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aus ZAP Heft 7, ZAP 2023, S. 339

(Ich bedanke mich bei der Schriftleitung von "ZAP" für die freundliche Genehmigung, diesen Beitrag aus "ZAPR" auf meiner Homepage einstellen zu dürfen.)

Verfahrenstipps und Hinweise für Strafverteidiger (I/2023)

Von Rechtsanwalt Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

Inhaltsverzeichnis

    I. Ermittlungsverfahren

    1. Rechtsmittel gegen zu lange Sicherstellung

    2. Rechtsprechungsübersicht zur Pflichtverteidigung

II. Hauptverhandlung

    1. Vernehmung eines sog. Auslandszeugen

    2. Keine bloße Scheinverhandlung zur Fristwahrung (§ 229 StPO)

 

I. Ermittlungsverfahren

1. Rechtsmittel gegen zu lange Sicherstellung

Hinzuweisen ist auf den BVerfG, Beschl. v. 17.11.2022 – 2 BvR 827/21. Die Entscheidung beweist noch einmal: Der Weg nach Karlsruhe ist der letzte Schritt, der erst begangen werden kann/darf, wenn zuvor alle prozessualen Schritte im fachgerichtlichen Verfahren gegangen worden sind und nicht zum Erfolg geführt haben. Dazu gehört bei einem Vorgehen gegen eine Beschlagnahme von Unterlagen nicht nur die Beschwerde zum LG sondern ggf. auch noch der Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen die Sicherstellung (§ 98 Abs. 2 S. 2 StPO).

Im entschiedenen Fall richtete sich die Verfassungsbeschwerde gegen die Anordnung der Beschlagnahme zahlreicher Unterlagen und Ordner im Rahmen eines Strafverfahrens wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung. Dem waren im April 2013, Juni 2014 und Dezember 2014 richterlich angeordnete Durchsuchungen vorausgegangen. In Vollzug dieser Durchsuchungsbeschlüsse wurden die später beschlagnahmten Gegenstände zur Durchsicht mitgenommen. Die Steuerfahndungsstelle ersuchte erst am 27.1.2020 die zuständige Staatsanwaltschaft, einen Antrag auf Beschlagnahme der Gegenstände zu stellen. Das AG ordnete daraufhin die Beschlagnahme mit Beschl. v. 31.1.2020 an, das LG wies die hiergegen gerichtete Beschwerde des Beschuldigten im April 2021 zurück.

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Nach Auffassung des BVerfG stand der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde bereits der in § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG zum Ausdruck kommende allgemeine Grundsatz der Subsidiarität entgegen. Nach dem Grundsatz der Subsidiarität solle der gerügte Grundrechtsverstoß nach Möglichkeit schon im fachgerichtlichen Verfahren beseitigt werden (vgl. BVerfGE 63, 77, 78). Danach habe ein Beschwerdeführer über das Gebot der Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinn hinaus alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten zu ergreifen, um eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern (vgl. BVerfGE 81, 22, 27 m.w.N.). Die Verweisung auf die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde stehe unter dem Vorbehalt der Zumutbarkeit einer anderweitigen prozessualen Möglichkeit zur Abhilfe (vgl. BVerfGE 134, 106, 115 f. Rn 28 m.w.N.).

Soweit der Beschwerdeführer seinen Einwand, dass die Sicherstellung (§ 110 StPO) unzumutbar lang angedauert habe, erstmals gegen die Beschlagnahmebeschlüsse vorgebracht hat, habe er – so das BVerfG – nicht alle nach Lage des Verfahrens zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten genutzt, um eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung zu erwirken und die Grundrechtsverletzung zu verhindern. Denn ihm wäre es möglich und zumutbar gewesen, die Dauer der Sicherstellung im Wege eines Antrags auf gerichtliche Entscheidung entsprechend § 98 Abs. 2 S. 2 StPO einer fachgerichtlichen Prüfung zu unterziehen (vgl. BVerfGK 1, 126, 133 f.; 15, 225, 236 f.).

Ein derartiger Antrag auf gerichtliche Entscheidung wäre, so das BVerfG, auch nicht offenkundig aussichtslos gewesen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlange nämlich, dass die Durchsicht zügig durchgeführt werde, um abhängig von der Menge des vorläufig sichergestellten Materials und der Schwierigkeit seiner Auswertung in angemessener Zeit zu einer Entscheidung darüber zu gelangen, was als potentiell beweiserheblich dem Gericht zur Beschlagnahme angetragen und was an den Beschuldigten herausgegeben werden soll (BGH, Beschl. v. 5.8.2003 – StB 7/03; vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 30.1.2002 – 2 BvR 2248/00). Ausgehend von diesen Grundsätzen sei die Verfahrensweise der Ermittlungsbehörden erheblichen Bedenken ausgesetzt. Die Mitnahme der Gegenstände zur Durchsicht habe ohne einen erkennbaren sachlichen Grund mehr als fünf Jahre lang angedauert. Das Fehlen eines sachlichen Grundes offenbare sich darin, dass die Staatsanwaltschaft und das LG die Verfahrensweise offen als „bedauerliches Versehen“ bezeichnet haben. Eine solche Verfahrensweise dürfte mit dem Schutzzweck des § 110 StPO, eine übermäßige und auf Dauer angelegte Datenerhebung zu verhindern (vgl. BVerfGE 113, 29, 58), kaum zu vereinbaren sein. Einen ebenso nicht unerheblichen Verfahrensverstoß dürfte es darstellen, dass die Steuerfahndung allem Anschein nach bereits Beweismittel ausgewertet hat. Dies sei ihr aber erst nach richterlicher Anordnung der Beschlagnahme gem. § 94 Abs. 2 i.V.m. § 98 Abs. 1 S. 1 StPO gestattet (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl. 2022, § 110 Rn 2 m.w.N.). Dieser Umstand deute darauf hin, dass grundlegende Verfahrensvorschriften verkannt worden seien.

Hinweis:

Der Beschuldigte vergibt sich mit der vom BVerfG geforderten Reihenfolge seiner „Rechtsmittel“ nichts, denn: Sieht ggf. auch/schon das Fachgericht die Sicherstellung als zu lang und damit unverhältnismäßig an, hat er bereits auf dem Weg sein Ziel erreicht. Sieht das Fachgericht das nicht so, ist der Weg nach Karlsruhe ja nicht versperrt, sondern die Tür für eine erfolgreiche Verfassungsbeschwerde weit geöffnet (wegen weiterer Einzelheiten Hunsmann in: Burhoff, Handbuch für die strafrechtlichen Rechtsmittel und Rechtsbehelfe, 2. Aufl., 2016 Teil B Rn 144 ff. und Geipel in: Burhoff; Handbuch für die strafrechtlichen Rechtsmittel und Rechtsbehelfe, 2. Aufl., 2016 Teil C Rn 1171 ff.).

Inhaltsverzeichnis

2. Rechtsprechungsübersicht zur Pflichtverteidigung

Es wurde in ZAP 2022, 344 ff. (vormals: F. 22 R S. 1181 ff., 1230 ff.) über die (erste) Rechtsprechung zum neuen Recht der Pflichtverteidigung nach der Neuregelung durch das „Gesetz zu Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung“ v. 10.12.2019 (BGBl I, S. 2128; dazu eingehend Burhoff/Hillebrand, EV, Rn 3304 ff.) berichtet. Die danach ergangene bzw. bekannt gewordene Rechtsprechung haben wir in der nachfolgenden Rechtsprechungsübersicht zusammengestellt. Die vorgestellten Entscheidungen stehen, soweit sie nicht auch in Fachzeitschriften veröffentlicht sind, weitgehend alle im Volltext auf der Homepage www.burhoff.de.

· Adhäsionsverfahren

Die Bestellung eines Pflichtverteidigers umfasst auch die Vertretung im Adhäsionsverfahren (BGH, Beschl. v. 30.6.2022 – 1 StR 277/21, NStZ-RR 2022, 316; OLG Brandenburg, Beschl. v. 24.1.2022 – 1 Ws 108/21 (S); a.A. BGH, Beschl. v. 8.12.2021 – 5 StR 162/21; LG Osnabrück, Beschl. v. 5.9.2022 – 18 KLs 5/22, JurBüro 2022, 638).

· Bestellung, Allgemeine Voraussetzungen

In dem Antrag des Wahlverteidigers auf Beiordnung zum Pflichtverteidiger liegt i.d.R. die Ankündigung der Niederlegung des Wahlmandats für den Fall der Beiordnung (LG Siegen, Beschl. v. 16.3.2022 – 10 Qs 26/22). Der Wahlanwalt muss, wenn er einen Beiordnungsantrag stellt, die Niederlegung des Wahlmandats ankündigen/erklären. Wird die Niederlegung nicht ausdrücklich angekündigt, soll der Rechtsanwalt nicht als Pflichtverteidiger bestellt werden können (LG Rostock, Beschl. 16.9.2021 – 22 Qs 157/21; AG Rostock, Beschl. v. 26.8.2021 – 23 Ds 161/21).

· Bestellung, Ausnahme

Die Ausnahmevorschrift des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO, wonach die Bestellung unterbleiben kann, wenn beabsichtigt wird, das Verfahren alsbald einzustellen, betrifft nach ihrem eindeutigen Wortlaut nur die Fälle der antragsunabhängigen Beiordnung von Amts wegen nach § 141 Abs. 2 Nr. 2 und 3 StPO, nicht aber die Beiordnung auf Antrag gem. § 141 Abs. 1 S. 1 StPO (LG Berlin, Beschl. v. 6.10.2022 – 511 Qs 79/22).

· Bestellung, Dauer

Die Pflichtverteidigerbestellung endet regelmäßig erst mit dem rechtskräftigen Abschluss oder der Einstellung des Strafverfahrens; eine Beschränkung der Bestellung auf die jeweilige Instanz ist daher grds. fehlerhaft (KG, Beschl. v. 25.2.2022 – (2) 161 Ss 25/22 [7/22]). Das Strafverfahren i.S.v. § 143 Abs. 1 StPO umfasst auch dem Urteil nachfolgende Entscheidungen; hierzu gehören auch Entscheidungen nach § 57 JGG (OLG Köln, Beschl. v. 28.9.2022 – 2 Ws 484/22). § 143 Abs. 1 und Abs. 2 StPO sind auch im Strafbefehlsverfahren nach § 408b StPO grds. uneingeschränkt anwendbar (LG Karlsruhe, Beschl. 26.7.2022 – 16 Qs 59/22; LG Stade, Beschl. v. 5.8.2022 – 102 Qs 26/22).

· Bestellung, Beweisverwertungsverbot

Eine zu Unrecht unterbliebene Bestellung hat nicht grds. eine Unverwertbarkeit der Beschuldigtenvernehmung zur Folge (BGH, Beschl. v. 5.4.2022 – 3 StR 16/22, StRR /6/2022, 11 m. Anm. Hillenbrand = StraFo 2022, 280 = NJW 2022, 2126).

· Bestellung, Fälle des § 140 StPO

Ein Fall der notwendigen Verteidigung i.S.d. § 140 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 StPO gebietet für sich genommen nicht eine Pflichtverteidigerbestellung nach § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO. Für die Frage, ob die sofortige Bestellung eines Verteidigers erforderlich ist, weil ersichtlich ist, dass der Beschuldigte sich selbst nicht verteidigen kann, ist maßgeblich auf dessen individuelle Schutzbedürftigkeit abzustellen (BGH, Beschl. v. 5.4.2022 – 3 StR 16/22, StRR /6/2022, 11 m. Anm. Hillenbrand = StraFo 2022, 280 = NJW 2022, 2126). Zur Anstaltsunterbringung i.S.d. § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO gehören insb. die verschiedenen Formen der Haft sowie die Unterbringung nach §§ 63, 64 StGB, ebenso indes auch – in analoger Anwendung – die stationäre Behandlung in einer Drogentherapieeinrichtung nach § 35 BtMG sowie ein die persönliche Freiheit erheblich einschränkender Aufenthalt in einer stationären Alkoholentzugsbehandlung (LG Hannover, Beschl. v. 8.4.2022 – 40 Qs 12/22). § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO findet auch dann Anwendung, wenn gegen den Beschuldigten Untersuchungshaft in einem anderen Verfahren vollstreckt wird (LG Hamburg, Beschl. v. 11.4.2022 – 612 Qs 6/22). Die Vorschrift des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO findet im Strafvollstreckungsverfahren entsprechende Anwendung (LG München I, Beschl. v. 16.10.2020 – 23 Qs 30/20).

· Bestellung, Schwere der Tat

Eine zu erwartende Freiheitsstrafe von einem Jahr ist i.d.R. Anlass für die Beiordnung eines Verteidigers (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 19.7.2022 – 2 Ws 183/22; LG Bonn, Beschl. v. 1.3.2022 – 63 Qs 7/22; LG Halle, Beschl. v. 10.9.2021 – 3 Qs 93/20, StV 2022, 143 [Ls.]; vgl. auch OLG Braunschweig, Beschl. v. 27.9.2021 – 1 Ws 210/21). Diese Grenze ist auch dann zu beachten, wenn ihr Erreichen oder Überschreiten erst infolge einer zu erwartenden Gesamtstrafenbildung in Betracht kommt (LG Magdeburg, Beschl. v. 9.5.2022 – 22 Qs 13/22 und v. 1.6.2022 – 21 Qs 23/22). Dabei bedarf es jedoch regelmäßig der Prüfung im konkreten Einzelfall, ob andere Verfahren und die Erwartung einer späteren Gesamtstrafenbildung das Gewicht des abzuurteilenden Falles tatsächlich so erhöhen, dass die Mitwirkung eines Verteidigers geboten ist (LG Halle, Beschl. v. 18.1.2022 – 3 Qs 1/22, StraFo 2022, 105; LG Kiel, Beschl. v. 17.8.2021 – 5 Qs 72/21; Beschl. v. 14.1.2022 – 5 Qs 95/21; ähnlich OLG Braunschweig, Beschl. v. 27.9.2021 – 1 Ws 210/21; zur [verneinten] Bestellung eines Pflichtverteidigers, wenn die Staatsanwaltschaft ggf. nur den Erlass eines Strafbefehls beantragt und damit ein Bewährungswiderruf wenig wahrscheinlich ist (AG Rostock, Beschl. v. 22.2.2022 – 34 Gs 429/22). Eine zur Bewährung ausgesetzte Gesamtfreiheitsstrafe, die für sich genommen allein bereits die – ohnehin nicht starr zu betrachtende – Grenze von einem Jahr Freiheitsstrafe überschreitet, führt nicht dazu, dass jedes weitere Verfahren ohne jegliche Prüfung einen Fall notwendiger Verteidigung auslöst, vor allem dann nicht, wenn der Verurteilte im Strafverfahren der in Rede stehenden Bewährungssache anwaltlich vertreten und damit ausreichend verteidigt ist (LG Rostock, Beschl. v. 14.6.2022 – 11 Qs 95/22).

Für die Beurteilung der Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung nach § 140 Abs. 2 StPO sind auch schwerwiegende mittelbare Nachteile aus einer Verurteilung, wie z.B. eine drohende Einziehungsmaßnahme, in den Blick zu nehmen (LG Karlsruhe, Beschl. v. 16.9.2022 – 6 Qs 41/22; LG Magdeburg, Beschl. v. 28.4.2022 – 25 Qs 32/22; vgl. aber OLG Braunschweig, Beschl. v. 27.9.2021 – 1 Ws 210/21, wonach die Einziehung von Wertersatz i.H.v. 6.000 EUR keine derart schwere Rechtsfolge sein soll, die die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erfordert).

· Bestellung, Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage

Die Schwierigkeit der Sachlage wird ggf. dadurch begründet, dass in der Hauptverhandlung eine Vielzahl von Polizeizeugen zu vernehmen sein wird (LG Düsseldorf, Beschl. v. 24.2.2022 – 18 Qs-82Js 1483/19-9/22). Ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO liegt u.a. vor, wenn fraglich ist, ob ein Beweisergebnis einem Verwertungsverbot unterliegt oder wenn es sich um eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen handelt (LG Karlsruhe, Beschl. v. 14.11.2022 – 16 Qs 62/22). In einem Verfahren wegen Steuerhinterziehung ist die Mitwirkung eines Verteidigers wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage geboten (AG Braunschweig, Beschl. v. 8.9.2022 – 11 Cs 400 Js 50835/22; zur bejahten Bestellung eines Pflichtverteidigers in einem BtM-Verfahren, in dem der Verteidiger die Verfassungswidrigkeit des § 29 BtMG gerügt hat (AG Lüdenscheid, Beschl. v. 21.8.2022 – 51 Ds 42/22).

Für den Begriff der schwierigen Rechtslage ist entscheidend ist, ob die Rechtslage für einen Laien schwierig ist. Dies ist sie zumindest dann, wenn eine Rechtsfrage in Rechtsprechung und Literatur streitig ist oder wenn sie Abgrenzungs- oder Subsumtionsprobleme bereitet, so bei ungeklärten Fragen des materiellen oder formellen Rechts (LG Kiel, Beschl. v. 11.3.2021 – 1 Qs 26/21; LG Potsdam, Beschl. v. 30.8.2022 – 25 Qs 38/22; LG Regensburg, Beschl. v. 9.9.2022 – 5 Qs 157/22 im Hinblick auf die Frage der Volksverhetzung für ein Profilbild, auf dem der gelbe Stern mit der Aufschrift „Ungeimpft“ abgebildet ist). Die Rechtslage rund um die neuen Strafvorschriften des IfSG ist danach nicht einfach (LG Magdeburg, Beschl. v. 8.9.2022 – 21 Qs 54/22). Bei einer wegen ungleichartiger Wahlfeststellung weit gefassten „Rahmenanklage“ können sich im Lauf des Verfahrens derart vielfältige Fallvarianten und Beweiskonstellationen ergeben, dass die Rechtslage ohne juristisches Fachwissen unübersichtlich werden dürfte und deshalb als schwierig i.S.d. § 140 Abs. 2 StPO anzusehen ist (LG Leipzig, Beschl. v. 29.4.2022 – 2 Qs 3/22 jug). Die (subjektive) Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage gebietet die Beiordnung eines Pflichtverteidigers, wenn gegen den Beschuldigten in drei verschiedenen Bundesländern Verfahren anhängig sind, die gesamtstrafenfähig und aus Sicht des Beschuldigten daher koordiniert zu betreiben sind (LG Braunschweig, Beschl. v. 2.12.2021 – 4 Qs 270/21). In Fällen, in denen voraussichtlich eine mögliche Mittäterschaft von einer ebenfalls in den Blick zu nehmenden Beihilfe nach den einschlägigen Kriterien abzugrenzen ist, sind in aller Regel die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO wegen Schwierigkeiten der Rechtslage erfüllt (AG Frankfurt [Oder], Beschl. v. 20.9.2021 – 412 Ds 274 Js 4947/21 [51/21]).

Bei Jugendlichen und Heranwachsenden ist zu beachten, dass diese aufgrund ihrer geringeren Lebenserfahrung und des geistigen und körperlichen Entwicklungsprozesses, in dem sie sich befinden, weit weniger als Erwachsene in der Lage sind, die Abläufe und Tragweite eines Strafverfahrens, insb. auch für ihre weitere schulische und berufliche Entwicklung abzuschätzen und sich dementsprechend zu verteidigen. Der Grundsatz des fairen Verfahrens gebietet deshalb eine diesem Umstand gerecht werdende großzügige und extensive Anwendung des § 68 Abs. 1 Nr. 1 JGG (LG Mannheim, Beschl. v. 16.2.2022 – 7 Qs 9/2022, StraFo 2022, 105). Die Mitwirkung eines Verteidigers ist geboten, wenn die Beschuldigte zur mutmaßlichen Tatzeit erst 14 Jahre und drei Monate alt war und zudem an einer sonstigen kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (ICD-10 F92.8), einer Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung (ICD-10 F94.2) und einer ernsthaften sozialen Beeinträchtigung leidet und zudem nur eine unterdurchschnittliche Intelligenz hat (LG Neuruppin, Beschl. v. 1.12.2022 – 12 Qs 17/22 jug).

· Bestellung, Unfähigkeit der Selbstverteidigung

Leidet der Beschuldigte an einer weit fortgeschrittenen Alkoholerkrankung mit erheblichen körperlichen Folgeerscheinungen und kann er sich wegen seines Zustandes nicht selbst verteidigen, ist ihm ein Pflichtverteidiger zu bestellen (LG Deggendorf, Beschl. v. 2.6.2022 – 1 Qs 31/22). Es können erhebliche Zweifel an der Fähigkeit eines Beschuldigten, sich selbst zu verteidigen, bestehen, wenn aufgrund desolater psychischer und persönlicher Verhältnisse ersichtlich ist, dass er mit behördlichem Schriftverkehr (hier: Strafbefehl) und einer adäquaten Reaktion hierauf schlicht überfordert ist (LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 8.2.2022 – 12 Qs 5/22, StraFo 2022, 103). Besitzt der Beschuldigte keine Deutschkenntnisse und ist zudem in seiner Muttersprache primärer Analphabet, liegt ein Fall notwendiger Verteidigung i.S.v. § 140 Abs. 2 StPO vorliegt (LG Frankfurt [Oder], Beschl. v. 19.10.2021 – 21 Qs 30/21). Bereits die Anordnung der Betreuung allein kann einen Fall einer notwendigen Verteidigung begründen (LG Aurich, Beschl. v. 12.1.2022 – 12 Qs 5/22; LG Berlin, Beschl. v. 6.10.2022 – 511 Qs 79/22). Jedenfalls liegt aber im Falle eines geistigen Gebrechens dann ein Fall notwendiger Verteidigung vor, wenn aufgrund des Grades der Behinderung die Möglichkeit eines Beschuldigten, sich selbst zu verteidigen, gerade nicht vorliegt (LG Berlin, Beschl. v. 6.10.2022 – 511 Qs 79/22). Dass die Verteidigungsfähigkeit der Beschuldigten aufgrund ihrer fehlenden Deutschkenntnisse eingeschränkt ist, reicht für sich allein genommen nicht aus, um die Beiordnung eines Verteidigers zu rechtfertigen (LG Kiel, Beschl. v. 11.3.2021 – 1 Qs 26/21). Kann die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, dass eine Verurteilung des Betroffenen im (Bußgeld) Verfahren Einfluss bei der Entscheidung über mögliche ausländerrechtliche Konsequenzen für den Betroffenen haben könnte, ist eine Pflichtverteidigerbeiordnung gerechtfertigt (AG Kiel, Beschl. v. 10.8.2022 – 35 OWi 556 Js 60154/21; a.A. LG Kiel, Beschl. v. 11.3.2021 – 1 Qs 26/21).

In den Fällen der Pflichtverteidigeraufhebung wegen Haftentlassung ist im Rahmen des insoweit eingeräumten Ermessens stets sorgfältig zu prüfen, ob die frühere mit dem Umstand der Inhaftierung verbundene Behinderung des Angeklagten in seinen originären Verteidigungsrechten und -möglichkeiten entfallen ist oder diese Einschränkung des Angeklagten trotz Aufhebung der Haft fortbesteht und deshalb eine weitere Unterstützung durch einen Verteidiger erfordert (LG Magdeburg, Beschl. v. 11.5.2022 – 25 Qs 33/22, StraFo 2022, 284).

Im Falle mehrerer Mitbeschuldigter kann, wenn ein Mitbeschuldigter einen Verteidiger hat, die Beiordnung eines Rechtsanwalts für die anderen Mitbeschuldigten in Betracht kommen, insb. wenn sich die Beschuldigten gegenseitig belasten (LG Amberg, Beschl. v. 18.11.2022 – 12 Qs 64/22). Ist neben einem Minderjährigen eines seiner Elternteile angeklagt, mit diesem gemeinschaftlich eine Straftat begangen zu haben, so kann sich der Jugendliche in aller Regel nicht selbst verteidigen, weshalb auch dann ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben ist, wenn dem mitangeklagten Elternteil nicht die elterlichen Verfahrensrechte nach § 67 Abs. 4 JGG ganz oder teilweise zu entziehen waren (AG Eilenburg, Beschl. v. 19.10.2022 – 9 Ds 647 Js 1866/22 jug). Hat ein Jugendlicher eine Straftat gemeinsam mit einem Elternteil begangen, so bedarf es i.d.R. einer besonders eingehenden Prüfung der Frage, ob der Jugendliche in der konkreten Konstellation und Situation die nach § 3 JGG erforderliche Reife hatte, eigenverantwortlich zu handeln. Es handelt sich insoweit um eine schwierige Sachlage, zumal dies zu thematisieren dem angeklagten Jugendlichen selbst kaum möglich und zumutbar ist (AG Eilenburg, Beschl. v. 19.10.2022 – 9 Ds 647 Js 1866/22 jug). Die Notwendigkeit der Beiordnung eines Pflichtverteidigers wird sich insofern auch über den Zeitpunkt hinaus erstrecken, mit dem der mitangeklagte Jugendliche volljährig wird. Dies gilt insb. dann, wenn seine finanzielle und familiäre Abhängigkeit fortbesteht (AG Eilenburg, Beschl. v. 19.10.2022 – 9 Ds 647 Js 1866/22 jug).

· Bestellung, Strafvollstreckungsverfahren

Das „Gebot bestmöglicher Sachaufklärung“ (BVerfG, Beschl. v. 8.11.2006 – 2 BvR 578/02) erhebt die gerichtliche Verpflichtung zur Einholung eines kriminalprognostisch-psychiatrischen Sachverständigengutachtens in § 454 Abs. 2 S. 1 StPO zum gesetzlichen Regelfall und indiziert damit zugleich eine besondere Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage i.S.v. § 140 Abs. 2 StPO (OLG Dresden, Beschl. v. 6.4.2022 – 2 Ws 93/22). Ein Verteidigerbeistand ist im Vollstreckungsverfahren insb. zur Erlangung von Akteneinsicht nicht in gleichem Maße erforderlich wie im Erkenntnisverfahren, was auch bei Verfahren betreffend die Ausgestaltung von Weisungen im Rahmen der Führungsaufsicht der Fall ist (KG, Beschl. v. 10.11.2021 – 5 Ws 219-220/21).

Für das behördliche Verfahren über die Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 Abs. 1 BtMG kann dem Verurteilten ein Pflichtverteidiger nicht bestellt werden; insoweit findet § 140 Abs. 2 StPO keine entsprechende Anwendung. Stattdessen ist dem Verurteilten unter den Voraussetzungen des § 1 BerHG auf Antrag Beratungshilfe zu gewähren (OLG Dresden, Beschl. v. 6.5.2022 – 2 Ws 106/22, StraFo 2022, 280; a.A. OLG Jena, Beschl. v. 1.10.2008 – 1 Ws 431/08, NStZ 2010, 525).

Im Vollstreckungsverfahren hat die Dauer der noch zu vollstreckenden Strafe außer Betracht zu bleiben. Für die Bestellung eines Pflichtverteidigers maßgeblich ist hier vielmehr, ob die vollstreckungsrechtliche Lage schwierig ist. Das ist dann der Fall, wenn das Widerrufs- und Beschwerdeverfahren in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Fragen aufwirft, die Aktenkenntnis erfordern oder über die regelmäßig auftretenden Probleme hinausgehen (LG Halle, Beschl. v. 19.9.2022 – 3 Qs 104/22).

· Bestellung, Bußgeldverfahren

Die Rechtslage ist nicht schwierig i.S.v. § 140 Abs. 2 StPO, wenn einem nicht deutschsprachigen Betroffenen ein Bußgeldbescheid zwar zur wirksamen Verteidigung und im Hinblick auf ein faires Verfahren zu übersetzen gewesen und damit ggf. mit Übersetzung zuzustellen gewesen wäre, die Frage der Wirksamkeit der Zustellung des Bußgeldbescheids und dem damit verbundenen Lauf der Einspruchsfrist jedoch keine Rolle (mehr) spielt (LG Koblenz, Beschl. v. 29.9.2022 – 3 Qs 56/22).

· Bestellung, Fall des § 141 StPO

Für die Eröffnung des Tatvorwurfes i.S.v. § 141 Abs. 1 S. 1 StPO genügt es, dass der Beschuldigte durch amtliche Mitteilung oder auf sonstige Art und Weise vom Tatverdacht gegen ihn Kenntnis erlangt hat (LG Hamburg, Beschl. v. 11.3.2022 – 613 Qs 7/22; vgl. aber AG Hamburg, Beschl. v. 22.2.2022 – 163 Gs 259/22, wonach die anderweitige Kenntniserlangung nicht ausreichen soll). Die Auslegung, nach welcher unter der Eröffnung des Tatvorwurfes i.S.v. § 141 Abs. 1 StPO nur die förmliche Mitteilung i.S.v. §§ 136, 163a StPO verstanden wird, ist unter Beachtung der Neuregelung der Vorschriften zur; Bestellung eines Pflichtverteidigers zu eng (LG Hamburg, Beschl. v. 11.3.2022 – 613 Qs 7/22; LG Neubrandenburg, Beschl. v. 30.7.2021 – 23 Qs 86/21).

Eine zu Unrecht unterbliebene Bestellung hat nicht grds. eine Unverwertbarkeit der Beschuldigtenvernehmung zur Folge (BGH, Beschl. v. 5.4.2022 – 3 StR 16/22; StRR 6/2022, 11 = StraFo 2022, 280). Unverzüglich i.S.d. § 141 Abs. 1 S. 1 StPO bedeutet, dass die Pflichtverteidigerbestellung zwar nicht sofort, aber so bald wie möglich ohne schuldhaftes Zögern, d.h. ohne sachlich nicht begründete Verzögerung, erfolgen muss (LG Hamburg, Beschl. v. 11.4.2022 – 612 Qs 6/22; zur Unverzüglichkeit auch noch LG Dresden, Beschl. v. 12.7.2022 – 15 Qs 34/22).

Die Einschränkungen des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO betreffen die Bestellung eines Pflichtverteidigers von Amts wegen und gelten bei Vorliegen eines Antrages gem. § 141 Abs. 1 StPO gerade nicht (LG Düsseldorf, Beschl. v. 18.5.2022 – 4 Qs 15/22; LG Hannover, Beschl. v. 8.4.2022 – 40 Qs 12/22).

· Bestellung, Antrag/Verfahren/Zeitpunkt

Im Regelfall bedarf die Bestellung eines Verteidigers einer ausdrücklichen Verfügung des zuständigen Richters. Es kann die Bestellung eines Verteidigers in Ausnahmefällen aber auch durch das betreffende Gericht aufgrund schlüssigen Verhaltens erfolgen. Voraussetzung für eine konkludente Verteidigerbestellung ist ein Verhalten des zuständigen Richters, das unter Beachtung aller hierfür maßgebenden Umstände zweifelsfrei einen solchen Schluss rechtfertigt (OLG Köln, Beschl. v. 28.3.2022 – 2 Ws 102/22; AG Hamburg-Wandsbek, Beschl. v. 13.4.2022 – 772 Ls 19/20 jug, StraFo 2022, 283).

In dem Antrag eines Wahlverteidigers auf Beiordnung als Pflichtverteidiger ist i.d.R. die Ankündigung der Niederlegung des Wahlmandats für den Fall der Beiordnung zu sehen, ohne dass es einer ausdrücklichen diesbezüglichen Erklärung bedarf (LG Stuttgart, Beschl. v. 14.7.2022 – 18 Qs 36/22).

Die Einräumung einer Frist von einer Woche zur Benennung eines Verteidigers ist i.d.R. geboten, aber auch i.S.d. § 143a Abs. 2 Nr. 1 StPO nicht (zu) kurz (OLG Saarbrücken, Beschl. v. 27.10.2021 – 4 Ws 157/21).

Funktionell zuständig für einen in laufender Hauptverhandlung gestellten Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers ist gem. § 142 Abs. 3 Nr. 3 StPO allein der Vorsitzende. Dies gilt – über den Wortlaut der Vorschrift hinausgehend – nicht nur für die Bestellung, sondern auch für die Ablehnung eines solchen Antrags (OLG Hamm, Beschl. v. 11.10.2022 – 5 Ws 270/22).

· Bestellung, rückwirkende Bestellung

H.M. zumindest in der Rechtsprechung der LG/AG ist es nach wie vor, dass die rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers dann in Betracht kommt, wenn der Antrag auf gerichtliche Beiordnung vor Verfahrensabschluss gestellt wurde und die Voraussetzungen des § 140 StPO vorlagen und aufgrund justizinterner Umstände eine rechtzeitige Bescheidung des Antrags unterblieben ist (LG Bonn, Beschl. v. 1.3.2022 – 63 Qs 7/22; LG Berlin, Beschl. v. 6.10.2022 – 511 Qs 79/22; LG Dresden, Beschl. v. 12.7.2022 – 15 Qs 34/22; LG Düsseldorf, Beschl. v. 18.5.2022 – 4 Qs 15/22; LG Frankfurt a.M., Beschl. v. 8.3.2022 – 5/6 Qs 20/22; LG Frankfurt [Oder], Beschl. v. 30.5.2022 – 24 Qs 36/22; LG Hamburg, Beschl. v. 11.4.2022 – 612 Qs 6/22; LG Karlsruhe, Beschl. v. 14.11.2022 – 16 Qs 62/22; LG Kiel, Beschl. v. 22.7.2022 – 5 Qs 7/22; LG Konstanz, Beschl. v. 19.9.2022 – 3 Qs 68/22; LG Leipzig, Beschl. v. 4.5.2022 – 8 Qs 18/22; u.a. LG Magdeburg, Beschl. v. 10.2.2022 – 25 Qs 8/22; LG Neuruppin, Beschl. v. 1.12.2022 – 12 Qs 17/22 jug; LG Stuttgart, Beschl. v. 14.7.2022 – 18 Qs 36/22; AG Chemnitz, Beschl. v. 30.5.2022 – 11 Gs 1615/22; AG Erfurt, Beschl. v. 27.4.2022 – 30 Gs 962/22; AG Karlsruhe, Beschl. v. 4.1.2022 – 31 Gs 13/22; AG Mönchengladbach, Beschl. v. 15.7.2022 – 57 Gs 621/22; AG Ulm, Beschl. v. 11.10.2022 – 3 Gs 2482/22). Nach anderer Auffassung soll eine rückwirkende nachträgliche Bestellung eines Rechtsanwalts zum Pflichtverteidiger nicht in Betracht kommen. Das soll auch dann gelten, wenn das Verfahren insgesamt noch nicht abgeschlossen ist bzw. in den Fällen des § 154 Abs. 2 StPO (u.a. LG Aurich, Beschl. v. 9.5.2022 – 12 Qs 9/22; Beschl. v. 30.5.2022 – 12 Qs 89/22; Beschl. v. 7.6.2022 – 12 Qs 93/22; LG Berlin, Beschl. v. 21.12.2022 – 534 Qs 97/22; LG Bielefeld, Beschl. v. 28.3.2022 – 20 Qs 99/22; LG Braunschweig, Beschl. v. 23.11.2022 – 9 Qs 346/22; LG Heilbronn, Beschl. v. 20.6.2022 – 8 Qs 7/2; LG Kiel, Beschl. v. 31.3.2022 – 10 Qs 19722; [auch] LG Magdeburg, Beschl. v. 3.6.2022 – 21 Qs 41/22; LG Oldenburg, Beschl. v. 7.3.2022 – 4 Qs 76/22; Beschl. v. 6.12.2022 – 3 Qs 409/22; AG Flensburg, Beschl. v. 4.4.2022 – 480 Gs 829/22; AG Neuruppin, Beschl. v. 10.11.2022 – 89 Gs 1790/22).

· Entpflichtung/Auswechselung, Allgemeines

Nach rechtskräftigem Abschluss eines Strafverfahrens ist die Aufhebung einer Pflichtverteidigerbestellung nicht mehr möglich (KG, Beschl. v. 28.3.2022 – 2 Ws 57/22). Liegen die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Bestellung eines Pflichtverteidigers vor, ist diese grds. gem. § 143a Abs. 1 S. 1 StPO vorzunehmen. Ein Ermessen des Vorsitzenden des Gerichts, die Bestellung eines Verteidigers gleichwohl fortdauern zu lassen, besteht schon nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht (OLG Köln, Beschl. v. 28.9.2022 – 2 Ws 484/22).

· Entpflichtung, Gründe

Ob das Vertrauensverhältnis zwischen Verteidiger und Beschuldigtem endgültig zerstört ist oder aus einem sonstigen Grund keine angemessene Verteidigung des Beschuldigten gewährleistet ist, beurteilt sich vom Standpunkt eines vernünftigen und verständigen Beschuldigten und muss vom Antragsteller substantiiert dargelegt werden. Die behauptete Zerstörung des Vertrauensverhältnisses muss mit konkreten Tatsachen belegt werden, sodass pauschale, nicht näher belegbare Vorwürfe einen Pflichtverteidigerwechsel nicht rechtfertigen (BGH, Beschl. v. 4.2.2022 – 5 StR 366/21; s.a. BGH, Beschl. v. 21.12.2021 – 4 StR 295/21; s.a. BGH, Beschl. v. 25.8.2022 – StB 35/22 und LG Hamburg, Beschl. v. 9.11.2022 – 636 Qs 17/22). Eine endgültige Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zum Pflichtverteidiger ergibt sich weder aus Beschimpfungen/haltlosen Vorwürfen noch aus der Erhebung einer zivilrechtlichen Klage gegen den Pflichtverteidiger (OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 29.11.2022 – 3 Ws 420/44). Die Äußerung eines beigeordneten Rechtsanwalts, wonach die Hauptverhandlung „eine Farce“ sei und weder er noch der Angeklagte sich daher an ihr aktiv beteiligen würden, stellt keine ernsthafte und endgültige Verteidigungsverweigerung dar und rechtfertigt eine Entpflichtung des Pflichtverteidigers (nach § 145 Abs. 1 S. 1 StPO) auch dann nicht, wenn die Verteidigung bei Zeugenvernehmungen tatsächlich auf die Ausübung ihres Fragerechts verzichtet (OLG Schleswig, Beschl. v. 21.2.2022 – 1 Ws 26/22, StraFo 2022, 106). Voraussetzung für die Aufhebung einer Beiordnung der Pflichtverteidigerbestellung ist, dass konkrete Umstände vorgetragen werden, aus denen sich der endgültige Fortfall, der für ein Zusammenwirken zu Verteidigungszwecken notwendigen Grundlage ergibt. Das kann der Fall sein bei Grenzüberschreitungen des Angeklagten, wenn diese den Zweck der Pflichtverteidigung, dem Beschuldigten einen geeigneten Beistand zu sichern und einen geordneten Verfahrensablauf zu gewährleisten, gefährden (BGH, Beschl. v. 29.12.2022 – 1 StR 284/22; zur Verneinung einer zur Entpflichtung des Pflichtverteidigers führenden gröblichen Pflichtverletzung OLG Oldenburg, Beschl. v. 10.1.2023 – 1 Ws 6+9/23). Ein im Verhältnis des Beschuldigten zum Verteidiger wurzelnder wichtiger Grund ist regelmäßig nicht anzuerkennen, wenn dieser Grund allein vom Beschuldigten verschuldet ist (LG Hamburg, Beschl. v. 9.11.2022 – 636 Qs 17/22).

Die Voraussetzungen des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 Alt. 2 StPO sind erfüllt, wenn der Rechtsanwalt an 8 von 16 Hauptverhandlungstagen verhindert ist (BGH, Beschl. v. 24.10.2022 – StB 44/22). Befindet sich der Beschuldigte bezogen auf den Zeitpunkt der Antragstellung fast drei Monate in Untersuchungshaft, ohne vom Pflichtverteidiger besucht worden zu sein, obwohl er telefonisch mehrfach im Verteidigerbüro darum gebeten hat, kommt eine Entpflichtung des Pflichtverteidigers in Betracht (LG Kiel, Beschl. v. 6.4.2022 – 7 KLs 592 Js 48961/21).

An die Pflicht des Pflichtverteidigers zur Substantiierung seines Sachvortrags zur Darlegung einer endgültigen Zerstörung des Vertrauensverhältnisses können nach den Umständen des Einzelfalls geringere Anforderungen zu stellen sein als an die Substantiierungspflicht des Beschuldigten selbst (OLG Saarbrücken, Beschl. v. 1.7.2022 – 4 Ws 194/22).

Maßgeblich für den Fristbeginn nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO ist nicht die tatsächliche Kenntnis, sondern die „Bekanntmachung“ des Bestellungsbeschlusses an den Beschuldigten. Die Drei-Wochen-Frist des § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 StPO beginnt nicht zu laufen, wenn der Beschuldigte nicht auf die Möglichkeit der Auswechslung des Pflichtverteidigers und die dabei einzuhaltende Frist hingewiesen wurde (LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 8.3.2022 – 13 Qs 16/22).

Ein Pflichtverteidigerwechsel nach § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO kommt nur in Betracht, wenn entweder das Vertrauensverhältnis zwischen dem Pflichtverteidiger und dem Angeklagten endgültig zerstört oder aus einem sonstigen Grund keine angemessene Verteidigung des Angeklagten gewährleistet ist (BGH, Beschl. v. 22.2.2022 – StB 2/22 u. StB 3/22, StRR 5/2022, 15).

· Entpflichtung/Umbeiordnung

Der Wechsel des Pflichtverteidigers ist seit Inkrafttreten des Gesetzes vom 10.12.20218 (BGBl I S. 2128) gesetzlich in § 143a StPO geregelt. Der einverständliche Pflichtverteidigerwechsels wurde durch das genannte Gesetz zwar nicht explizit geregelt, soll aber nach den von der Rechtsprechung entwickelten Maßgaben weiterhin möglich sein (LG Braunschweig, Beschl. v. 22.12.2022 – 4 Qs 371/22).

· Mehrere Pflichtverteidiger

Für die Auslegung des § 144 Abs. 1 StPO nach neuem Recht kann auf die (alte) Rechtsprechung zurückgegriffen werden, die sich vor der Reform durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 (BGBl I S. 2128) zur Zulässigkeit der Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers als Sicherungsverteidiger herausgebildet hatte (BGH, Beschl. v. 25.8.2022 – StB 35/22; OLG Köln, Beschl. v. 28.3.2022 – 2 Ws 102/22).

Die Beiordnung eines weiteren Pflichtverteidigers nach § 144 StPO hat eigenständige, in den Umständen des Falles selbst liegende, sachliche Voraussetzungen. Sie dient nicht der Entlastung des weitgehend verhinderten Pflichtverteidigers (BGH, Beschl. v. 25.8.2022 – StB 35/22). Die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers nach § 144 Abs. 1 StPO ist nicht schon dann geboten, wenn sie eine das weitere Verfahren sichernde Wirkung hat, also grds. zur Verfahrenssicherung geeignet ist. Vielmehr muss die Bestellung eines Sicherungsverteidigers zum Zeitpunkt ihrer Anordnung zur Sicherung der zügigen Verfahrensdurchführung notwendig sein (BGH, Beschl. v. 24.3.2022 – StB 5/22, StRR 6/2022, 18 = StraFo 2022, 285; Beschl. v. 5.5.2022 – StB 12/22; KG, Beschl. v. 12.1.2022 – 4 Ws 4/22). Die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers ist daher lediglich in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht zu ziehen. Ein derartiger Fall ist nur anzunehmen, wenn hierfür – etwa wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Schwierigkeit der Sache – ein „unabweisbares Bedürfnis“ besteht, um eine sachgerechte Wahrnehmung der Rechte des Angeklagten sowie einen ordnungsgemäßen und dem Beschleunigungsgrundsatz entsprechenden Verfahrensverlauf zu gewährleisten (BGH, Beschl. v. 24.3.2022 – StB 5/22, StRR 6/2022, 18 = StraFo 2022, 285; Beschl. v. 5.5.2022 – StB 12/22). Von einer solchen Notwendigkeit ist auszugehen, wenn sich die Hauptverhandlung voraussichtlich über einen besonders langen Zeitraum erstreckt und zu ihrer regulären Durchführung sichergestellt werden muss, dass auch bei dem Ausfall eines Verteidigers weiterverhandelt werden kann, oder der Verfahrensstoff so außergewöhnlich umfangreich oder rechtlich komplex ist, dass er nur bei arbeitsteiligem Zusammenwirken mehrerer Verteidiger in der zur Verfügung stehenden Zeit durchdrungen und beherrscht werden kann (BGH, Beschl. v. 24.3.2022 – StB 5/22, StRR 6/2022, 18 = StraFo 2022, 285; Beschl. v. 5.5.2022 – StB 12/22; OLG Brandenburg, Beschl. v. 21.10.2021 – 2 Ws 166/21 (S); LG Köln, Beschl. v. 16.11.2021 – 111 Ks 6/21). Aus dem Umstand, dass die Ermittlungen teilweise auf Encrochat-Daten beruhen, ergibt sich nicht zwingend eine besondere Komplexität, die die Bestellung eines zweiten Pflichtverteidigers erfordert (LG Frankfurt [Oder], Beschl. v. 7.4.2022 – 22 Qs 18/22).

Vor der Aufhebung der Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers nach § 144 Abs. 2 StPO ist dem Beschuldigten nach § 144 Abs. 2 S. 2 StPO i.V.m. § 142 Abs. 5 S. 1 StPO Gelegenheit zu geben, innerhalb einer vom Gericht zu bestimmenden Frist den Pflichtverteidiger zu bezeichnen, dessen Beiordnung aufgehoben werden soll. Macht der Beschuldigte von der Möglichkeit des § 142 Abs. 5 S. 1 StPO Gebrauch, kann nur der von ihm bezeichnete Verteidiger nach § 144 Abs. 2 StPO entpflichtet werden. Etwas anderes gilt beim Vorliegen eines wichtigen Grundes (OLG Saarbrücken, Beschl. v. 1.9.2022 – 4 Ws 268/22).

· Rechtsmittel, Allgemeines

Die Versagung der Bestellung eines Pflichtverteidigers ist als prozessuale Zwischenentscheidung regelmäßig nicht mit einer Verfassungsbeschwerde angreifbar (VerfGH Sachsen, Beschl. v. 14.10.2021 – Vf. 48-IV-21).

Durch die Bestellung eines Pflichtverteidigers als solche ist ein Beschuldigter im Regelfall nicht beschwert; er kann diese daher grds. nicht anfechten (BGH, Beschl. v. 15.11.2022 – StB 51/22). Das Rechtsmittelgericht nimmt bei der Entscheidung über die sofortige Beschwerde gegen die Ablehnung der Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers durch den Vorsitzenden des erkennenden Gerichts keine eigenständige Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 144 Abs. 1 StPO vor und übt kein eigenes Ermessen auf der Rechtsfolgenseite aus, sondern kontrolliert die angefochtene Entscheidung lediglich im Rahmen einer Vertretbarkeitsprüfung dahin, ob der Vorsitzende seinen Beurteilungsspielraum und die Grenzen seines Entscheidungsermessens überschritten hat (BGH, Beschl. v. 5.5.2022 – StB 12/22).

Mit der Ausgestaltung des Rechtsmittels betreffend die (Nicht-)Bestellung eines Pflichtverteidigers als sofortiger Beschwerde ist es nicht zu vereinbaren, wenn der Angeklagte, dessen Antrag auf Bestellung eines (zusätzlichen) Pflichtverteidigers abgelehnt worden ist, nach Eintritt der Rechtskraft aufgrund eines neuerlichen inhaltsgleichen Antrags eine Neubeurteilung der Sach- und Rechtslage durch das Ausgangsgericht und anschließend durch das Beschwerdegericht erwirken könnte (OLG Hamm, Beschl. v. 21.6.2022 – 5 Ws 118/22).

Dem Pflichtverteidiger steht gegen die Ablehnung einer von ihm beantragten Entpflichtung ein eigenes Beschwerderecht zu (OLG Saarbrücken, Beschl. v. 1.7.2022 – 4 Ws 194/22).

· Revision

Auch eine mittels elektronischem Dokument übermittelte Revisionsbegründung des Pflichtverteidigers muss von dem beigeordneten Verteidiger signiert sein und darf mithin nicht „in Vertretung für Rechtsanwalt … “ durch einen anderen Rechtsanwalt signiert worden sein (BGH, Beschl. v. 8.6.2022 – 5 StR 177/22).

Einem Antrag des Angeklagten, ihm für die Anfertigung der Revisionsbegründungsschrift einen Pflichtverteidiger beizuordnen, kann erst entsprochen werden, wenn das Mandat des Wahlverteidigers beendet ist. Hat der Wahlverteidiger das Mandat nicht niedergelegt und werden weder Umstände dargetan, die der fristgerechten Begründung entgegenstünden oder aber einen offenkundigen Mangel der Verteidigung begründen könnten, ist der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unzulässig (BGH, Beschl. v. 15.11.2021 – 6 StR 387/21).

Inhaltsverzeichnis

II. Hauptverhandlung

1. Vernehmung eines sog. Auslandszeugen

In der Praxis spielen immer wieder Beweisanträge auf Vernehmung eines sog. Auslandszeugen eine Rolle. So auch in einem BtM-Verfahren. Das LG hatte den Angeklagten wegen Handeltreibens mit BtM in nicht geringer Menge und seine Ehefrau wegen Beihilfe verurteilt. Nach den Feststellungen des LG hatte sie ein Erbbaurecht an einer unbewohnten Doppelhaushälfte erworben, damit ihr Ehemann dort in Absprache mit ihr eine Cannabisplantage anlegen konnte. Durch zwei Ernten habe der Ehemann insgesamt 279.000 EUR eingenommen. Die Revision der Angeklagten hatte mit der Verfahrensrüge Erfolg. Diese war darauf gestützt worden, dass das LG einen Beweisantrag auf Vernehmung eines „Auslandszeugen“ abgelehnt hat. Nach Darstellung des Angeklagten will er das Haus lediglich von 2016 bis 2019 renoviert haben. Anfang 2019 habe sein Schwager das Haus gemietet und dann wohl an Niederländer untervermietet. Diese hätten wohl die Plantage anlegt. Die Polizei hatte in dem Haus DNA-Spuren von drei Personen gefunden, die in einer niederländischen Datenbank erfasst waren. Eine von ihnen war wegen BtM-Delikten vorbestraft. Nach Auffassung des BGH (BGH, Beschl. v. 24.11.2022 – 4 StR 263/22) hat das LG den Beweisantrag mit rechtsfehlerhafter Begründung abgelehnt und dadurch seine Aufklärungspflicht verletzt.

Der BGH (a.a.O.) hat – anders als das LG – den Antrag als Beweisantrag i.S.d. § 244 Abs. 3 S. 1 StPO qualifiziert. Zur bestimmten Bezeichnung konkreter Tatsachen reiche es hier aus, die unter Beweis gestellten Tätigkeiten der Zeugen als „Aufbauen“ der Plantage sowie als „Einbringen“ der Cannabis-Pflanzen zu benennen. Angesichts eines unter Beweis gestellten komplexen, mehraktigen Tuns der Zeugen seien solche schlagwortartigen Verkürzungen zulässig, wenn sie den zu beweisenden Vorgang in seinen entscheidungserheblichen Umrissen hinreichend deutlich werden lassen (vgl. BGH, Urt. v. 13.6.2007 – 4 StR 100/07; Becker in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 244 Rn 98; Bachler in: BeckOK-StPO, 45. Ed., § 244 Rn 17). Eine umfangreiche Beschreibung der Tätigkeiten sei damit ebenso wenig erforderlich wie die – hier ohnehin kaum mögliche – Zuordnung einzelner Teilakte zu bestimmten Zeugen. Einer genaueren zeitlichen Eingrenzung der Tätigkeiten als auf den im Beweisantrag angegebenen Zeitraum zwischen dem 1.2. und 30.6. habe es nicht bedurft, da sie von anderen Lebenssachverhalten bereits dadurch unterschieden werden konnten, dass sie sich auf den Aufbau einer bestimmten, im Beweisantrag bezeichneten und durch die in Bezug genommenen Lichtbilder näher dokumentierten Plantage bezogen.

Der BGH nimmt dann auch noch einmal zu den Gründen für die Ablehnung eines Beweisantrages auf Vernehmung eines Auslandszeugen Stellung. Nach § 244 Abs. 5 S. 2 StPO könne ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Zeugen, dessen Ladung im Ausland zu bewirken wäre, abgelehnt werden, wenn dessen Anhörung nach pflichtgemäßer Beurteilung des Gerichts zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich sei. Ob die Ladung und Vernehmung eines Auslandszeugen geboten sei, richte sich mithin – insoweit nicht anders als bei Annahme eines bloßen Beweisermittlungsantrags – nach der Aufklärungspflicht des Gerichts i.S.d. § 244 Abs. 2 StPO (BGH NStZ 2017, 96; Beschl. v. 19.1.2010 – 3 StR 451/09, jeweils m.w.N.). Ob das Gebot des § 244 Abs. 2 StPO, die Beweisaufnahme zur Erforschung der Wahrheit auf alle entscheidungsrelevanten Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, es gebiete, dem Beweisantrag auf Vernehmung eines Auslandszeugen nachzukommen, könne nur unter Berücksichtigung der jeweiligen Besonderheiten des Einzelfalles beurteilt werden. Allgemein gelte lediglich der Grundsatz, dass bei einem durch die bisherige Beweisaufnahme gesicherten Beweisergebnis auf breiter Beweisgrundlage eher von der Vernehmung des Auslandszeugen abgesehen werden könne. Dagegen werde die Vernehmung des Auslandszeugen umso eher notwendig sein, je ungesicherter das bisherige Beweisergebnis erscheint, je größer die Unwägbarkeiten seien und je mehr Zweifel hinsichtlich des Werts der bisher erhobenen Beweise überwunden werden müssen.

In die gebotene Abwägung habe das Tatgericht – vor dem Hintergrund der bisherigen Beweislage – des Weiteren die Bedeutung und den Beweiswert der Aussage des benannten Zeugen einzustellen. Dabei komme der Aussage ein besonderes Gewicht zu, wenn der Auslandszeuge Vorgänge bekunden solle die für den Schuldvorwurf von zentraler Bedeutung seien (vgl. zum Ganzen BGH, Beschl. v. 16.2.2022 – 4 StR 392/20; Urt. v. 12.7.2018 – 3 StR 144/18; Urt. v. 13.3.2014 – 4 StR 445/13, Becker, a.a.O., § 244 Rn 357). Bei der Bemessung des Beweiswertes der Aussage sei das Tatgericht von dem Verbot der Beweisantizipation befreit und dürfe seine Entscheidung davon abhängig machen, welche Ergebnisse von der beantragten Beweisaufnahme zu erwarten seien und wie diese zu erwartenden Ergebnisse zu würdigen wären (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschl. v. 16.2.2022 – 4 StR 392/20; Beschl. v. 12.7.2018 – 3 StR 144/18; Urt. v. 13.3. 2014 – 4 StR 445/13 und Urt. v. 18.1.1994 – 1 StR 745/93, BGHSt 40, 60, 62; vgl. näher Thörnich, Der Auslandszeuge im Strafprozess, 2020, S. 547 ff.). Neben der antizipierenden Würdigung des Inhalts einer Aussage des Zeugen könne die Ablehnung eines auf Vernehmung eines Auslandszeugen gerichteten Beweisantrags im Einzelfall auch dadurch gerechtfertigt sein, dass der Beweiswert des Zeugen wegen der voraussichtlichen Unergiebigkeit seiner Aussage oder der Unerreichbarkeit des Zeugen gering sei. Von Bedeutung sei auch, ob ein Zeuge im Falle seines Erscheinens ggf. keine Angaben zur Sache machen werde. Dies gelte insb. für Zeugen, die der Beteiligung an der Tat verdächtig seien und denen deswegen ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO zustehe (BGH, Beschl. v. 16.2.2022 – 4 StR 392/20; Beschl. v. 23.10.2013 – 5 StR 401/13; Beschl. v. 25.4.2002 – 3 StR 506/01; Becker, a.a.O., § 244 Rn 357).

Hinweis:

Alle Jahre wieder gibt es einen Beschluss des BGH zum „Auslandszeugen“ (dazu auch Hirsch in Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 10. Aufl., 2022, Rn 482 ff.). Die vorliegende Entscheidung fasst die Rechtsprechung des BGH zu der Problematik zusammen und zeigt dem Verteidiger worauf er achten und zu welchen Punkten er sich in seinem Beweisantrag, der ja unter erleichterten Umständen zurückgewiesen werden kann, ggf. äußern muss. Es ist vor allem auch darauf zu achten, dass das Gericht in dem für die Ablehnung eines auf die Vernehmung eines Auslandszeugen gerichteten Beweisantrags erforderlichen Gerichtsbeschluss (§ 244 Abs. 6 S. 1 StPO) die maßgeblichen Erwägungen so umfassend dargelegt werden, dass es dem Antragsteller/Verteidiger möglich wird, seine Verteidigung auf die neue Verfahrenslage einzustellen, und das Revisionsgericht überprüfen kann, ob die Antragsablehnung auf einer rational nachvollziehbaren, die wesentlichen Gesichtspunkte des Einzelfalles erkennbar berücksichtigenden Argumentation beruht (u.a. BGH, Beschl. v. 16.2.2022 – 4 StR 392/20).

Inhaltsverzeichnis

2. Keine bloße Scheinverhandlung zur Fristwahrung (§ 229 StPO)

Der BGH hat in einem Beschl. v. 13.12.2022 (– 6 StR 95/22) noch einmal zur Fristwahrung durch Fortsetzungstermine Stellung genommen. Die Frage spielt im Hinblick auf § 229 StPO in der Praxis immer wieder eine Rolle.

Folgender – etwas ungewöhnlicherSachverhalt: Die Hauptverhandlung in dem Verfahren wegen Vorenthaltens von Arbeitsentgelten begann am 4.5.2017 und endete erst mit Urt. v. 25.3.2021. Am 20.7.2017, dem 9. Verhandlungstag, hatte die Verteidigung Beweisanträge, insb. zur Schadensberechnung und Leistungsfähigkeit des Angeklagten gestellt, durch die sich das Verfahren erheblich verzögert hat. Im Termin vom 8.9.2020, dem 62. Verhandlungstag, lehnte das LG den am 20.7.2017 gestellten Beweisantrag mit der Begründung ab, dass es aufgrund erfolgter Schadensberechnung über ausreichende eigene Sachkunde zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit des Angeklagten hinsichtlich der mutmaßlich vorenthaltenen Arbeitsentgelte verfüge. Gegenstand der Hauptverhandlung in den Jahren 2018, 2019 und 2020 war im Wesentlichen die Erörterung des Verfahrensstandes in Bezug auf am 21.12.2017 veranlassten weiteren Ermittlungen des Hauptzollamts zur Buchhaltung des Angeklagten. Häufig wurden nur Verfügungen des Vorsitzenden verlesen, die sich an die StA richteten und Ermittlungsaufträge enthielten. Das LG hatte regelmäßig von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Hauptverhandlung gem. § 229 Abs. 1 und 2 StPO bis zu drei Wochen bzw. einem Monat zu unterbrechen. Infolgedessen fand diese im Jahr 2018 lediglich an 19 Tagen, im Jahr 2019 an 17 Tagen und im Jahr 2020 an 16 Tagen statt, wobei zumeist nur wenige Minuten lang verhandelt wurde. Insgesamt belief sich die Dauer der Hauptverhandlung im Jahr 2018 auf siebeneinhalb, im Jahr 2019 auf fünfeinhalb und im Jahr 2020 auf sechseinhalb Stunden. Dagegen hat die Angeklagte Revision eingelegt, die erfolgreich war.

Der BGH (a.a.O.) fasst zunächst seine Grundsätze zur Sachverhandlung i.S.d. § 229 StPO zusammen (vgl. u.a. BGH, NStZ 2018, 297, 298 = StRR 3/2018, 17; NStZ 2014, 220; NStZ 2012, 343 = StRR 2012, 224; BGH, NStZ 2008, 115 = StRR 2008, 103). Fazit daraus ist, dass es auf jeden Fall gegen § 229 StPO verstößt, wenn aus dem gesamten Verfahrensgang erkennbar wird, dass das Gericht mit der Verhandlung nicht die substantielle Förderung des Verfahrens bezweckt, sondern allein die Wahrung der Unterbrechungsfrist im Auge hat (BGH NStZ-RR 2022, 383).

Daran gemessen hatte der BGH (a.a.O.) gegen die Verfahrensweise des LG durchgreifende rechtliche Bedenken. Es könne dahinstehen, ob es an einzelnen Verhandlungstagen überhaupt nicht zu Verfahrensvorgängen kam, die das Verfahren inhaltlich auf den abschließenden Urteilsspruch förderten. Denn selbst wenn an allen Sitzungstagen Verfahrenshandlungen vorgenommen wurden, die grds. zur Unterbrechung der Fristen des § 229 StPO geeignet gewesen seien, so sei aus dem gesamten Verfahrensgang erkennbar, dass das LG dabei zumindest an sieben Verhandlungstagen nur der äußeren Form nach tätig wurde zu dem Zweck, die Vorschrift zu umgehen, und dass der Gesichtspunkt der Verfahrensförderung dahinter als bedeutungslos zurücktrat. Die Verfahrensweise des LG in den Jahren 2018, 2019 und 2020 belege, dass es ihm in dieser Zeit im Wesentlichen nicht um die substanzielle Förderung des Verfahrens, sondern allein um die Wahrung der Unterbrechungsfrist ging. Dadurch habe ersichtlich eine Aussetzung der Hauptverhandlung vermieden werden sollen, obwohl das LG aufgrund des am 20.7.2017 gestellten Antrags etwa drei Jahre lang damit befasst gewesen sei, außerhalb der Hauptverhandlung die Buchhaltung des Angeklagten nach seinen Vorgaben aufbereiten und mehrere alternative Schadensberechnungen erstellen zu lassen. Um die Hauptverhandlung trotz der Verzögerungen fortzuführen, habe das LG die Unterbrechungsfristen des § 229 StPO über Jahre hinweg ausgereizt und die Verhandlung zeitlich dermaßen gestreckt, dass die jährliche Verhandlungsdauer kaum über diejenige eines einzigen gewöhnlichen Sitzungstages hinausging. Im Jahr 2018 habe das LG – verteilt auf 19 Sitzungstage – insgesamt nur siebeneinhalb Stunden verhandelt und in den Jahren 2019 und 2020 war die gesamte Verhandlungsdauer mit fünfeinhalb bzw. sechseinhalb Stunden noch kürzer, verteilt auf 17 bzw. 16 Tage. Gegenstand der Verhandlung sei zumeist der Stand der Dinge betreffend die außerhalb der Hauptverhandlung stattfindenden Vorgänge der Aufarbeitung der Buchhaltung des Angeklagten und der Erstellung der alternativen Schadensberechnung gewesen.

Hinweis:

Der BGH geht ja manchmal mit dem Begriff der „Sachverhandlung“ recht großzügig um, aber hier war es ihm dann wohl doch zu viel. Denn m.E. lag es auf der Hand, dass es hier nicht mehr um Verfahrensförderung gegangen ist, sondern allein darum, die Aussetzung der Hauptverhandlung zu verhindern. Wahrscheinlich wäre es insgesamt schneller gegangen, wenn 2017 die Hauptverhandlung ausgesetzt und nach zügigen Nachermittlungen dann neu begonnen worden wäre.

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