garantierten Anspruchs auf rechtliches Gehör (vgl. BVerfGE 54, 140, 141 f.; Dürig/Herzog/Scholz/Remmert, GG, 104. EL [Stand: April 2024], Art. 103 Abs. 1 Rn 66). Zur Ausübung dessen könne der Angeklagte sich – wie in § 258 Abs. 3 StPO vorausgesetzt – eines Verteidigers bedienen (vgl. KK-StPO/Tiemann, a.a.O., § 258 Rn 5). Dieses Recht erschöpfe sich aufgrund seiner überragenden Bedeutung nicht in der bloßen Möglichkeit zur Äußerung; vielmehr müsse den Verfahrensbeteiligten eine wirksame Ausübung ermöglicht werden (vgl. BeckOK-StPO/Eschelbach, 53. Ed. [Stand: 1.10.2024], § 258 Rn 14; MüKo-StPO/Niehaus, a.a.O., § 258 Rn 7). Das Gericht sei daher dazu verpflichtet, angemessene Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Verfahrensbeteiligten einen Schlussvortrag in der Weise halten können, wie sie ihn für sachdienlich erachten (vgl. BGH, Beschl. v. 21.3.1989 – 5 StR 120/88 und v. 24.1.2023 – 3 StR 80/22, NStZ 2023, 437).

Dabei stehe es indes nicht im Belieben der Verfahrensbeteiligten, ob und in welchem Umfang eine Vorbereitungszeit zu gewähren sei. Was dazu erforderlich sei, bestimme sich vielmehr nach den Umständen des Einzelfalls. Danach könne es je nach Umfang und Dauer der Hauptverhandlung sowie dem konkreten Prozessverlauf notwendig sein, zur Ausarbeitung der Schlussvorträge eine angemessene Vorbereitungszeit einzuräumen (vgl. BGH, Beschl. v. 21.3.1989 – 5 StR 120/88; v. 11.5.2005 – 2 StR 150/05, NStZ 2005, 650; v. 24.1.2023 – 3 StR 80/22, NStZ 2023, 437; LR/Esser, a.a.O., Art. 6 EMRK Rn 887 m.w.N.). Ob und ggf. in welchem Umfang diese zu gewähren sei, habe das Tatgericht nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, wenn die Verfahrensbeteiligten eine Vorbereitungszeit verlangen. Für die Beurteilung der Angemessenheit derselben könne neben der Komplexität und dem Umfang der Sach- und Rechtslage insb. auch relevant sein, dass die Verfahrensbeteiligten bereits zuvor auf den anstehenden Schluss der Beweisaufnahme hingewiesen worden seien oder aus anderen Gründen damit rechnen mussten, ihre Plädoyers halten zu müssen (vgl. dazu BGH, Beschl. v. 21.3.1989 – 5 StR 120/88); in diesem Fall können sie die Zeit zwischen den Hauptverhandlungsterminen bereits zur Vorbereitung ihrer Vorträge und ggf. erforderlichen Besprechung und Abstimmung mit dem Mandanten nutzen, sodass die Notwendigkeit einer (weiteren) Unterbrechung ganz entfallen oder jedenfalls ihre Dauer kürzer zu bemessen sein kann (vgl. BGH, Beschl. v. 24.1.2023 – 3 StR 80/22, a.a.O.).

Die vollständige Versagung einer Vorbereitungszeit erweise sich hier als rechtsfehlerhaft. Zwar hätten die Verfahrensbeteiligten ursprünglich davon ausgehen können, dass am letzten von drei terminierten Hauptverhandlungstagen die Beweisaufnahme geschlossen wird und die Schlussvorträge zu halten sind. Da aber entgegen der Ladungsverfügung (§ 214 Abs. 1 StPO) am letzten Sitzungstag ab 9.30 Uhr u.a. mehrere Zeugen und zwei Sachverständige vernommen wurden, habe die Strafkammer von den Verfahrensbeteiligten nicht bereits wegen der ursprünglichen Terminierung verlangen dürfen, unmittelbar nach dem Schluss der Beweisaufnahme den Verfahrensstoff sachgerecht aufbereitet zu haben (vgl. BGH, Beschl. v. 21.7.2020 – 5 StR 236/20, NStZ 2021, 56). Dies gelte erst recht mit Blick darauf, dass der Angeklagte erst am Ende des zweiten von drei Sitzungstagen auf den gravierend verschärften Tatvorwurf des versuchten Mordes hingewiesen und zeitgleich im Saal verhaftet worden war.

Unvertretbar sei aber die Versagung jedweder Unterbrechung jedenfalls in der Zusammenschau mit der Bedeutung der Aussage des am letzten Sitzungstag vernommenen Zeugen B. gewesen. Dessen Angaben seien nicht allein für den Tötungsvorsatz bedeutsam gewesen; besondere Relevanz sei ihnen ausweislich der Urteilsgründe und der Anklageschrift für das Tötungsmotiv zugekommen. Damit habe ein unmittelbarer Zusammenhang zu dem Hinweis auf eine Verurteilung des Angeklagten wegen des höchststrafwürdigen Tötungsverbrechens eines versuchten Mordes aus niedrigen Beweggründen (§ 211 Abs. 2 StGB) bestanden, der trotz der seit der Anklageerhebung unveränderten Sachlage erst tags zuvor erteilt worden sei.

Hinweis:

Auf Verletzungen des Rechts auf das letzte Wort reagiert der BGH i.d.R. empfindlich. Dabei geht es – so auch hier – nicht nur darum, dass dem Angeklagten und/oder dem Verteidiger für ihn überhaupt das letzte Wort gewährt worden ist. Sondern: Es muss auch ausreichend Vorbereitungszeit eingeräumt worden sein. Die hängt zwar, was auch zutreffend ist, von den jeweiligen Umständen des Falles ab. Aber man fragt sich, wie die Strafkammer hier auf die Idee kommen konnte, dass ausreichend Zeit gewährt worden war. In dem Zusammenhang ist nicht nur der erst am Vortag erteilte rechtliche Hinweis, der zu einer erheblichen Verschärfung des Vorwurfs gegenüber dem Angeklagten geführt hatte, zu berücksichtigen, sondern auch, dass am letzten Verhandlungstag unmittelbar vor dem Schluss der Beweisaufnahme noch ein Zeuge vernommen worden war, dessen Aussage für den Ausgang des Verfahrens erhebliche Bedeutung hatte. Warum man dann über den Antrag des Verteidigers „hinweg bügelt“, erschließt sich nicht. Dem BGH scheint dabei besonders „sauer aufzustoßen“, dass der rechtliche Hinweis (§ 265 StPO) „trotz der seit der Anklageerhebung unveränderten Sachlage erst tags zuvor erteilt worden“ ist. Der Entscheidung ist m.E. deutlich anzumerken, dass ihm die Eile, die die Strafkammer an den Tag legt, – zu Recht – missfällt.

Der Verteidiger hat im Übrigen alles richtig gemacht. Er hat, was sich aus den Urteilsgründen ergibt, nach Ablehnung seines Unterbrechungsantrags durch den Vorsitzenden gem. § 238 Abs. 2 StPO die Entscheidung beanstandet und damit den gem. § 338 Nr. 8 StPO erforderlichen Gerichtsbeschluss herbeigeführt (vgl. dazu Burhoff, HV, Rn 3502 ff. m.w.N.).

3. Befangenheit bei Ablehnung eines Verlegungsantrags

Die Ablehnung eines Terminverlegungsantrags, begründet regelmäßig nicht die Besorgnis der Befangenheit. Anders liegt es nur dann, wenn erhebliche Gründe für eine Terminverlegung offensichtlich vorliegen, die Zurückweisung des Antrags für die betreffende Partei schlechthin unzumutbar wäre und somit deren Grundrecht auf rechtliches Gehör verletzte oder sich aus der Ablehnung der Terminverlegung der Eindruck einer sachwidrigen Benachteiligung einer Partei aufdrängt. Darauf hat jetzt das AG Wuppertal (Beschl. v. 21.11.2024 – 24 Cs 224/24) hingewiesen.

Folgender Sachverhalt: Dem Angeklagten wird in dem Verfahren unerlaubtes Entfernen vom Unfallort (§ 142 StGB) zur Last gelegt. Die Amtsrichterin bestimmte am 23.10.2024 Termin zur Durchführung der Hauptverhandlung auf Dienstag, den 12.11.2024. Das persönliche Erscheinen des Angeklagten wurde angeordnet. Dem Verteidiger wurde (erst) am 4.11.2024 auf seinen Antrag v. 23.9.2024 Akteneinsicht in die über 250-seitige Akte gewährt. Am 4.11.2024 hat der Verteidiger dann beantragt, den Termin zu verlegen. Zur Begründung hat er vorgetragen und anwaltlich versichert, die Ehefrau des Angeklagten habe ihm mitgeteilt, ihr Mann befinde sich seit dem 3.11.2024 im Klinikum in stationärer Behandlung. Wann er entlassen werde, sei unklar. Zugleich wies der Verteidiger darauf hin, dass eine angemessene Vorbereitung der Akte und eine Besprechung mit dem Mandanten vor dem Termin nicht möglich sei. Dem Schriftsatz war eine Bescheinigung des Krankenhauses über die stationäre Aufnahme des Angeklagten zum 3.11.2024 beigefügt.

Mit Verfügung v. 5.11.2024 wurde dem Verteidiger von der Amtsrichterin mitgeteilt, dass der Termin bestehen bleibe. Eine Verlegung könne nur erfolgen bei Vorlage eines Attestes über die Verhandlungsfähigkeit am Terminstage. Am 6.11.2024 teilte der Verteidiger mit, dass die Klinik auf seine Anfrage mitgeteilt habe, dass diese keine Bescheinigung über die Verhandlungsunfähigkeit ausstellen würde. Eine vom Verteidiger angekündigte Rücksprache kam in der Folge nicht zustande, da die Amtsrichterin nicht erreichbar war. Am 8.11.2024 hat der Verteidiger um Aufhebung des Termins gebeten mit dem Hinweis, dass eine Entlassung des Angeklagten bis zum Terminstage nicht erfolgen könne. Hierzu reichte er eine weitere Bescheinigung des Klinikums ein, aus der sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass eine rechtzeitige Entlassung vor dem Termin nicht erfolge. Auch wies er in diesem Schriftsatz auf den Grundsatz des fairen Verfahrens hin, da er den Sachverhalt mit dem Mandanten vor dem Termin nicht besprechen könne. Die Amtsrichterin hat mit Beschl. v. 8.11.2024 den Verlegungsantrag zurückgewiesen. Das hat sie im Wesentlichen damit begründet, dass immer noch kein Attest für den Terminstag vorliege.

Der Verteidiger hat dann am 11.11.2024 im Namen des Angeklagten die zuständige Amtsrichterin wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Dies hat er u.a. damit begründet, dass die abgelehnte Terminverlegung gegen die Grundsätze des fairen Verfahrens verstoße.

Das Ablehnungsgesuch hatte Erfolg. Das AG Wuppertal (a.a.O.) hat einen Ausnahmefall, wann nämlich die Ablehnung eines Terminsverlegungsantrags die Besorgnis der Befangenheit aufgrund einer Gesamtbetrachtung und Gesamtwürdigung des Sachverhalts bejaht. Der Verteidiger habe erhebliche und nachvollziehbare Gründe für seinen Terminverlegungsantrag vorgetragen und die Tatsachen anwaltlich versichert. Es sei nach dem Akteninhalt zweifelsfrei, dass der Angeklagte ab dem 3.11.2024 in stationärer Behandlung im Krankenhaus gelegen habe. Auch habe die Klinik mitgeteilt, dass eine rechtzeitige Entlassung nicht erfolgen könne. Hinzukomme, dass der Verteidiger erst nach über sechs Wochen am 4.11.2024 Akteneinsicht erhalten habe. Eine Besprechung mit dem Mandanten, dessen persönliches Erscheinen angeordnet gewesen sein, sei vor dem Termin daher nicht möglich gewesen. Unter dem Gesichtspunkt des fairen Verfahrens und des Rechts des Betroffenen, sich von einem Verteidiger sachgemäß vertreten zu lassen, sei die Zurückweisung des – erstmaligen – Antrags auf Terminverlegung für den Angeklagten schlechthin unzumutbar, wodurch sein Grundrecht auf rechtliches Gehör und das auf ein faires Verfahren verletzt worden sei. Dies begründe die Besorgnis der Befangenheit der zuständigen Abteilungsrichterin.

Hinweis:

Man kann nur den Kopf schütteln über so viel Unverständnis und Gezerre um das Attest, und zwar auch noch, nachdem die Klinik erklärt hatte, dass sie ein Attest über die Verhandlungsfähigkeit nicht ausstellen werde. Und das alles, nachdem der Verteidiger auf eine 250 Blatt starke Akte sechs Wochen hat warten müssen bei einem erstmaligen Terminsverlegungsantrag. Gründe, die die Amtsrichterin zu diesem sturen Verhalten nachvollziehbar veranlasst haben könnten, sind nicht erkennbar und sind von ihr offenbar auch nicht geltend gemacht worden.

Schaut man sich die Rspr. zu den Terminsverlegungsfragen an (vgl. dazu die Nachweise bei Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 10. Aufl. 2025, Rn 43 u. 4597 ff. und Burhoff, HV, Rn 107 u. 3159 ff.), lässt. sich unschwer feststellen, dass die Rspr. gerade bei erstmaligen Terminsverlegungsanträgen „großzügig“ ist, vor allem, wenn eine Terminsabsprache nicht erfolgt ist (s. LG Wuppertal, Beschl. v. 24.11.2023 – 23 Qs 130/23). Das, gepaart mit der hier viel zu späten Übersendung der 250 Blatt starken Akte, hätte ohne Zweifel dazu führen müssen, dem Verlegungsantrag aus Fairnessgründen stattzugeben. Von daher ist zu Recht Besorgnis der Befangenheit angenommen worden.

III. Rechtsmittelverfahren

1. Verweigerung der Aufnahme der Rechtsmittelbegründung zu Protokoll der Geschäftsstelle

Einen Betroffenen, der seinen Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde mit der allgemeinen Sachrüge begründen möchte, trifft kein Verschulden an der Nichteinhaltung der Begründungsfrist, wenn ihm die Aufnahme der Begründung zu Protokoll der Geschäftsstelle des zuständigen Gerichts verweigert wird, nachdem er am letzten Tag der Frist wenige Minuten vor dem Ende der veröffentlichten Sprechzeit der Geschäftsstelle auf dieser erschienen ist. So hat jetzt das BayObLG in einem Bußgeldverfahren entschieden (BayObLG, Beschl. v. 12.9.2024 – 201 ObOWi 837/24).

Nach dem Sachverhalt hatte das AG den Betroffenen (wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung) verurteilt. Der Betroffene hat gegen das in seiner Anwesenheit verkündete Urteil form- und fristgerecht Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gestellt. Das vollständige Urteil wurde ihm am 10.1.2024 zugestellt. Am Rosenmontag, den 12.2.2024, hat das AG den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gem. § 346 Abs. 1 StPO als unzulässig verworfen, da das Rechtsmittel nicht innerhalb der Monatsfrist begründet worden sei. Gegen diesen Beschluss hat der Betroffene die Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Das BayObLG hat dem Betroffenen Wiedereinsetzung gewährt, den Zulassungsantrag aber verworfen.

Das BayObLG gewährt Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, der Betroffene sei ohne eigenes Verschulden an der Nichteinhaltung der Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde gehindert gewesen (§§ 44 ff. StPO, § 46 OWiG). Insoweit geht das BayObLG von folgendem Sachverhalt aus: Das AG hatte sowohl im Internet als auch durch ein Schild am Eingang des Gerichts die Sprechzeiten der Geschäftsstelle mit 8.00 Uhr bis 12.00 Uhr angegeben. Am 12.2.2024, dem letzten Tag der Frist zur Begründung des Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde, war der Betroffene bei Gericht um 11.49 Uhr erschienen, um seinen Antrag zu Protokoll der Geschäftsstelle des AG zu begründen. Dort teilte man ihm mit, dass die zuständige Stelle nur bis 11.30 Uhr geöffnet hatte. Ein Bediensteter erklärte um 11.54 Uhr nochmals ausdrücklich, die Begründung des Betroffenen werde heute nicht mehr protokolliert, da die Geschäftsstelle geschlossen habe. Der Betroffene solle am nächsten Tag wiederkommen. Eine Protokollierung der Antragsbegründung des Betroffenen am 12.2.2024 erfolgte deshalb nicht.

Nach Auffassung des BayObLG (a.a.O.) beruht damit die verspätete Begründung der Rechtsbeschwerde auf einem Justizverschulden, weil das AG deren fristgerechte Aufnahme zu Unrecht abgelehnt habe. In einem solchen Fall sei dem Betroffenen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (Meyer Goßner/Schmitt, § 345 Rn 22 m.w.N.). Zur Begründung bezieht sich das BayObLG auf Art. 19 Abs. 4 GG, der die Möglichkeit effektiven Rechtsschutzes garantiere. Zulässig sei es lediglich, den Zugang zu den Gerichten von der Erfüllung formeller Voraussetzungen, insb. von der Einhaltung bestimmter Fristen, abhängig zu machen (BVerfG, Beschl. v. 17.3.1959 – 1 BvL 5/57, BVerfGE 9, 194, 199; Beschl. v. 12.1.1960 – 1 BvL 17/59, 10, 264, 267). Prozessuale Fristen dürften aber bis zu ihrer Grenze ausgenutzt werden (BVerfG, Beschl. v. 3.6.1975 – 2 BvR 99/74, BVerfGE 40, 42, 44; BVerfG, Beschl. v. 11.2.1976 – 2 BvR 652/75, 41, 323, 328; BVerfG, Beschl. v. 3.10.1979 – 1 BvR 726/78, 52, 203, 207; BVerfG, Beschl. v. 14.5.1985 – 1 BvR 370/84, 69, 381, 385). Dass ein Betroffener bis zum letzten Tag der Frist abwartet, ehe er eine fristgebundene prozessrechtliche Erklärung abgibt, könne ihm daher grds. nicht vorgeworfen werden. Der Rechtsmittelführer müsse aber den Aufwand kalkulieren, der zeitlich und organisatorisch erforderlich ist, damit die Rechtsmittelerklärung in der gesetzlich vorgeschriebenen Form innerhalb der Frist gegenüber der zuständigen Stelle abgegeben werde (st. Rspr. vgl. zuletzt BVerfG, Beschl. v. 14.2.2023 – 2 BvR 653/20, NStZ-RR 2023, 145; BayObLG, Beschl. v. 5.6.2024 – 204 StObWs 223/24, NStZ-RR 2024, 296). Das Recht eines Rechtsmittelführers, ein Rechtsmittel zu Protokoll der Geschäftsstelle zu begründen, bestehe wiederum nur innerhalb der normalen Dienststunden, wobei der Betroffene den begrenzten personellen Möglichkeiten der Justiz Rechnung zu tragen hat (BGH, Beschl. v. 6.3.1996 – 2 StR 683/95, NStZ 1996, 353). In diesem Zusammenhang könne er nicht erwarten, dass der Rechtspfleger während seiner gesamten Dienststunden für die Prüfung der Rechtsmittelbegründung zur Verfügung steht. Zu berücksichtigen bleibe insoweit das Interesse der Allgemeinheit an der Gewährleistung einer funktionstüchtigen, nicht allein auf eine Person fokussierten Rechtspflege (BGH, Beschl. v. 27.11.2008 – 5 StR 496/08, NStZ 2009, 585 = StraFo 2009, 23). Auch bestehe kein Anspruch darauf, dass bei später Antragstellung allein wegen des bevorstehenden Fristablaufs überobligatorische Tätigkeiten außerhalb des normalen Geschäftsgangs entfaltet werden, um die Einhaltung von Fristen zu gewährleisten. Die gesetzlich vorgeschriebenen Rechtsmittelfristen beinhalten nämlich keine reine Bedenkzeit, sondern umfassen zugleich die Zeitspanne, die dem Betroffenen je nach den Umständen zur Erledigung des rein technischen Vorgangs der Rechtsmitteleinlegung und -begründung verbleibt. Es werde deshalb von einem Betroffenen erwartet, dass er seinerseits alles ihm Zumutbare veranlasst, um die rechtzeitige Protokollierung des Rechtsmittels sicherzustellen (OLG Hamm, Beschl. v. 28.5.2015 – 1 Vollz (Ws) 248/15, NStZ-RR 2015, 327).

Dies zugrunde gelegt haben die Justizbehörden hier zu Unrecht die rechtzeitige Aufnahme der Rechtsmittelbegründung des Betroffenen am 12.2.2024 verweigert, da diesen kein Verschulden daran treffe, dass er erst am letzten Tag der First elf Minuten vor Ende der veröffentlichten Sprechzeit der Geschäftsstelle erschienen war. Angesichts der öffentlich bekannt gemachten Sprechzeiten der Geschäftsstelle des Amtsgerichts, in denen nicht auf die Möglichkeit einer Verkürzung hingewiesen worden war, stelle es ein Justizverschulden dar, die Geschäftsstelle vorzeitig und ohne Ankündigung zu schließen. Auf die veröffentlichten Dienstzeiten dürfe die rechtsuchende Bevölkerung vertrauen. Der Betroffene sei deshalb nicht verpflichtet, sich vorsichtshalber noch einmal nach ihnen zu erkundigen. Indem diese verkürzt worden seien, sei der Zugang Rechtssuchender zu einer gerichtlichen Sachentscheidung in unzumutbarer, durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise eingeschränkt worden.

Ein Verschulden des Betroffenen könne auch nicht aus dem Umstand hergeleitet werden, dass die Schließung der Geschäftsstelle und die Weigerung der Protokollierung der Rechtsmittelbegründung durch den Umstand veranlasst waren, dass die zuständigen Bediensteten befürchteten, eine solche werde erst nach 12.00 Uhr und damit zu einem Zeitpunkt abgeschlossen werden können, der außerhalb der öffentlich bekannt gemachten Sprechzeiten der Geschäftsstelle lag. Hierauf habe sich der Betroffene nicht einstellen müssen, was den Zeitpunkt seines Erscheinens betraf. Zum einen habe der Betroffene lediglich die allgemeine Sachrüge erheben und insb. das Verfahrenshindernis der Verfolgungsverjährung geltend machen wollen. Anders als in den höchstrichterlich (BGH, Beschl. v. 6.3.1996 – 2 StR 683/95, NStZ 1996, 353; Beschl. v. 27.11.2008 – 5 StR 496/08, NStZ 2009, 585) entschiedenen Fällen seien vorliegend gerade keine komplexen Verfahrensrügen zu protokollieren gewesen. Dafür, dass die Aufnahme einer einfach gelagerten Erklärung nicht binnen weniger Minuten möglich gewesen wäre, bestünden bereits keine Anhaltspunkte. Zum anderen hätte es dem Rechtspfleger des AG oblegen, die die Sachrüge beinhaltende Rechtsmittelbegründung des Betroffenen auch dann zu protokollieren, wenn absehbar gewesen wäre, dass er den Vorgang nicht bis exakt 12.00 Uhr würde abschließen können. In einem Fall, in welchem der verfassungsrechtlich verbürgte Justizgewährleistungsanspruch des Staates einerseits und der Wunsch des zuständigen Rechtspflegers an der pünktlichen Einhaltung seiner Dienstzeit andererseits inmitten stehen, führe die Abwägung der gegenläufigen Interessen zu dem Ergebnis, dass dem Rechtspfleger die Aufnahme einer Erklärung auch dann zumutbar sei, wenn dies mit einer geringfügigen Verlängerung seiner Arbeitszeit an dem konkreten Tag verbunden wäre. Vom Rechtspfleger wäre keine überobligatorische Tätigkeit außerhalb des normalen Geschäftsganges erwartet worden, sondern lediglich eine überschaubare Dienstzeitüberschreitung.

Hinweis:

Dem BayObLG ist darin Recht zu geben, dass bei der bloßen Aufnahme einer Sachrüge die Zeitverzögerung nicht allzu groß sein kann. Komplexe Verfahrensrügen, die eine intensive Einarbeitung in den Fall erfordern, werden von der Entscheidung ausdrücklich nicht erfasst.

Abgesehen davon: Man scheint es bei dem betroffenen AG eh besonders eilig gehabt zu haben. Denn das AG hat den Zulassungsantrag des Betroffenen nämlich noch vor Ablauf der Begründungsfrist verworfen. Das Urt. v. 14.12.2023 war dem Betroffenen am 10.1.2024 zugestellt worden. Gemäß § 345 Abs. 1 StPO i.V.m. § 80 Abs. 3 S. 1 3 OWiG beträgt die Begründungsfrist einen Monat nach Ablauf der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels (§ 345 Abs. 1 S. 1 1 StPO). Damit begann die Begründungsfrist nach Zustellung des Beschlusses am 10.1.2024 zu laufen und endete, da es sich beim 10.2.2024 um einen Samstag handelte, gem. § 43 Abs. 2 StPO erst mit Ablauf des folgenden Montags, mithin am 12.2.2024. An dem Tag ist aber der Zulassungsantrag bereits verworfen worden. Das BayObLG hat nach Gewährung von Wiedereinsetzung daher zur Klarstellung festgestellt, dass der Beschluss des AG v. 12.2.2024 gegenstandslos ist.

2. Berufungsverwerfung trotz Vertretungsvollmacht?

Und dann als zweite Entscheidung aus dem Rechtsmittelbereich der OLG Köln, Beschl. v. 26.9.2024 (III-1 ORs 162/24). Das OLG Köln hat in der Entscheidung zu zwei Fragen Stellung genommen. Zunächst hat es sich mit der Frage befasst, wann ein vollständig begründetes Urteil vorliegt. Das war hier nicht der Fall, weil das schriftliche Urteil von der Vorsitzenden der Berufungskammer nicht unterzeichnet war. Die Zustellungsverfügung der Vorsitzenden hat dem OLG für eine (Ersatz)Unterzeichnung nicht ausgereicht. Damit war das Berufungsurteil schon aus dem Grund aufzuheben.

Das OLG Köln (a.a.O.) hat es damit aber nicht genug sein lassen, sondern hat sich in einem obiter dictum, als „nicht tragend“ noch mit der Verfahrensrüge des Angeklagten befasst. Mit der war geltend gemacht worden, dass die Berufung wegen wirksamer Vertretung durch einen mit einer schriftlichen Vertretungsvollmacht ausgestatteten Verteidiger nicht hätte verworfen werden dürfen. Dazu merkt das OLG an:

Ein Verwerfungsurteil nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO setze neben der Säumnis des Angeklagten voraus, dass kein mit einer nachgewiesenen Vertretungsvollmacht ausgestatteter Verteidiger erschienen sei. Ein solcher Verteidiger müsse bereit sein, den Angeklagten aufgrund der Vollmacht zu vertreten (vgl. KG, Beschl. v. 18.4.1985 – 1 Ss 329/84, JR 1985, 343; OLG Oldenburg, Beschl. v. 20.12.2016 – 1 Ss 178/16, StV 2018, 148; OLG Köln, Beschl. v. 27.8.1991 – Ss 399/91, StV 1992, 567; Beschl. v. 31.1.1992 – Ss 22/92-20, StV 1993, 292; Beschl. v. 9.4.2013 – III-1 RVs 62/13; Meyer-Goßner/Schmitt, § 329 Rn 16). Zur „Vertretung“ gehöre dabei i.d.R. nur, dass der bevollmächtigte Verteidiger für den Angeklagten anwesend sei. Eine weitere Mitwirkung an der Verhandlung obliege ihm ebenso wenig wie dem Angeklagten, wenn dieser selbst anwesend wäre (vgl. OLG Köln 1992, a.a.O.; OLG Oldenburg, a.a.O.). Auch der Verteidiger müsse keine Erklärungen zur Sache abgeben oder Anträge stellen.

Eine Verwerfung trotz Erscheinens eines Verteidigers mit Vertretungsvollmacht komme vor diesem Hintergrund nur unter besonderen Umständen in Betracht, etwa wenn konkrete Anhaltspunkte vorliegen, dass der Verteidiger es gar nicht zu einer Sachverhandlung kommen lassen wolle bzw. nicht gewillt sei, den Angeklagten in einer solchen zu vertreten (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 6.9.2016 – III-4 RVs 96/16, StV 2018, 150 m.w.N.; OLG Oldenburg, a.a.O.; OLG Köln 1991, a.a.O.; Meyer-Goßner/Schmitt, § 329 Rn 4 u. 16; vgl. a. BT-Drucks 18/3562, S. 69). Der Rechtsansicht des LG, auch der Verteidiger vertrete nicht, der geltend mache, nicht über ausreichende Informationen zu verfügen, könne der Senat ggf. nicht folgen. Sie werde auf eine Kommentarstelle gestützt, die ihrerseits ausschließlich auf Rspr. vor Inkrafttreten der Neufassung des § 329 StPO verweise (MüKo-StPO/Quentin, a.a.O., § 329 Rn 27 m.w.N. in Fn 72). Indessen sei – wie dargelegt – auch der mit Vertretungsvollmacht ausgestattete Verteidiger zu Angaben nicht verpflichtet. Die Erklärung des Verteidigers, ihm fehlten Informationen, erlange daher vor allem im Hinblick auf § 329 Abs. 4 StPO Bedeutung: Nach dieser Vorschrift habe das Gericht den Angeklagten zur Fortsetzung der Hauptverhandlung zu laden und dessen persönliches Erscheinen anzuordnen, wenn es die Anwesenheit des Angeklagten in der auf seine Berufung hin durchgeführten Hauptverhandlung trotz der Vertretung durch einen Verteidiger für erforderlich halte. Je weniger Informationen aber dem mit Vertretungsvollmacht ausgestatteten Verteidiger vorliegen, desto eher werde sich für das Gericht die Frage stellen, ob nicht die Anberaumung eines Fortsetzungstermins unter Anordnung des persönlichen Erscheinens des Angeklagten erforderlich sei. Auch aus dem bloßen Umstand, dass sich ein Verteidiger für eine Aussetzung der Hauptverhandlung bzw. für die Anberaumung eines Fortsetzungstermins i.S.v. § 329 Abs. 4 StPO ausspreche, könne nicht hergeleitet werden, dass dieser nicht bereit wäre, im Falle der Ablehnung seines Begehrens den Angeklagten in der Sachverhandlung zu vertreten (vgl. OLG Köln 1991, a.a.O.).

Hinweis:

M.E. ist die Entscheidung zutreffend. Das LG hatte hier vorschnell verworfen (vgl. zu den Verwerfungsfragen Burhoff, HV, Rn 813 ff. und Niehaus, in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtlichen Rechtsmittel und Rechtsbehelfe, 3. Aufl. 2025, Teil A Rn 57 ff., jeweils m.w.N.). Das LG hätte hier nach § 329 Abs. 4 StPO vorgehen und einen Fortsetzungstermin anberaumen und das persönliche Erscheinen des Angeklagten anordnen müssen. Wenn der Angeklagte dann erneut nicht erscheint, kann nach § 329 Abs. 4 S. 2 StPO seine Berufung verworfen werden.


Die Nutzung von Burhoff-Online ist kostenlos. Der Betrieb der Homepage verursacht aber für Wartungs-, Verbesserungsarbeiten und Speicherplatz laufende Kosten.

Wenn Sie daher Burhoff-Online freundlicherweise durch einen kleinen Obolus unterstützen wollen, haben Sie hier eine "Spendenmöglichkeit".