aus ZAP 2025, 161
(Ich bedanke mich bei der Schriftleitung von "ZAP" für die freundliche Genehmigung, diesen Beitrag aus "ZAP" auf meiner Homepage einstellen zu dürfen.)
Von Rechtsanwalt Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg
Inhaltsverzeichnis
1. Erstreckung der Pflichtverteidigerbestellung auf das Adhäsionsverfahren
2. Rechtsprechungsübersicht zur Pflichtverteidigung
1. Rechtlicher Hinweis bei besonderer Schwere der Schuld?
2. Genügend Vorbereitungszeit für das letzte Wort
3. Befangenheit bei Ablehnung eines Verlegungsantrags
1. Verweigerung der Aufnahme der Rechtsmittelbegründung zu Protokoll der Geschäftsstelle
2. Berufungsverwerfung trotz Vertretungsvollmacht?
Auch das OLG Bamberg hat inzwischen entschieden, dass sich die Pflichtverteidigerbestellung auf das Adhäsionsverfahren erstreckt (OLG Bamberg, Beschl. v. 5.9.2024 1 Ws 187/24). Ergangen ist der Beschluss, nachdem der Pflichtverteidiger beantragt hatte, für von ihm im Hinblick auf das Adhäsionsverfahren erbrachte Tätigkeiten eine Gebühr nach Nr. 4143 VV RVG sowie nach Nr. 1003 VV RVG festzusetzen. Die Rechtspflegerin hatte das abgelehnt, das OLG hat dem Pflichtverteidiger Recht gegeben.
Hinweis:
Die Entscheidung ist zutreffend und führt dazu, dass der Pflichtverteidiger auch die Nr. 4143 VV RVG geltend machen kann (vgl. dazu die Kommentierung bei Burhoff, in: Volpert/Burhoff, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl. 2021, Nr. 4143 VV Rn 1 ff.). Insoweit dürfte es sich inzwischen wohl um die h.M. handeln. A.A. sind aber (noch immer) der Fünfte Strafsenat des BGH (Beschl. v. 8.12.2021 5 StR 162/21) und das LG Osnabrück (Beschl. v. 5.9.2022 18 KLs 5/22, AGS 2023, 46 = JurBüro 2022, 638). Pflichtverteidiger sollten daher nach wie darauf achten, dass ggf. vom Gericht die Pflichtverteidigerbestellung ausdrücklich auch auf das Adhäsionsverfahren erstreckt bzw. klar gestellt wird, dass eine (bereits) erfolgte Bestellung auch für das Adhäsionsverfahren gilt.
Für die hier auch geltend gemachte Nr. 1003 VV RVG ist hinzuweisen auf die Rspr. der OLG (OLG Hamm, Beschl. v. 7.3.2022 1 Ws 579/21, AGS 2022, 554; OLG Jena, AGS 2009, 587 = StRR 2010, 114 = NJW 2010, 455; OLG Nürnberg, RVGreport 2014, 72 = AGS 2014, 18 m. abl. Anm. N. Schneider = StraFo 2014, 37). Danach entsteht die Einigungsgebühr auch, wenn kein förmliches Adhäsionsverfahren nach § 404 StPO vorausgegangen ist.
Wir haben in der ZAP 2024, 283 über Rspr. zum (neuen) Recht der Pflichtverteidigung berichtet. Wir stellen nun weitere Rspr. vor. Die vorgestellten Entscheidungen stehen, soweit sie nicht auch in Fachzeitschriften veröffentlicht sind, weitgehend alle im Volltext auf der Homepage www.burhoff.de.
Gemäß § 143a Abs. 1 S. 1 StPO ist es grds. zwingend geboten, eine Pflichtverteidigerbestellung aufzuheben, wenn der Beschuldigte einen anderen Verteidiger gewählt und dieser zudem die Wahl angenommen hat. Eine Ausnahme besteht u.a., wenn zu besorgen steht, dass der neue Verteidiger das Mandat demnächst niederlegen und seine Beiordnung als Pflichtverteidiger beantragen wird (BGH, Beschl. v. 21.8.2024 StB 47/24). Eine nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO erfolgte Pflichtverteidigerbestellung ist aufzuheben, wenn der Beschuldigte aus der Haft entlassen worden ist und die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO nicht vorliegen (zugleich auch zur Unfähigkeit der Selbstverteidigung LG Siegen, Beschl. v. 14.11.2024 10 Qs-69 Js 794/24-94/24; s. auch AG Siegen, Beschl. v. 24.10.2024 401 Ds-69 Js 794/24-745/24).
Der Beschluss, durch den eine Pflichtverteidigerbestellung aufgehoben worden ist, muss eine Begründung enthalten, damit für die Beschwerdekammer die Entscheidung des aufhebenden Gerichts entweder bezogen auf eine fehlerfreie Rechtsanwendung oder auf eine rechtsfehlerfreie Ermessensausübung nachprüfbar ist (LG Bonn, Beschl. v. 9.12.2024 - 63 Qs 77/24).
Durch die Beiordnung eines Rechtsanwalts als Verteidiger für die Wahrnehmung eines Termins wird ein eigenständiges, vollumfängliches öffentlich-rechtliches Beiordnungsverhältnis begründet, aufgrund dessen der bestellte Verteidiger während der Dauer seiner Bestellung die Verteidigung des Angeklagten umfassend und eigenverantwortlich wahrzunehmen hat. Daraus folgt, dass der Rechtsanwalt alle Gebühren eines Verteidigers nach Teil 4 Abschnitt 1 VV RVG geltend machen kann (OLG Koblenz, Beschl. v. 4.7.2024 2 Ws 412/24).
Von einem Fall notwendiger Verteidigung ist regelmäßig ab einer Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe auszugehen (LG Braunschweig, Beschl. v. 10.5.2024 9 Qs 105/24; LG Frankfurt a.M., Beschl. v. 16.9.2024 5-30 Qs 41/24; LG Nürnberg, Beschl. v. 14.6.2024 JKII Qs 11/24 jug [JGG-Verfahren]).
Einem Strafverfahren kann zwar dadurch ein die Beiordnung eines Pflichtverteidigers gebietendes Gewicht zukommen, dass in einem weiteren Verfahren die Bildung einer Gesamtfreiheitsstrafe zu erwarten ist; dies ist aber dann nicht der Fall, wenn die im vorliegenden Verfahren zu erwartende Strafe bei der späteren Bildung der Gesamtfreiheitsstrafe nur geringfügig ins Gewicht fällt und eine sonst mögliche Strafaussetzung zur Bewährung nicht gefährden wird (OLG Zweibrücken, Beschl. v. 11.9.2024 1 Ws 208/24).
Für die Frage der Erforderlichkeit der Mitwirkung eines Verteidigers in einem Strafverfahren genügt, dass ein Beweisverwertungsverbot nicht völlig fernliegend ist. Das kann der Fall sein, wenn eine im Rahmen des Zwischenverfahrens durchgeführte Wahllichtbildvorlage ggf. nicht den Anforderungen der Rspr. genügt (LG Bochum, Beschl. v. 22.3.2024 II-1 Qs-822 Js 722/22-10/24).
Zur Bestellung eines Pflichtverteidigers im Nachverfahren über die anlässlich des teilweisen Inkrafttretens des KCanG zum 1.4.2024 nach Maßgabe der Art. 313 Abs. 3 S. 1 3, 316p EGStGB gebotene Strafermäßigungsprüfung hat das LG Neuruppin Stellung genommen (LG Neuruppin, Beschl. v. 22.7.2024 11 Kls 5/22; s. auch zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers in den Fällen des § 34 Abs. 3 S. 2 Nr. 4 KCanG LG Braunschweig, Beschl. v. 10.5.2024 9 Qs 105/24 und noch AG Heinsberg, Beschl. v. 26.4.2024 42 VRjs 79/23). Die Rechtslage bzgl. des Vorwurfs eines tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit dem Vorwurf des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte (§§ 113 Abs. 1, 114 Abs. 1 StGB) im Zusammenhang mit einem polizeilichen Einschreiten aufgrund des Filmens des Polizeieinsatzes kann so komplex sein, dass ein Pflichtverteidiger beizuordnen ist (OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 26.3.2024 7 Ws 45/24).
Das nur eingeschränkte Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten in bei der Akte befindliche Beweismittel mit kinderpornographischen Inhalten erfordert nicht die Bestellung eines Pflichtverteidigers, weil die Hauptakte auch für den Beschuldigten selbst einsehbar ist und die Beweismittelakte bei der Staatsanwaltschaft eingesehen werden kann (LG Hannover, Beschl. v. 24.9.2024 40 Qs 73/24). Ist zur Feststellung, ob eine versehentliche Doppelverfolgung des Beschuldigten vorlag, eine Akteneinsicht ebenso erforderlich, wie das verstehende Lesen der beiden Verfahrensakten, ist die Sach- und Rechtslage schwierig (AG Velbert, Beschl. v. 22.4.2024 22 Ds 5/24 322 Js 900/23).
Die Sachlage ist u.a. dann i.S.d. § 140 Abs. 2 StPO schwierig, wenn die Staatsanwaltschaft in Ermittlungsverfahren wegen Verdachts von Straftaten nach § 184b StGB ggf. externe Sachverständige mit der Auswertung und Begutachtung sichergestellter Datenträger beauftragt. Die zu erwartende Auseinandersetzung mit technischen Untersuchungsberichten begründet eine überdurchschnittliche Schwierigkeit der Sachlage, für die auch nur dem Verteidiger zu gewährende Aktenkenntnis erforderlich ist (AG Frankfurt a.M., Beschl. v. 12.7.2024 4881 Js 215385/24 931 Gs). Die zu erwartende Auseinandersetzung mit technischen Untersuchungsberichten begründet eine überdurchschnittliche Schwierigkeit der Sachlage, für die auch nur dem Verteidiger zu gewährende Aktenkenntnis erforderlich ist (AG Frankfurt a.M., a.a.O.). Es begründet aber nicht jede Hinzuziehung eines Sachverständigen begründet die Schwierigkeit einer Sachlage mit der Folge, dass ein Pflichtverteidiger beizuordnen wäre (LG Braunschweig, Beschl. v. 9.4.2024 7 Ns 811 Js 66743/21 [27/23]).
Im Berufungsverfahren ist dem Angeklagten i.d.R. ein Verteidiger beizuordnen, wenn die Staatsanwaltschaft gegen ein freisprechendes Urteil Berufung eingelegt hat und eine Verurteilung aufgrund abweichender Beweiswürdigung oder sonst unterschiedlicher Beurteilung der Sach- oder Rechtslage erstrebt (KG, Beschl. v. 6.2.2024 2 ORs 43/23). Der Beiordnung eines Pflichtverteidigers steht nicht entgegen, wenn der bisherige Wahlverteidiger des Angeklagten im Berufungsverfahren erklärt hat, er würde eine gegenseitige Berufungsrücknahme befürworten, und die Staatsanwaltschaft daraufhin angekündigt hat, im Falle einer Berufungsrücknahme des Angeklagten die ihrerseits eingelegte Berufung ebenfalls zurückzunehmen (LG Braunschweig, Beschl. v. 9.4.2024 7 Ns 811 Js 66743/21 [27/23]).
Steht der Beschuldigte seit Jahren unter nahezu umfassender Betreuung, die insb. auch den Aufgabenkreis der Vertretung vor Behörden umfasst, ist ihm schon allein aus diesem Grund gem. § 140 Abs. 2 StPO wegen der daraus folgenden erheblichen Zweifel an seiner Selbstverteidigungsfähigkeit ein Pflichtverteidiger zu bestellen (LG Münster, Beschl. v. 23.10.2023 11 Qs-82 Js 7330/24-58/24). Bestehen Gründe, die Zweifel an der Fähigkeit des Angeklagten begründen, sich interessengerecht zu verteidigen, liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung auch dann vor, wenn eine ursprünglich angeordnete Betreuung aufgehoben ist (LG Magdeburg, Beschl. v. 23.4.2024 29 Qs 954 Js 86381/23).
Hat ein Sachverständiger in einem Gutachten zur Beurteilung der §§ 20, 21, 63, 64 StGB bei dem Angeklagten eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom impulsiven und vom Borderline-Typ (ICD-10: F60.30; F60.31) festgestellt, die er als so schwerwiegend bewertet hat, dass das vierte Eingangsmerkmal einer schweren anderen seelischen Abartigkeit zu bejahen ist und ist außerdem das zugrundeliegende Tatgeschehen von einer erheblichen Alkoholisierung des Angeklagten geprägt, sodass im Ergebnis aus Sicht der Sachverständigen keine Zweifel an einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bestanden und auch eine vollständige Aufhebung nicht auszuschließen war, ist von Unfähigkeit zur Selbstverteidigung auszugehen (LG Bremen, Beschl. v. 18.12.2023 1 Qs 407/23, StV 2024, 156 [Ls.]).
Die Voraussetzung, unter denen wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Bestellung eines Verteidigers gem. § 140 Abs. 2 StPO notwendig ist, kann bei sprachbedingten Verständigungsschwierigkeiten eher als erfüllt angesehen werden, als dies sonst der Fall ist (OLG Frankfurt, Beschl. v. 26.3.2024 7 Ws 45/24). Das LG Bremen hat zur Bestellung eines Pflichtverteidigers in einem Verfahren mit dem Vorwurf eines Verstoßes gegen § 29 Abs. 1 S. 1 1 Nr. 1 BtMG, wenn dem ausländischen Beschuldigten mit dem derzeitigen Status der Duldung im Fall der Verurteilung ggf. die Ausweisung droht, Stellung genommen (LG Bremen, Beschl. v. 14.3.2024 2 Qs 3/24).
Gemäß § 141 Abs. 2 Nr. 4 StPO ist dem Angeklagten, wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, auch ohne Antrag ein Pflichtverteidiger sofort beizuordnen. Daher hindert die Rechtskraft eines Beschlusses mit dem eine Bestellungsantrag des Beschuldigten (zunächst) abgewiesen worden ist, nicht die spätere Beiordnung auf Antrag eines (Wahl)Verteidigers (LG Magdeburg, Beschl. v. 21.11.2024 21 Qs 80/24).
Eine Pflichtverteidigerbestellung hat so rechtzeitig zu erfolgen, dass die Verteidigungsrechte gewahrt werden. Es besteht hierfür eine Prüfungs- und Überlegungsfrist von einer, maximal zwei Wochen (AG Stuttgart, Beschl. v. 20.12.2023 36 Gs 11711/23, StraFo 2024, 104).
Eine rückwirkende Bestellung zum Pflichtverteidiger ist ausnahmsweise dann zulässig, wenn der Beschuldigte rechtzeitig ausdrücklich eine Pflichtverteidigerbestellung beantragt hatte, wenn die Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung zum Zeitpunkt der Antragstellung vorgelegen haben und wenn eine Entscheidung über den Beiordnungsantrag ohne zwingenden Grund nicht unverzüglich erfolgt ist, da die Entscheidung durch behördeninterne Vorgänge unterblieben ist, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte (LG Bonn, Beschl. v. 4.10.2024 63 Qs-220 Js 175/24 SE-51/24; LG Braunschweig, Beschl. v. 17.10.2023 9 Qs 267/23, StraFo 2024, 102; LG Chemnitz, Beschl. v. 4.6.2024 2 Qs 151/24; LG Dessau-Roßlau, Beschl. v. 19.12.2023 6 Qs 196 Js 29157/2, StraFo 2024, 103; LG Halle, Beschl. v. 14.6.2024 3 Qs 56/24: Beschl. v. 16.10.2024 3 Qs 101/24; Beschl. v. 5.11.2024 10a Qs 101/24; LG Erfurt, Beschl. v. 31.1.2024 7 Qs 313/23; LG Magdeburg, Beschl. v. 19.8.2024 29 Qs 54/24; LG Stade, Beschl. v. 18.8.2023 202 Qs 29/23; AG Leipzig, Beschl. v. 15.7.2024 ER 13 282 Gs 30191/24; AG Münster, Beschl. v. 18.10.2024 23 Gs 6074/24 [280 Js 225/24]; AG Stuttgart, Beschl. v. 20.12.2023 36 Gs 11711/23, StraFo 2024, 104; AG Verden, Beschl. v. 13.3.2024 9a Gs 874/24). Dass das Absehen von der Strafverfolgung ggf. absehbar war, steht der rückwirkenden Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht entgegen (AG Stuttgart, Beschl. v. 20.12.2023 36 Gs 11711/23, StraFo 2024, 104).
Nach anderer Auffassung ist die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers ist schlechthin unzulässig und unwirksam (LG Berlin, Beschl. v. 28.10.2024 534 Qs 111/24), und zwar auch dann, wenn der Antrag noch vor der Beendigung des Verfahrens gestellt worden ist (LG Krefeld, Beschl. v. 13.8.2024 21 Qs 97/24; Beschl. v. 9.10.2024 21 Qs 97/24; LG Limburg, Beschl. v. 16.1.2024 2 Qs 4/24; LG Meiningen, Beschl. v. 9.10.2024 6 Qs 141/24; LG Neuruppin, Beschl. v. 23.7.2024 12 Qs 7/24 jug (Aufgabe der bisherigen Rspr.); AG Krefeld, Beschl. v. 8.7.2024 23 Gs 818/24; AG Osnabrück, Beschl. v. 19.10.2023 248 Gs (320 Js 14545/23) 1258/23).
Eine rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers, zumal für einen begrenzten Zeitraum, kommt jedenfalls dann nicht in Betracht, wenn auf Wunsch des Angeschuldigten die Beiordnung eines anderen Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger tatsächlich inzwischen erfolgt ist (LG Arnsberg, Beschl. v. 23.9.2024 II-4 KLs-412 Js 377/23-16/24).
Hinsichtlich des Prüfungsmaßstabs in der Beschwerdeinstanz gilt, dass dem zur Entscheidung über einen Verteidigerwechsel nach § 143a StPO und über die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers nach § 144 StPO berufenen Richter ein Beurteilungsspielraum zukommt (BGH, Beschl. v. 22.8.2024 StB 53/24).
Ein Verteidigerwechsel ist dann ausgeschlossen, wenn ein Pflichtverteidigerwechsel erzwungen werden soll (OLG Celle, Beschl. v. 5.6.2023 5 StS 2/22).
Die Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung nach § 143 Abs. 2 S. 1 StPO setzt sich voraus, dass sich die für die Anordnung der Pflichtverteidigung maßgeblichen Umstände wesentlich geändert haben oder dass das beiordnende Gericht von objektiv falschen Voraussetzungen ausgegangen ist (KG, Beschl. v. 8.4.2024 2 Ws 56/24). Die Aufhebung der Bestellung nach § 143 Abs. 2 S. 1 StPO steht im Ermessen des Gerichts. Den Beschlussgründen muss zu entnehmen sein, dass sich das Gericht des ihm eröffneten Ermessensspielraums bewusst war und dass es sein Ermessen unter Berücksichtigung der im Einzelfall maßgeblichen Gesichtspunkte ausgeübt hat (KG, a.a.O.; LG Halle, Beschl. v. 15.2.2024 3 Qs 11/24). Ist seit dem Wegfall der Bestellungsvoraussetzung bis zur Entscheidung, die Pflichtverteidigerbestellung aufzuheben, ein längerer Zeitraum vergangen (hier: knapp acht Monate), in denen weder das Gericht noch die Staatsanwaltschaft den Wegfall der Voraussetzung der notwendigen Verteidigung problematisiert haben, sondern vielmehr auf Aktivitäten des Pflichtverteidigers reagiert haben, kommt eine Aufhebung nicht (mehr) in Betracht (LG Halle, a.a.O.).
Die Bestellung des Pflichtverteidigers wegen Inhaftierung des Beschuldigten fällt nicht automatisch weg, wenn der Angeklagte mindestens zwei Wochen vor der Hauptverhandlung aus der Verwahrung entlassen wird und die Verteidigung nicht aus einem anderen Grund notwendig ist. Das Gericht muss vielmehr stets prüfen, ob die Beiordnung des Verteidigers aufrechtzuerhalten ist, weil die auf der Freiheitsentziehung beruhende Behinderung trotz der Freilassung nachwirken kann (LG Magdeburg, Beschl. v. 21.11.2023 25 Qs 794 Js 52649/22 [120/239]).
Eine Störung des Vertrauensverhältnisses ist aus Sicht eines verständigen Angeklagten zu beurteilen und von diesem oder seinem Verteidiger substantiiert darzulegen. Insoweit kann von Bedeutung sein, dass ein Pflichtverteidiger zu seinem inhaftierten Mandanten über einen längeren Zeitraum überhaupt nicht in Verbindung tritt. Allerdings liegt es grds. im pflichtgemäßen Ermessen des Verteidigers, in welchem Umfang und auf welche Weise er mit dem Beschuldigten Kontakt hält. Die unverzichtbaren Mindeststandards müssen jedenfalls gewahrt sein (BGH, Beschl. v. 12.3.2024 StB 16/24). Die pauschale Behauptung, das Vertrauensverhältnis sei zerstört, kann einen Verteidigerwechsel nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO nicht rechtfertigen (KG, Beschl. v. 13.12.2023 2 Ws 146/23, StraFo 2024, 104).
Ein sog. konsensualer Verteidigerwechsel ist grds. zulässig (BGH, Beschl. v. 10.8.2023 StB 49/23, StraFo 2023, 400). Einer Bestellung eines Pflichtverteidigers im Wege eines konsensualen Verteidigerwechsels steht entgegen, dass eine angemessene Verteidigung des Angeklagten bei einer Teilnahme an lediglich einem Drittel der Verhandlungstermine nicht gewährleistet ist (BGH, Beschl. v. 22.8.2024 StB 53/24). An der Möglichkeit eines Pflichtverteidigerwechsels fehlt es jedenfalls dann, wenn der bisherige Verteidiger sein Einverständnis nicht erteilt hat und eine endgültige Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zwischen dem Angeschuldigten und dem bisherigen Anwalt nicht erkennbar ist (BGH 2023, a.a.O.).
Durch die Bestellung eines Pflichtverteidigers als solche ist ein Beschuldigter regelmäßig nicht beschwert, sodass er die Entscheidung grds. nicht anfechten kann; auch eine etwaige spätere Belastung des Beschuldigten mit den Kosten des Pflichtverteidigers nach einer rechtskräftigen Verurteilung begründet im Erkenntnisverfahren kein Rechtsschutzbedürfnis (BGH, Beschl. v. 15.8.2023 StB 28/23, StV 2024, 149). Eine Beschwer durch eine Pflichtverteidigerbestellung kann ausnahmsweise in Betracht kommen, wenn der bestellte Verteidiger wegen mangelnder Eignung oder Interessengegensatzes unfähig erscheint, die Verteidigung ordnungsgemäß zu führen, oder der Beschuldigte in seinem Recht auf Bezeichnung des zu bestellenden Verteidigers und dessen Beiordnung aus § 142 Abs. 5 S. 1 und 3 StPO betroffen ist (BGH, a.a.O.).
Der Verteidiger kann gegen die Ablehnung seiner Bestellung als Pflichtverteidiger nicht im eigenen Namen sofortige Beschwerde einlegen, weil er nicht in eigenen Rechten verletzt ist (LG Neuruppin, Beschl. v. 23.7.2024 12 Qs 7/24 jug).
Hinsichtlich des Prüfungsmaßstabs in der Beschwerdeinstanz gilt, dass dem zur Entscheidung über einen Verteidigerwechsel nach § 143a StPO und über die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers nach § 144 StPO berufenen Richter ein Beurteilungsspielraum zukommt (BGH, Beschl. v. 22.8.2024 StB 53/24).
Voraussetzung des Verteidigerwechsels in der Revisionsinstanz ist nach § 143a Abs. 3 StPO die Bezeichnung eines neuen Verteidigers (KG, Beschl. v. 13.12.2023 2 Ws 146/23, StraFo 2024, 104). Wird das Verfahren beim Revisionsgericht anhängig, geht die Zuständigkeit für die Entscheidung über einen unerledigten Antrag nach § 143a Abs. 3 StPO von dem Gericht, dessen Urteil angefochten wird, auf das Revisionsgericht und dort auf den Vorsitzenden des zuständigen Senats über (KG, Beschl. v. 1.9.2023 3 ORs 52/23, StraFo 2024, 30).
Der Bestellung eines Pflichtverteidigers steht im Strafbefehlsverfahren nicht entgegen, dass ein Strafbefehl zum Zeitpunkt der Pflichtverteidigerbestellung bereits erlassen ist (LG Freiburg, Beschl. v. 17.6.2024 16 Qs 45/24).
Die Bestellung eines Pflichtverteidigers setzt gem. § 141 Abs. 1 S. 1 StPO voraus, dass die betreffende Person schon Beschuldigte in einem Strafverfahren ist und die Strafverfolgungsbehörde ihr durch amtliche Mitteilung oder auf sonstige Art und Weise die Einleitung gegen sie gerichteter Ermittlungen zur Kenntnis gebracht hat. Vor der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens sowie im Zeitraum noch nicht offen geführter Ermittlungen ist für eine Pflichtverteidigerbestellung kein Raum. Dementsprechend sind Anträge auf Pflichtverteidigerbestellung, die bereits vor der amtlichen Bekanntgabe des Tatvorwurfs, etwa aufgrund von Vermutungen über die Einleitung eines Strafverfahrens, gestellt werden, unzulässig (BGH, Beschl. v. 6.8.2024 StB 45/24).
Ist der gem. § 397a Abs. 1 StPO bestellte Beistand in der Hauptverhandlung an einem Verhandlungstag aus wichtigem Grund verhindert, ist dem Antrag des Nebenklägers auf Bestellung eines vertretungsbereiten Rechtsanwalts als Ersatzbeistand für diesen Termin i.d.R. zu entsprechen (OLG Celle, Beschl. v. 7.4.2024 2 Ws 78/24, StraFo 2024, 264). Eine Ausnahme kommt u.a. in Betracht, wenn für den bestellten Beistand ein anderer Rechtsanwalt nach § 53 BRAO zum allgemeinen Vertreter bestellt worden ist. Gleiches gilt, wenn in dem Verhandlungstermin, in dem der Beistand verhindert ist, nur Verfahrensgegenstände verhandelt oder Beweise erhoben werden, die mit der zum Anschluss als Nebenkläger berechtigenden Tat in keinem relevanten Zusammenhang stehen (OLG Celle, a.a.O.). Bei fehlerhafter oder unterbliebener Bescheidung des Beiordnungsantrags durch das Tatgericht kann der Ersatzbeistand rückwirkend im Beschwerderechtszug bestellt werden (OLG Celle, a.a.O.).
Bei rückwirkender Beiordnung eines Verletztenbeistands kommt es grds. auf die Verhältnisse zur Zeit der Antragstellung an (LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 18.9.2024 12 Qs 34/24).
Etwaige Versäumnisse eines Pflichtverteidigers können dem Staat nur ausnahmsweise angelastet werden, da die Führung der Verteidigung Sache des Angeklagten und seines Pflicht- oder Wahlverteidigers ist. Für Behörden und Gerichte besteht eine Verpflichtung zum Eingreifen nur, wenn das Versagen eines Pflichtverteidigers für die Justiz offenkundig ist oder sie davon unterrichtet wird (BGH, Beschl. v. 22.7.2024 1 StR 165/24).
Eine Beschwerde des Pflichtverteidigers gegen die Ablehnung der rückwirkenden Beiordnung für das hinzuverbundene Verfahren ist mangels Beschwer unzulässig, wenn die Verfahrensverbindung nach Beiordnung im führenden Verfahren erfolgt ist und das Gericht nach Verfahrensverbindung beschlossen hat, dass sich die Verteidigerbestellung auch auf das hinzuverbundene Verfahren erstreckt (LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 25.6.2024 13 Qs 17/24). Nach der zum 1.1.2021 erfolgten Ergänzung von § 48 Abs. 6 S. 3 RVG ist klargestellt, dass die Anordnung einer Erstreckungswirkung bei einer anwaltlichen Beiordnung nach der Verbindung nicht erforderlich ist, weil § 48 Abs. 6 S. 1 StPO unmittelbar gilt (LG Nürnberg-Fürth, a.a.O.).
Die mit der Hinweispflicht des Gerichts nach § 265 StPO zusammenhängenden Fragen spielen in der Rspr. des BGH eine nicht unerhebliche Rolle (eingehend zu § 265 StPO auch in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 11. Aufl. 2025, Rn 2172 ff. [im Folgenden kurz: Burhoff, HV]. Nun hat der BGH ein weiteres Mal dazu Stellung genommen und sich dabei insb. auch noch einmal zu den Auswirkungen des Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens v. 17.8.2017 (BGBl I, S. 3202, 3210) geäußert.
§ 265 Abs. 1 StPO sei im Fall der Feststellung der besonderen Schwere der Schuld (§ 57a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB) bereits nach seinem Wortlaut nicht anwendbar (vgl. u.a. BGH, Beschl. v. 26.6.1996 1 StR 328/96, Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl. 2024, § 265 Rn 15a [im Folgenden kurz: Meyer-Goßner/Schmitt]; KK-StPO/Bartel, 9. Aufl. 2023, § 265 Rn 9; a.A. MüKo-StPO/Norouzi, Bd. 2, 2. Aufl. 2024, § 265 Rn 27, 29; BeckOK-StPO/Eschelbach, 53. Ed. [Stand: 1.10.2024], § 265 Rn 28; zweifelnd BGH, Beschl. v. 10.7.2002 1 StR 140/02). Denn die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld sei systematisch kein Teil der Entscheidung zu Schuld- und Strafausspruch. Sie sei vielmehr eine Entscheidung für das Vollstreckungsverfahren, die nach der Rspr. des BVerfG aus diesem herausgelöst und dem Tatgericht übertragen worden sei. Sie diene nicht der Bemessung der Sanktion, sondern der Vorbereitung einer Entscheidung über die Aussetzung ihrer weiteren Vollstreckung, die grds. dem Vollstreckungsgericht obliege (vgl. BGH, Beschl. v. 22.11.1994 GSSt 2/94, BGHSt 40, 360, 366 f.; BGH, Urt. v. 4.7.2018 5 StR 46/18, NStZ 2018, 652, 653).
Weiterhin lasse sich aus § 265 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 StPO keine Pflicht zur Erteilung eines Hinweises auf § 57a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB entnehmen. Unter diese Regelung fallen so der BGH etwa Qualifikationen und Regelbeispiele für besonders schwere Fälle, nicht aber der Ausspruch über die besondere Schwere der Schuld (BGH, Beschl. v. 26.6.1996 1 StR 328/96; Urt. v. 2.2.2005 2 StR 468/04, StV 2006, 60, 61). Denn um die Entscheidung des Vollstreckungsgerichts über die Aussetzung der weiteren Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe vorzubereiten, habe das Tatgericht im Urteil die Umstände aufzuführen, die eine Beurteilung der Schuldschwere ermöglichen. Es habe diese Umstände abzuwägen, zu gewichten und danach zu entscheiden, ob die Schuld des Angeklagten besonders schwer wiegt. Dieser Beurteilungsvorgang entspreche damit in der Sache demjenigen, der bei den im StGB aufgeführten unbenannten besonders schweren Fällen stattfinde, für die § 265 Abs. 2 StPO ebenfalls nicht gelte (BGH, Beschl. v. 26.6.1996 1 StR 328/96; Meyer-Goßner/Schmitt, § 265 Rn 19; KK-StPO/Bartel, a.a.O., § 265 Rn 17). Auch aus der Neufassung des § 265 Abs. 2 Nr. 1 StPO folge nichts Anderes, da die hier allein in Betracht kommende Alt. 1 der vorgenannten Vorschrift unverändert geblieben sei.
Schließlich gebot nach Ansicht des BGH auch weder das Recht des Angeklagten auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 3 Buchst. a und b EMRK) noch der Grundsatz des fairen Verfahrens (Art. 20 Abs. 3 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) eine Hinweispflicht (vgl. hierzu BGH, a.a.O.; s. auch BT-Drucks 18/11277, S. 37). Nach den insoweit geltenden Maßstäben sei die Feststellung der besonderen Schuldschwere für den Angeklagten auch mit Blick auf die Besonderheiten des Falles hier nicht überraschend. Ihm sei in der Anklage die Erfüllung zweier Mordmerkmale sowie die Begehung eines weiteren tatmehrheitlich begangenen Verbrechens zur Last gelegt worden. Bereits hierdurch sei für den verteidigten Angeklagten erkennbar gewesen, dass eine Verurteilung wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe konkret drohte und das Gericht daher auch eine Entscheidung über die besondere Schwere der Schuld zu treffen hatte (vgl. BGH, Urt. v. 2.2.2005 2 StR 468/04, StV 2006, 60, 61; Beschl. v. 26.6.1996 1 StR 328/96; LR/Stuckenberg, StPO, 27. Aufl. 2024, § 265 Rn 32). In Anbetracht dessen habe auch der Inhalt des erteilten Hinweises sowie der Schlussplädoyers kein besonderes Vertrauen beim Angeklagten begründen können, dem durch eine gerichtliche Hinweispflicht Rechnung zu tragen gewesen wäre.
In einem Beschl. v. 18.4.2024 hat der BGH (6 StR 545/23) mal wieder die herausragende Bedeutung des letzten Wortes (§ 258 StPO), dem in der Rspr. des BGH eine erhebliche Bedeutung zukommt, betont. Nach dem Sachverhalt war der Angeklagte vom LG wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von fünf Jahren verurteilt worden. Mit seiner Rüge rügt der Angeklagte eine Verletzung des § 258 Abs. 1 StPO. Dem lag folgender Verfahrensgang zugrunde: Dem Angeklagten war mit der Anklageschrift versuchter Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil des Adhäsionsklägers H. und gefährliche Körperverletzung zum Nachteil einer weiteren Geschädigten vorgeworfen worden. Der Strafkammervorsitzende terminierte die Hauptverhandlung auf drei Sitzungstage. Am zweiten Sitzungstag erteilte der Vorsitzende um 14.47 Uhr einen rechtlichen Hinweis; demzufolge sollte hinsichtlich der Tat zum Nachteil des Adhäsionsklägers auch eine Verurteilung wegen tateinheitlichen versuchten Mordes gem. § 211 Abs. 2 Alt. 4 und 5 sonstiger niedriger Beweggrund bzw. Heimtücke in Betracht kommen. Die Vorschrift wurde verlesen, ein Haftbefehl verkündet und der Angeklagte um 14.56 Uhr im Saal verhaftet. Im Haftbefehl wurde der Tatvorwurf zu Fall 1 der Anklageschrift dahin konkretisiert, dass der Angeklagte die ihm zur Last gelegten Messerstiche in Richtung des Oberkörpers des sich keines Angriffs versehenen und deshalb wehrlosen Adhäsionsklägers geführt habe. Ein vom Verteidiger daraufhin gestellter Aussetzungsantrag, gestützt auf die wegen des verschärften Tatvorwurfs notwendige Vorbereitungszeit, wurde zurückgewiesen und auch die hilfsweise begehrte Unterbrechung für die Dauer von einer Woche abgelehnt. Es seien keine neuen Tatsachen oder tatsächlichen Verhältnisse in der Hauptverhandlung aufgetreten, die der Angeklagte nicht bereits der Anklageschrift oder dem Eröffnungsbeschluss habe entnehmen können. Die Hauptverhandlung wurde um 15.16 Uhr bis zum nächsten Sitzungstag unterbrochen.
Am Morgen des folgenden Tages wurde die Hauptverhandlung fortgesetzt. Nach weiteren Beweiserhebungen, insb. Vernehmungen von Zeugen und Sachverständigen, wurde die Beweisaufnahme im allseitigen Einverständnis geschlossen. Der Verteidiger beantragte um 14.15 Uhr zur Vorbereitung auf den Schlussvortrag eine Unterbrechung der Hauptverhandlung bis zu einem weiteren, noch abzustimmenden Sitzungstag. Er sehe sich eingedenk des Verfahrensablaufs, namentlich des gerichtlichen Hinweises, der Verhaftung seines Mandanten im Sitzungssaal und der bis 14.10 Uhr durchgeführten Beweisaufnahme nicht in der Lage, sachgerecht zu plädieren. Den Antrag wies der Vorsitzende unter Hinweis auf die Gründe der abgelehnten Aussetzung vom vorangegangenen Sitzungstag zurück. Es seien netto drei Stunden verhandelt worden, sodass keine Gründe ersichtlich seien, die einen Schlussvortrag nicht zuließen. Diese Anordnung wurde von der Kammer sodann bestätigt. Nach den Schlussvorträgen wurde das angefochtene Urteil verkündet.
Die mit der Revision des Angeklagten erhobene Verfahrensrüge der Verletzung des § 258 Abs. 1 StPO war nach Auffassung des BGH (a.a.O.) begründet. Auf die ebenfalls beanstandeten mehrfachen Verletzungen des § 265 Abs. 1 StPO kam es deshalb ebenso wie auf die sachlich-rechtlichen Beanstandungen nicht an. Zur Begründung führt der BGH (a.a.O.) aus: Der Angeklagte erhalte durch § 258 Abs. 1 StPO das Recht, nach Beendigung der Beweisaufnahme und vor der endgültigen Entscheidung des Gerichts zum gesamten Sachverhalt und zu allen Rechtsfragen des Verfahrens Stellung zu nehmen. Die Vorschrift diene damit unmittelbar der Gewährleistung des durch Art. 103 Abs. 1 GG garantierten Anspruchs auf rechtliches Gehör (vgl. BVerfGE 54, 140, 141 f.; Dürig/Herzog/Scholz/Remmert, GG, 104. EL [Stand: April 2024], Art. 103 Abs. 1 Rn 66). Zur Ausübung dessen könne der Angeklagte sich wie in § 258 Abs. 3 StPO vorausgesetzt eines Verteidigers bedienen (vgl. KK-StPO/Tiemann, a.a.O., § 258 Rn 5). Dieses Recht erschöpfe sich aufgrund seiner überragenden Bedeutung nicht in der bloßen Möglichkeit zur Äußerung; vielmehr müsse den Verfahrensbeteiligten eine wirksame Ausübung ermöglicht werden (vgl. BeckOK-StPO/Eschelbach, 53. Ed. [Stand: 1.10.2024], § 258 Rn 14; MüKo-StPO/Niehaus, a.a.O., § 258 Rn 7). Das Gericht sei daher dazu verpflichtet, angemessene Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Verfahrensbeteiligten einen Schlussvortrag in der Weise halten können, wie sie ihn für sachdienlich erachten (vgl. BGH, Beschl. v. 21.3.1989 5 StR 120/88 und v. 24.1.2023 3 StR 80/22, NStZ 2023, 437).
Dabei stehe es indes nicht im Belieben der Verfahrensbeteiligten, ob und in welchem Umfang eine Vorbereitungszeit zu gewähren sei. Was dazu erforderlich sei, bestimme sich vielmehr nach den Umständen des Einzelfalls. Danach könne es je nach Umfang und Dauer der Hauptverhandlung sowie dem konkreten Prozessverlauf notwendig sein, zur Ausarbeitung der Schlussvorträge eine angemessene Vorbereitungszeit einzuräumen (vgl. BGH, Beschl. v. 21.3.1989 5 StR 120/88; v. 11.5.2005 2 StR 150/05, NStZ 2005, 650; v. 24.1.2023 3 StR 80/22, NStZ 2023, 437; LR/Esser, a.a.O., Art. 6 EMRK Rn 887 m.w.N.). Ob und ggf. in welchem Umfang diese zu gewähren sei, habe das Tatgericht nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, wenn die Verfahrensbeteiligten eine Vorbereitungszeit verlangen. Für die Beurteilung der Angemessenheit derselben könne neben der Komplexität und dem Umfang der Sach- und Rechtslage insb. auch relevant sein, dass die Verfahrensbeteiligten bereits zuvor auf den anstehenden Schluss der Beweisaufnahme hingewiesen worden seien oder aus anderen Gründen damit rechnen mussten, ihre Plädoyers halten zu müssen (vgl. dazu BGH, Beschl. v. 21.3.1989 5 StR 120/88); in diesem Fall können sie die Zeit zwischen den Hauptverhandlungsterminen bereits zur Vorbereitung ihrer Vorträge und ggf. erforderlichen Besprechung und Abstimmung mit dem Mandanten nutzen, sodass die Notwendigkeit einer (weiteren) Unterbrechung ganz entfallen oder jedenfalls ihre Dauer kürzer zu bemessen sein kann (vgl. BGH, Beschl. v. 24.1.2023 3 StR 80/22, a.a.O.).
Die vollständige Versagung einer Vorbereitungszeit erweise sich hier als rechtsfehlerhaft. Zwar hätten die Verfahrensbeteiligten ursprünglich davon ausgehen können, dass am letzten von drei terminierten Hauptverhandlungstagen die Beweisaufnahme geschlossen wird und die Schlussvorträge zu halten sind. Da aber entgegen der Ladungsverfügung (§ 214 Abs. 1 StPO) am letzten Sitzungstag ab 9.30 Uhr u.a. mehrere Zeugen und zwei Sachverständige vernommen wurden, habe die Strafkammer von den Verfahrensbeteiligten nicht bereits wegen der ursprünglichen Terminierung verlangen dürfen, unmittelbar nach dem Schluss der Beweisaufnahme den Verfahrensstoff sachgerecht aufbereitet zu haben (vgl. BGH, Beschl. v. 21.7.2020 5 StR 236/20, NStZ 2021, 56). Dies gelte erst recht mit Blick darauf, dass der Angeklagte erst am Ende des zweiten von drei Sitzungstagen auf den gravierend verschärften Tatvorwurf des versuchten Mordes hingewiesen und zeitgleich im Saal verhaftet worden war.
Unvertretbar sei aber die Versagung jedweder Unterbrechung jedenfalls in der Zusammenschau mit der Bedeutung der Aussage des am letzten Sitzungstag vernommenen Zeugen B. gewesen. Dessen Angaben seien nicht allein für den Tötungsvorsatz bedeutsam gewesen; besondere Relevanz sei ihnen ausweislich der Urteilsgründe und der Anklageschrift für das Tötungsmotiv zugekommen. Damit habe ein unmittelbarer Zusammenhang zu dem Hinweis auf eine Verurteilung des Angeklagten wegen des höchststrafwürdigen Tötungsverbrechens eines versuchten Mordes aus niedrigen Beweggründen (§ 211 Abs. 2 StGB) bestanden, der trotz der seit der Anklageerhebung unveränderten Sachlage erst tags zuvor erteilt worden sei.
Hinweis:
Auf Verletzungen des Rechts auf das letzte Wort reagiert der BGH i.d.R. empfindlich. Dabei geht es so auch hier nicht nur darum, dass dem Angeklagten und/oder dem Verteidiger für ihn überhaupt das letzte Wort gewährt worden ist. Sondern: Es muss auch ausreichend Vorbereitungszeit eingeräumt worden sein. Die hängt zwar, was auch zutreffend ist, von den jeweiligen Umständen des Falles ab. Aber man fragt sich, wie die Strafkammer hier auf die Idee kommen konnte, dass ausreichend Zeit gewährt worden war. In dem Zusammenhang ist nicht nur der erst am Vortag erteilte rechtliche Hinweis, der zu einer erheblichen Verschärfung des Vorwurfs gegenüber dem Angeklagten geführt hatte, zu berücksichtigen, sondern auch, dass am letzten Verhandlungstag unmittelbar vor dem Schluss der Beweisaufnahme noch ein Zeuge vernommen worden war, dessen Aussage für den Ausgang des Verfahrens erhebliche Bedeutung hatte. Warum man dann über den Antrag des Verteidigers hinweg bügelt, erschließt sich nicht. Dem BGH scheint dabei besonders sauer aufzustoßen, dass der rechtliche Hinweis (§ 265 StPO) trotz der seit der Anklageerhebung unveränderten Sachlage erst tags zuvor erteilt worden ist. Der Entscheidung ist m.E. deutlich anzumerken, dass ihm die Eile, die die Strafkammer an den Tag legt, zu Recht missfällt.
Der Verteidiger hat im Übrigen alles richtig gemacht. Er hat, was sich aus den Urteilsgründen ergibt, nach Ablehnung seines Unterbrechungsantrags durch den Vorsitzenden gem. § 238 Abs. 2 StPO die Entscheidung beanstandet und damit den gem. § 338 Nr. 8 StPO erforderlichen Gerichtsbeschluss herbeigeführt (vgl. dazu Burhoff, HV, Rn 3502 ff. m.w.N.).
Die Ablehnung eines Terminverlegungsantrags, begründet regelmäßig nicht die Besorgnis der Befangenheit. Anders liegt es nur dann, wenn erhebliche Gründe für eine Terminverlegung offensichtlich vorliegen, die Zurückweisung des Antrags für die betreffende Partei schlechthin unzumutbar wäre und somit deren Grundrecht auf rechtliches Gehör verletzte oder sich aus der Ablehnung der Terminverlegung der Eindruck einer sachwidrigen Benachteiligung einer Partei aufdrängt. Darauf hat jetzt das AG Wuppertal (Beschl. v. 21.11.2024 24 Cs 224/24) hingewiesen.
Folgender Sachverhalt: Dem Angeklagten wird in dem Verfahren unerlaubtes Entfernen vom Unfallort (§ 142 StGB) zur Last gelegt. Die Amtsrichterin bestimmte am 23.10.2024 Termin zur Durchführung der Hauptverhandlung auf Dienstag, den 12.11.2024. Das persönliche Erscheinen des Angeklagten wurde angeordnet. Dem Verteidiger wurde (erst) am 4.11.2024 auf seinen Antrag v. 23.9.2024 Akteneinsicht in die über 250-seitige Akte gewährt. Am 4.11.2024 hat der Verteidiger dann beantragt, den Termin zu verlegen. Zur Begründung hat er vorgetragen und anwaltlich versichert, die Ehefrau des Angeklagten habe ihm mitgeteilt, ihr Mann befinde sich seit dem 3.11.2024 im Klinikum in stationärer Behandlung. Wann er entlassen werde, sei unklar. Zugleich wies der Verteidiger darauf hin, dass eine angemessene Vorbereitung der Akte und eine Besprechung mit dem Mandanten vor dem Termin nicht möglich sei. Dem Schriftsatz war eine Bescheinigung des Krankenhauses über die stationäre Aufnahme des Angeklagten zum 3.11.2024 beigefügt.
Mit Verfügung v. 5.11.2024 wurde dem Verteidiger von der Amtsrichterin mitgeteilt, dass der Termin bestehen bleibe. Eine Verlegung könne nur erfolgen bei Vorlage eines Attestes über die Verhandlungsfähigkeit am Terminstage. Am 6.11.2024 teilte der Verteidiger mit, dass die Klinik auf seine Anfrage mitgeteilt habe, dass diese keine Bescheinigung über die Verhandlungsunfähigkeit ausstellen würde. Eine vom Verteidiger angekündigte Rücksprache kam in der Folge nicht zustande, da die Amtsrichterin nicht erreichbar war. Am 8.11.2024 hat der Verteidiger um Aufhebung des Termins gebeten mit dem Hinweis, dass eine Entlassung des Angeklagten bis zum Terminstage nicht erfolgen könne. Hierzu reichte er eine weitere Bescheinigung des Klinikums ein, aus der sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass eine rechtzeitige Entlassung vor dem Termin nicht erfolge. Auch wies er in diesem Schriftsatz auf den Grundsatz des fairen Verfahrens hin, da er den Sachverhalt mit dem Mandanten vor dem Termin nicht besprechen könne. Die Amtsrichterin hat mit Beschl. v. 8.11.2024 den Verlegungsantrag zurückgewiesen. Das hat sie im Wesentlichen damit begründet, dass immer noch kein Attest für den Terminstag vorliege.
Der Verteidiger hat dann am 11.11.2024 im Namen des Angeklagten die zuständige Amtsrichterin wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Dies hat er u.a. damit begründet, dass die abgelehnte Terminverlegung gegen die Grundsätze des fairen Verfahrens verstoße.
Das Ablehnungsgesuch hatte Erfolg. Das AG Wuppertal (a.a.O.) hat einen Ausnahmefall, wann nämlich die Ablehnung eines Terminsverlegungsantrags die Besorgnis der Befangenheit aufgrund einer Gesamtbetrachtung und Gesamtwürdigung des Sachverhalts bejaht. Der Verteidiger habe erhebliche und nachvollziehbare Gründe für seinen Terminverlegungsantrag vorgetragen und die Tatsachen anwaltlich versichert. Es sei nach dem Akteninhalt zweifelsfrei, dass der Angeklagte ab dem 3.11.2024 in stationärer Behandlung im Krankenhaus gelegen habe. Auch habe die Klinik mitgeteilt, dass eine rechtzeitige Entlassung nicht erfolgen könne. Hinzukomme, dass der Verteidiger erst nach über sechs Wochen am 4.11.2024 Akteneinsicht erhalten habe. Eine Besprechung mit dem Mandanten, dessen persönliches Erscheinen angeordnet gewesen sein, sei vor dem Termin daher nicht möglich gewesen. Unter dem Gesichtspunkt des fairen Verfahrens und des Rechts des Betroffenen, sich von einem Verteidiger sachgemäß vertreten zu lassen, sei die Zurückweisung des erstmaligen Antrags auf Terminverlegung für den Angeklagten schlechthin unzumutbar, wodurch sein Grundrecht auf rechtliches Gehör und das auf ein faires Verfahren verletzt worden sei. Dies begründe die Besorgnis der Befangenheit der zuständigen Abteilungsrichterin.
Hinweis:
Man kann nur den Kopf schütteln über so viel Unverständnis und Gezerre um das Attest, und zwar auch noch, nachdem die Klinik erklärt hatte, dass sie ein Attest über die Verhandlungsfähigkeit nicht ausstellen werde. Und das alles, nachdem der Verteidiger auf eine 250 Blatt starke Akte sechs Wochen hat warten müssen bei einem erstmaligen Terminsverlegungsantrag. Gründe, die die Amtsrichterin zu diesem sturen Verhalten nachvollziehbar veranlasst haben könnten, sind nicht erkennbar und sind von ihr offenbar auch nicht geltend gemacht worden.
Schaut man sich die Rspr. zu den Terminsverlegungsfragen an (vgl. dazu die Nachweise bei Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 10. Aufl. 2025, Rn 43 u. 4597 ff. und Burhoff, HV, Rn 107 u. 3159 ff.), lässt. sich unschwer feststellen, dass die Rspr. gerade bei erstmaligen Terminsverlegungsanträgen großzügig ist, vor allem, wenn eine Terminsabsprache nicht erfolgt ist (s. LG Wuppertal, Beschl. v. 24.11.2023 23 Qs 130/23). Das, gepaart mit der hier viel zu späten Übersendung der 250 Blatt starken Akte, hätte ohne Zweifel dazu führen müssen, dem Verlegungsantrag aus Fairnessgründen stattzugeben. Von daher ist zu Recht Besorgnis der Befangenheit angenommen worden.
Einen Betroffenen, der seinen Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde mit der allgemeinen Sachrüge begründen möchte, trifft kein Verschulden an der Nichteinhaltung der Begründungsfrist, wenn ihm die Aufnahme der Begründung zu Protokoll der Geschäftsstelle des zuständigen Gerichts verweigert wird, nachdem er am letzten Tag der Frist wenige Minuten vor dem Ende der veröffentlichten Sprechzeit der Geschäftsstelle auf dieser erschienen ist. So hat jetzt das BayObLG in einem Bußgeldverfahren entschieden (BayObLG, Beschl. v. 12.9.2024 201 ObOWi 837/24).
Nach dem Sachverhalt hatte das AG den Betroffenen (wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung) verurteilt. Der Betroffene hat gegen das in seiner Anwesenheit verkündete Urteil form- und fristgerecht Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gestellt. Das vollständige Urteil wurde ihm am 10.1.2024 zugestellt. Am Rosenmontag, den 12.2.2024, hat das AG den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gem. § 346 Abs. 1 StPO als unzulässig verworfen, da das Rechtsmittel nicht innerhalb der Monatsfrist begründet worden sei. Gegen diesen Beschluss hat der Betroffene die Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Das BayObLG hat dem Betroffenen Wiedereinsetzung gewährt, den Zulassungsantrag aber verworfen.
Das BayObLG gewährt Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, der Betroffene sei ohne eigenes Verschulden an der Nichteinhaltung der Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde gehindert gewesen (§§ 44 ff. StPO, § 46 OWiG). Insoweit geht das BayObLG von folgendem Sachverhalt aus: Das AG hatte sowohl im Internet als auch durch ein Schild am Eingang des Gerichts die Sprechzeiten der Geschäftsstelle mit 8.00 Uhr bis 12.00 Uhr angegeben. Am 12.2.2024, dem letzten Tag der Frist zur Begründung des Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde, war der Betroffene bei Gericht um 11.49 Uhr erschienen, um seinen Antrag zu Protokoll der Geschäftsstelle des AG zu begründen. Dort teilte man ihm mit, dass die zuständige Stelle nur bis 11.30 Uhr geöffnet hatte. Ein Bediensteter erklärte um 11.54 Uhr nochmals ausdrücklich, die Begründung des Betroffenen werde heute nicht mehr protokolliert, da die Geschäftsstelle geschlossen habe. Der Betroffene solle am nächsten Tag wiederkommen. Eine Protokollierung der Antragsbegründung des Betroffenen am 12.2.2024 erfolgte deshalb nicht.
Nach Auffassung des BayObLG (a.a.O.) beruht damit die verspätete Begründung der Rechtsbeschwerde auf einem Justizverschulden, weil das AG deren fristgerechte Aufnahme zu Unrecht abgelehnt habe. In einem solchen Fall sei dem Betroffenen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (Meyer Goßner/Schmitt, § 345 Rn 22 m.w.N.). Zur Begründung bezieht sich das BayObLG auf Art. 19 Abs. 4 GG, der die Möglichkeit effektiven Rechtsschutzes garantiere. Zulässig sei es lediglich, den Zugang zu den Gerichten von der Erfüllung formeller Voraussetzungen, insb. von der Einhaltung bestimmter Fristen, abhängig zu machen (BVerfG, Beschl. v. 17.3.1959 1 BvL 5/57, BVerfGE 9, 194, 199; Beschl. v. 12.1.1960 1 BvL 17/59, 10, 264, 267). Prozessuale Fristen dürften aber bis zu ihrer Grenze ausgenutzt werden (BVerfG, Beschl. v. 3.6.1975 2 BvR 99/74, BVerfGE 40, 42, 44; BVerfG, Beschl. v. 11.2.1976 2 BvR 652/75, 41, 323, 328; BVerfG, Beschl. v. 3.10.1979 1 BvR 726/78, 52, 203, 207; BVerfG, Beschl. v. 14.5.1985 1 BvR 370/84, 69, 381, 385). Dass ein Betroffener bis zum letzten Tag der Frist abwartet, ehe er eine fristgebundene prozessrechtliche Erklärung abgibt, könne ihm daher grds. nicht vorgeworfen werden. Der Rechtsmittelführer müsse aber den Aufwand kalkulieren, der zeitlich und organisatorisch erforderlich ist, damit die Rechtsmittelerklärung in der gesetzlich vorgeschriebenen Form innerhalb der Frist gegenüber der zuständigen Stelle abgegeben werde (st. Rspr. vgl. zuletzt BVerfG, Beschl. v. 14.2.2023 2 BvR 653/20, NStZ-RR 2023, 145; BayObLG, Beschl. v. 5.6.2024 204 StObWs 223/24, NStZ-RR 2024, 296). Das Recht eines Rechtsmittelführers, ein Rechtsmittel zu Protokoll der Geschäftsstelle zu begründen, bestehe wiederum nur innerhalb der normalen Dienststunden, wobei der Betroffene den begrenzten personellen Möglichkeiten der Justiz Rechnung zu tragen hat (BGH, Beschl. v. 6.3.1996 2 StR 683/95, NStZ 1996, 353). In diesem Zusammenhang könne er nicht erwarten, dass der Rechtspfleger während seiner gesamten Dienststunden für die Prüfung der Rechtsmittelbegründung zur Verfügung steht. Zu berücksichtigen bleibe insoweit das Interesse der Allgemeinheit an der Gewährleistung einer funktionstüchtigen, nicht allein auf eine Person fokussierten Rechtspflege (BGH, Beschl. v. 27.11.2008 5 StR 496/08, NStZ 2009, 585 = StraFo 2009, 23). Auch bestehe kein Anspruch darauf, dass bei später Antragstellung allein wegen des bevorstehenden Fristablaufs überobligatorische Tätigkeiten außerhalb des normalen Geschäftsgangs entfaltet werden, um die Einhaltung von Fristen zu gewährleisten. Die gesetzlich vorgeschriebenen Rechtsmittelfristen beinhalten nämlich keine reine Bedenkzeit, sondern umfassen zugleich die Zeitspanne, die dem Betroffenen je nach den Umständen zur Erledigung des rein technischen Vorgangs der Rechtsmitteleinlegung und -begründung verbleibt. Es werde deshalb von einem Betroffenen erwartet, dass er seinerseits alles ihm Zumutbare veranlasst, um die rechtzeitige Protokollierung des Rechtsmittels sicherzustellen (OLG Hamm, Beschl. v. 28.5.2015 1 Vollz (Ws) 248/15, NStZ-RR 2015, 327).
Dies zugrunde gelegt haben die Justizbehörden hier zu Unrecht die rechtzeitige Aufnahme der Rechtsmittelbegründung des Betroffenen am 12.2.2024 verweigert, da diesen kein Verschulden daran treffe, dass er erst am letzten Tag der First elf Minuten vor Ende der veröffentlichten Sprechzeit der Geschäftsstelle erschienen war. Angesichts der öffentlich bekannt gemachten Sprechzeiten der Geschäftsstelle des Amtsgerichts, in denen nicht auf die Möglichkeit einer Verkürzung hingewiesen worden war, stelle es ein Justizverschulden dar, die Geschäftsstelle vorzeitig und ohne Ankündigung zu schließen. Auf die veröffentlichten Dienstzeiten dürfe die rechtsuchende Bevölkerung vertrauen. Der Betroffene sei deshalb nicht verpflichtet, sich vorsichtshalber noch einmal nach ihnen zu erkundigen. Indem diese verkürzt worden seien, sei der Zugang Rechtssuchender zu einer gerichtlichen Sachentscheidung in unzumutbarer, durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise eingeschränkt worden.
Ein Verschulden des Betroffenen könne auch nicht aus dem Umstand hergeleitet werden, dass die Schließung der Geschäftsstelle und die Weigerung der Protokollierung der Rechtsmittelbegründung durch den Umstand veranlasst waren, dass die zuständigen Bediensteten befürchteten, eine solche werde erst nach 12.00 Uhr und damit zu einem Zeitpunkt abgeschlossen werden können, der außerhalb der öffentlich bekannt gemachten Sprechzeiten der Geschäftsstelle lag. Hierauf habe sich der Betroffene nicht einstellen müssen, was den Zeitpunkt seines Erscheinens betraf. Zum einen habe der Betroffene lediglich die allgemeine Sachrüge erheben und insb. das Verfahrenshindernis der Verfolgungsverjährung geltend machen wollen. Anders als in den höchstrichterlich (BGH, Beschl. v. 6.3.1996 2 StR 683/95, NStZ 1996, 353; Beschl. v. 27.11.2008 5 StR 496/08, NStZ 2009, 585) entschiedenen Fällen seien vorliegend gerade keine komplexen Verfahrensrügen zu protokollieren gewesen. Dafür, dass die Aufnahme einer einfach gelagerten Erklärung nicht binnen weniger Minuten möglich gewesen wäre, bestünden bereits keine Anhaltspunkte. Zum anderen hätte es dem Rechtspfleger des AG oblegen, die die Sachrüge beinhaltende Rechtsmittelbegründung des Betroffenen auch dann zu protokollieren, wenn absehbar gewesen wäre, dass er den Vorgang nicht bis exakt 12.00 Uhr würde abschließen können. In einem Fall, in welchem der verfassungsrechtlich verbürgte Justizgewährleistungsanspruch des Staates einerseits und der Wunsch des zuständigen Rechtspflegers an der pünktlichen Einhaltung seiner Dienstzeit andererseits inmitten stehen, führe die Abwägung der gegenläufigen Interessen zu dem Ergebnis, dass dem Rechtspfleger die Aufnahme einer Erklärung auch dann zumutbar sei, wenn dies mit einer geringfügigen Verlängerung seiner Arbeitszeit an dem konkreten Tag verbunden wäre. Vom Rechtspfleger wäre keine überobligatorische Tätigkeit außerhalb des normalen Geschäftsganges erwartet worden, sondern lediglich eine überschaubare Dienstzeitüberschreitung.
Hinweis:
Dem BayObLG ist darin Recht zu geben, dass bei der bloßen Aufnahme einer Sachrüge die Zeitverzögerung nicht allzu groß sein kann. Komplexe Verfahrensrügen, die eine intensive Einarbeitung in den Fall erfordern, werden von der Entscheidung ausdrücklich nicht erfasst.
Abgesehen davon: Man scheint es bei dem betroffenen AG eh besonders eilig gehabt zu haben. Denn das AG hat den Zulassungsantrag des Betroffenen nämlich noch vor Ablauf der Begründungsfrist verworfen. Das Urt. v. 14.12.2023 war dem Betroffenen am 10.1.2024 zugestellt worden. Gemäß § 345 Abs. 1 StPO i.V.m. § 80 Abs. 3 S. 1 3 OWiG beträgt die Begründungsfrist einen Monat nach Ablauf der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels (§ 345 Abs. 1 S. 1 1 StPO). Damit begann die Begründungsfrist nach Zustellung des Beschlusses am 10.1.2024 zu laufen und endete, da es sich beim 10.2.2024 um einen Samstag handelte, gem. § 43 Abs. 2 StPO erst mit Ablauf des folgenden Montags, mithin am 12.2.2024. An dem Tag ist aber der Zulassungsantrag bereits verworfen worden. Das BayObLG hat nach Gewährung von Wiedereinsetzung daher zur Klarstellung festgestellt, dass der Beschluss des AG v. 12.2.2024 gegenstandslos ist.
Und dann als zweite Entscheidung aus dem Rechtsmittelbereich der OLG Köln, Beschl. v. 26.9.2024 (III-1 ORs 162/24). Das OLG Köln hat in der Entscheidung zu zwei Fragen Stellung genommen. Zunächst hat es sich mit der Frage befasst, wann ein vollständig begründetes Urteil vorliegt. Das war hier nicht der Fall, weil das schriftliche Urteil von der Vorsitzenden der Berufungskammer nicht unterzeichnet war. Die Zustellungsverfügung der Vorsitzenden hat dem OLG für eine (Ersatz)Unterzeichnung nicht ausgereicht. Damit war das Berufungsurteil schon aus dem Grund aufzuheben.
Das OLG Köln (a.a.O.) hat es damit aber nicht genug sein lassen, sondern hat sich in einem obiter dictum, als nicht tragend noch mit der Verfahrensrüge des Angeklagten befasst. Mit der war geltend gemacht worden, dass die Berufung wegen wirksamer Vertretung durch einen mit einer schriftlichen Vertretungsvollmacht ausgestatteten Verteidiger nicht hätte verworfen werden dürfen. Dazu merkt das OLG an:
Ein Verwerfungsurteil nach § 329 Abs. 1 S. 1 StPO setze neben der Säumnis des Angeklagten voraus, dass kein mit einer nachgewiesenen Vertretungsvollmacht ausgestatteter Verteidiger erschienen sei. Ein solcher Verteidiger müsse bereit sein, den Angeklagten aufgrund der Vollmacht zu vertreten (vgl. KG, Beschl. v. 18.4.1985 1 Ss 329/84, JR 1985, 343; OLG Oldenburg, Beschl. v. 20.12.2016 1 Ss 178/16, StV 2018, 148; OLG Köln, Beschl. v. 27.8.1991 Ss 399/91, StV 1992, 567; Beschl. v. 31.1.1992 Ss 22/92-20, StV 1993, 292; Beschl. v. 9.4.2013 III-1 RVs 62/13; Meyer-Goßner/Schmitt, § 329 Rn 16). Zur Vertretung gehöre dabei i.d.R. nur, dass der bevollmächtigte Verteidiger für den Angeklagten anwesend sei. Eine weitere Mitwirkung an der Verhandlung obliege ihm ebenso wenig wie dem Angeklagten, wenn dieser selbst anwesend wäre (vgl. OLG Köln 1992, a.a.O.; OLG Oldenburg, a.a.O.). Auch der Verteidiger müsse keine Erklärungen zur Sache abgeben oder Anträge stellen.
Eine Verwerfung trotz Erscheinens eines Verteidigers mit Vertretungsvollmacht komme vor diesem Hintergrund nur unter besonderen Umständen in Betracht, etwa wenn konkrete Anhaltspunkte vorliegen, dass der Verteidiger es gar nicht zu einer Sachverhandlung kommen lassen wolle bzw. nicht gewillt sei, den Angeklagten in einer solchen zu vertreten (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 6.9.2016 III-4 RVs 96/16, StV 2018, 150 m.w.N.; OLG Oldenburg, a.a.O.; OLG Köln 1991, a.a.O.; Meyer-Goßner/Schmitt, § 329 Rn 4 u. 16; vgl. a. BT-Drucks 18/3562, S. 69). Der Rechtsansicht des LG, auch der Verteidiger vertrete nicht, der geltend mache, nicht über ausreichende Informationen zu verfügen, könne der Senat ggf. nicht folgen. Sie werde auf eine Kommentarstelle gestützt, die ihrerseits ausschließlich auf Rspr. vor Inkrafttreten der Neufassung des § 329 StPO verweise (MüKo-StPO/Quentin, a.a.O., § 329 Rn 27 m.w.N. in Fn 72). Indessen sei wie dargelegt auch der mit Vertretungsvollmacht ausgestattete Verteidiger zu Angaben nicht verpflichtet. Die Erklärung des Verteidigers, ihm fehlten Informationen, erlange daher vor allem im Hinblick auf § 329 Abs. 4 StPO Bedeutung: Nach dieser Vorschrift habe das Gericht den Angeklagten zur Fortsetzung der Hauptverhandlung zu laden und dessen persönliches Erscheinen anzuordnen, wenn es die Anwesenheit des Angeklagten in der auf seine Berufung hin durchgeführten Hauptverhandlung trotz der Vertretung durch einen Verteidiger für erforderlich halte. Je weniger Informationen aber dem mit Vertretungsvollmacht ausgestatteten Verteidiger vorliegen, desto eher werde sich für das Gericht die Frage stellen, ob nicht die Anberaumung eines Fortsetzungstermins unter Anordnung des persönlichen Erscheinens des Angeklagten erforderlich sei. Auch aus dem bloßen Umstand, dass sich ein Verteidiger für eine Aussetzung der Hauptverhandlung bzw. für die Anberaumung eines Fortsetzungstermins i.S.v. § 329 Abs. 4 StPO ausspreche, könne nicht hergeleitet werden, dass dieser nicht bereit wäre, im Falle der Ablehnung seines Begehrens den Angeklagten in der Sachverhandlung zu vertreten (vgl. OLG Köln 1991, a.a.O.).
Hinweis:
M.E. ist die Entscheidung zutreffend. Das LG hatte hier vorschnell verworfen (vgl. zu den Verwerfungsfragen Burhoff, HV, Rn 813 ff. und Niehaus, in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtlichen Rechtsmittel und Rechtsbehelfe, 3. Aufl. 2025, Teil A Rn 57 ff., jeweils m.w.N.). Das LG hätte hier nach § 329 Abs. 4 StPO vorgehen und einen Fortsetzungstermin anberaumen und das persönliche Erscheinen des Angeklagten anordnen müssen. Wenn der Angeklagte dann erneut nicht erscheint, kann nach § 329 Abs. 4 S. 2 StPO seine Berufung verworfen werden.
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