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aus ZAP Heft 7/2021, F 22 R, S. 1193

(Ich bedanke mich bei der Schriftleitung von "ZAP" für die freundliche Genehmigung, diesen Beitrag aus "ZAP" auf meiner Homepage einstellen zu dürfen.)

Verfahrenstipps und Hinweise für Strafverteidiger (I/2021)

Von Rechtsanwalt Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg

Inhaltsverzeichnis

I. Hinweise

II. Ermittlungsverfahren

  1. Durchsuchung

    a) Anonyme Anzeige als Grundlage einer Durchsuchung

    b) Aufklärung persönlicher Verhältnisse für die Festsetzung der Tagessatzhöhe

  2. Terminsverlegung wegen Corona?

III. Hauptverhandlung

  1. Vereinbarte Unterbringung

  2. Ausschluss der Öffentlichkeit

  3. Unterbrechung der Hauptverhandlung (§ 229 StPO, § 10 EGStPO)

    a) Hemmung der Unterbrechungsfrist (§§ 229 Abs. 2, 3 StPO)

    b) Anwendung von § 10 EGStPO

IV. Bußgeldverfahren

  1. BVerfG zu Informationen außerhalb der Bußgeldakte

  2. Folgerungen für die Praxis

  3. Reaktionen aus der Praxis

I. Hinweise

Seit Mitte Januar 2021 befindet sich der von der Bundesregierung eingebrachte „Entwurf eines Gesetzes zur Fortentwicklung der Strafprozessordnung und zur Änderung weiterer Vorschriften“ im Gesetzgebungsverfahren. Mit dem Vorhaben soll – so der Entwurf – das Strafverfahren den sich wandelnden gesellschaftlichen und technischen Rahmenbedingungen unter Wahrung der Aufgaben der Strafrechtspflege (Aufklärung von Straftaten, Ermittlung des Täters, Feststellung von Schuld und Bestrafung, Freispruch von Unschuldigen) angepasst werden (BR-Drucks. 57/21, S. 1).

Es ist hier nicht der Platz auf alle Einzelheiten der geplanten Änderungen einzugehen, zumal auch nicht absehbar ist, wann und vor allem welche Änderungen kommen. Daher soll hier nachfolgend nur ein Überblick gegeben werden.

Änderungen im Recht des Ermittlungsverfahrens:

  • In einem neuen § 95a StPO soll die Möglichkeit einer „heimlichen Beschlagnahme“ eingeführt werden, indem bei einer richterlichen Beschlagnahme eines Gegenstands, der sich im Gewahrsam einer nichtbeschuldigten Person befindet, die Benachrichtigung des Beschuldigten zurückgestellt werden kann, um sonstige verdeckt geführte Ermittlungsmaßnahmen nicht zu gefährden. Um dieser Möglichkeit auch bei der Durchsuchung nach § 103 StPO einen Anwendungsbereich zu eröffnen, hat man auch in § 110 StPO Folgeänderungen vorgenommen (vgl. BR-Drucks 57/21, S. 63 ff., 78 ff.).

  • Die Befugnis zur Postbeschlagnahme nach § 99 StPO soll um ein „Auskunftsverlangen“ in einem neuen Abs. 2 ergänzt werden (zur Postbeschlagnahme Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 8. Aufl., 2019, Rn 3540 [im Folgenden kurz: Burhoff, EV]).

  • In § 104 Abs. 3 StPO soll der Begriff der Nachtzeit vereinheitlicht werden, und zwar einheitlich auf die Zeit zwischen 9 Uhr abends und 6 Uhr morgens (dazu BVerfG, Beschl. v. 12.3.2019 – 2 BvR 675/14, NJW 2019, 1428; Burhoff, EV, Rn 1763; BR-Drucks 57/21, S. 77 f.).

  • In § 114b StPO soll in S. 1 die Belehrung des verhafteten Beschuldigten an die Hinweispflichten in §§ 136 Abs. 1, 163a StPO und in S. 3 an die in §§ 186 Abs. 1 S. 3, Abs. 2 GVG angepasst werden (BR-Drucks 57/21 S. 83 f.). In § 114b Abs. 2 StPO werden die Belehrungspflichten betreffend Bestellung eines Pflichtverteidigers und der Akteneinsicht erweitert (s. BR-Drucks 57/21, S. 83 f.; Burhoff, EV, Rn 4863 ff., 5117 ff.).

  • Bei den Vernehmungen sind folgende Änderungen vorgeschlagen (RefE, S. 61 ff.; zu Vernehmungen allgemein Burhoff, EV, Rn 4374 m.w.N.):

  • Die Belehrungspflicht des § 136 StPO wird ebenfalls erweitert. Der Beschuldigte soll nicht mehr nur vor der ersten Vernehmung, über den Tatvorwurf, die Aussagefreiheit und die Verteidigerkonsultation hingewiesen, sondern bei jeder Vernehmung.

  • In einem neuen § 136 Abs. 3 StPO soll auf § 58b StPO verwiesen und damit ausdrücklich geregelt werden, dass im Ermittlungsverfahren für polizeiliche, staatsanwaltschaftliche wie auch richterliche Vernehmungspersonen die Möglichkeit besteht, einen Beschuldigten in geeigneten Fällen im Wege der Bild- und Tonübertragung zu vernehmen.

  • Schließlich soll in § 163a Abs. 5 StPO klargestellt werden, dass hör- oder sprachbehinderten Beschuldigten das Recht zusteht, auch im Rahmen ihrer staatsanwaltschaftlichen oder polizeilichen Vernehmung im Ermittlungsverfahren die in § 186 GVG vorgesehenen Kommunikationshilfen in Anspruch zu nehmen.

  • In einem neuen § 163g StPO will man die Befugnis zur „Automatischen Kennzeichenerfassung zu Fahndungszwecken“ im öffentlichen Verkehrsraum schaffen (BR-Drucks. 57/21, S. 90 f.).

Sonstige „Nachjustierungen“/Anpassungen/Ergänzungen:

  • Im Zusammenhang mit der Einführung der elektronischen Akte waren Klarstellungen erforderlich. So soll z.B. durch eine Streichung in § 32b Abs. 1 S. 2 StPO klargestellt werden, dass auf lediglich schriftlich abzufassenden Dokumenten künftig keine qualifizierten elektronischen Signaturen angebracht werden müssen. Die nach § 32e Abs. 3 S. 2 StPO bei der Übertragung mit einer qualifizierten elektronischen Signatur zu versehene Schriftstücke sollen künftig ausdrücklich auf handschriftlich unterzeichnete staatsanwaltschaftliche und gerichtliche Schriftstücke begrenzt werden. Zudem soll § 32f StPO betreffend die Form der Gewährung von Akteneinsicht dahin ergänzt werden, dass künftig gleichrangig neben der Bereitstellung des Inhalts der Akten zum Abruf über ein Akteneinsichtsportal die Möglichkeit der Übermittlung des Inhalts der Akten auf einem sicheren Übertragungsweg i.S.d. § 32a Abs. 4 StPO tritt (dazu BR-Drucks 57/21, S. 55 ff.).

  • In einem neuen § 373b StPO soll in Umsetzung der EU-Richtlinie 2012/29/EU vom 25.10.2012 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI (Opferschutzrichtlinie, ABI. L 315 v. 14.11.2021, S. 57) der „Begriff des Verletzten“ definiert werden. Vorgesehen ist dort aber nur eine Definition des Verletzten für die StPO. Als Verletzte i.S.d. StPO sollen diejenigen anzusehen sein, „die durch die Tat, ihre Begehung unterstellt oder rechtskräftig festgestellt, in ihren Rechtsgütern unmittelbar beeinträchtigt worden sind oder unmittelbar einen Schaden erlitten haben“. Verletzten gleichgestellt werden der Ehegatte bzw. der Lebenspartner, der in einem gemeinsamen Haushalt lebende Lebensgefährte, die Verwandten in gerader Linie, die Geschwister und die Unterhaltsberechtigten und eine Person, deren Tod eine direkte Folge der Tat, ihre Begehung unterstellt oder rechtskräftig festgestellt, gewesen ist (zu allem BR-Drucks 57/21, S. 1091 ff.; Burhoff, EV, Rn 2526).

  • In § 68 StPO soll in S. 1 und 2 klargestellt werden, dass bei der Vernehmung eines Zeugen im Ermittlungsverfahren grds. die vollständige Anschrift festzustellen ist, während in der Hauptverhandlung und in richterlichen Vernehmungen in Anwesenheit des Beschuldigten die vollständige Anschrift von Zeugen grds. nicht (mehr) abgefragt wird, sondern nur deren Wohn- oder Aufenthaltsort (BR-Drucks 57/21, S. 60 f.).

  • Neu gefasst werden soll in § 168 S. 3 StPO bzw. in § 168a StPO die Art der Protokollierung richterlicher und/oder ermittlungsbehördlicher Untersuchungshandlungen (BR-Drucks 57/21, S. 97 ff.; Burhoff, EV, Rn 4374 ff. m.w.N.).

  • In § 168c Abs. 5 S. 3 StPO ist eine Stärkung des Anwesenheitsrechts des Verteidigers vorgesehen. Danach soll die Benachrichtigung des Verteidigers von der richterlichen Vernehmung des Beschuldigten nur (noch) unterbleiben, wenn sie den Untersuchungserfolg erheblich gefährden würde (BR-Drucks 57/21, S. 104 f.; Burhoff, EV, Rn 4374 m.w.N.).

  • Schließlich ist in § 74c Abs. 1 Nr. 5a GVG eine Erweiterung der Zuständigkeit der Wirtschaftsstrafkammer auf die Fälle der Bestechlichkeit im Gesundheitswesen, der Bestechung im Gesundheitswesen, der Bestechlichkeit und der Bestechung ausländischer und internationaler Bediensteter sowie nach dem Gesetz zur Bekämpfung internationaler Bestechung erweitert (dazu BR-Drucks 57/21, S. 132 f.).

Inhaltsverzeichnis

II. Ermittlungsverfahren

1. Durchsuchung

Aus dem Bereich der Durchsuchung ist auf zwei neuere landgerichtliche Entscheidungen hinzuweisen.

a) Anonyme Anzeige als Grundlage einer Durchsuchung

Das LG Hildesheim hat noch einmal zur Anordnung von Durchsuchungen aufgrund einer anonymen Anzeige Stellung genommen (LG Hildesheim, Beschl. v. 27.10.2020 – 26 Qs 61/20, StRR 12/2020, 2 [Ls.]). Das Landgericht weist darauf hin, dass Angaben anonymer Hinweisgeber als Verdachtsquelle zur Aufnahme weiterer Ermittlungen nicht generell ausgeschlossen sind. Ein solcher pauschaler Ausschluss widerspräche dem zentralen Anliegen des Strafverfahrens, nämlich der Ermittlung der materiellen Wahrheit in einem justizförmigen Verfahren als Voraussetzung für die Gewährleistung des Schuldprinzips. Bei anonymen Anzeigen müssen die Voraussetzungen des § 102 StPO im Hinblick auf die schutzwürdigen Interessen des Beschuldigten aber wegen der erhöhten Gefahr und des nur schwer bewertbaren Risikos einer falschen Verdächtigung besonders sorgfältig geprüft werden. Bei der Prüfung des Tatverdachts und der Verhältnismäßigkeitsabwägung seien insb. der Gehalt der anonymen Aussage sowie etwaige Gründe für die Nichtoffenlegung der Identität der Auskunftsperson in den Blick zu nehmen. Als Grundlage für eine stark in Grundrechtspositionen eingreifende Zwangsmaßnahme – wie eine Durchsuchung – könne eine anonyme Aussage nur genügen, wenn sie von beträchtlicher sachlicher Qualität ist oder mit ihr zusammen schlüssiges Tatsachenmaterial vorgelegt worden ist (BVerfG StRR 10/2016, 8).

Das hat das Landgericht im entschiedenen Fall verneint.

Hinweis:

Der Beschluss macht noch einmal deutlich, dass anonyme Anzeigen als Grundlage einer Durchsuchungsanordnung nur taugen, wenn sie durch entsprechende Tatsachen untermauert sind. Die anonyme Anzeige allein dürfte i.d.R. nicht ausreichen. Und: Die Grundlage der Durchsuchungsanordnung muss auf jeden Fall besonders sorgfältig geprüft werden (BVerfG, a.a.O.; LG Augsburg wistra 2018, 96; LG Bad Kreuznach StraFo 2015, 64; LG Bremen StraFo 2009, 416; LG Karlsruhe StraFo 2005, 420; LG Offenburg NStZ 1997, 626; LG Regensburg StV 2004, 198 [Ls.]; LG Stuttgart StRR 2008, 322 [Ls.], AG Bautzen StraFo 2015, 20). In der Rechtsprechung wird darüber hinaus z.T. davon ausgegangen, dass eine anonyme Anzeige überhaupt keine Durchsuchungsgrundlage sein könne (u.a. LG Bad Kreuznach, LG Stuttgart, AG Bautzen [BVV], jew. a.a.O.). Soweit ist das LG Hildesheim aber nicht gegangen.

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b) Aufklärung persönlicher Verhältnisse für die Festsetzung der Tagessatzhöhe

An die Verhältnismäßigkeit der Durchsuchung einer Wohnung, die ausschließlich der Feststellung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse eines Angeklagten im Rahmen der Festsetzung der Tagessatzhöhe dient, sind strenge Anforderungen zu stellen. Eine solche Durchsuchung ist allenfalls in Ausnahmefällen zulässig. So hat das LG Bonn (Beschl. v. 28.10.2020 – 50 Qs 36/20, StRR 2/2021, 2 [Ls.]) entschieden. Das begründet das Landgericht damit, dass § 40 Abs. 3 StGB ausdrücklich die Möglichkeit einer Schätzung der Einkünfte vorsieht (OLG Brandenburg, Beschl. v. 23.11.2009 – 1 Ss 104/09; OLG Dresden StraFo 2007, 329 f.; OLG Jena, Beschl. v. 12.2.2009 – 1 Ss 160/08). Eine solche Durchsuchung sei daher allenfalls in eng begrenzten Ausnahmefällen denkbar, wenn anhand der zur Verfügung stehenden Beweismittel eine Schätzung der wirtschaftlichen Verhältnisse nicht möglich sei. Das sei hier aber nicht der Fall gewesen. Es habe bis zum Hauptverhandlungstermin noch ausreichend Zeit für die Einholung einer behördlichen Auskunft der BaFin oder der Deutschen Rentenversicherung als naheliegendem Aufklärungsansatz bezüglich der Erwerbstätigkeit des Angeklagten zur Verfügung gestanden. Auch habe die als Zeugin geladene Lebensgefährtin zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Angeklagten vernommen werden können. Ferner seien als Schätzungsgrundlage zum Durchschnittseinkommen von Arbeitnehmern die allgemein zugänglichen Veröffentlichungen der Statistischen Bundes- und Landesämter verfügbar gewesen. Zwar sei es Aufgabe des erkennenden Gerichts, sich von Werdegang und Lebensverhältnissen eines Angeklagten Kenntnis zu verschaffen, da dies für eine an anerkannten Strafzwecken ausgerichtete Strafzumessung wesentlich sei. Verweigere der Angeklagte in der Hauptverhandlung Angaben dazu, sei das Gericht zwar verpflichtet, sich um die Aufklärung zu bemühen. Zur Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes seien aber zunächst die weniger grundrechtsrelevanten Ermittlungsansätze der Zeugenvernehmung und Behördenauskünfte zu verfolgen (gewesen).

Hinweis:

Ich bin kein Freund von vorschnellen Ablehnungsanträgen (§§ 24 ff. StPO). Wird allerdings vorschnell eine Durchsuchung angeordnet, wovon nicht nur das Wohnungsgrundrecht des Angeklagten betroffen ist, sondern letztlich auch das Schweigerecht, wird man dem Gedanken an einen solchen Antrag schon nähertreten können. Denn Zweifel an der Unvoreingenommenheit des Gerichts sind in einem solchen Fall sicherlich berechtigt.

Inhaltsverzeichnis

2. Terminsverlegung wegen Corona?

Corona/COVID-19 ist in der täglichen Arbeit der Gerichte angekommen. Die Praxis hat insb. in Zusammenhang mit der Durchführung von Hauptverhandlungen mit dem Virus zu kämpfen. Dazu ist auf zwei Entscheidungen hinzuweisen (vgl. a. noch III. 2. und 3):

Dem im Eilverfahren ergangenen Beschluss des BVerfG (v. 16.11.2020 – 2 BvQ 87/20, NStZ-RR 2021, 19) lag die Ablehnung eines Antrags auf Aufhebung mehrerer Hauptverhandlungstermine vor dem LG Bonn zugrunde. Der 77 Jahre alte Angeklagte hatte geltend gemacht, er sei gesundheitlich angeschlagen. Er hatte auf zahlreiche Atteste und Stellungnahmen sowie ein Gutachten eines rechtsmedizinischen Sachverständigen verwiesen. Danach bestanden beim Angeklagten Vorschädigungen der Lunge; der linke Lungenoberlappen war ihm im Jahr 1967 nach einer Lungentuberkuloseerkrankung entfernt worden. Der Angeklagte litt weiter unter einer dauerhaft verringerten Nierenfunktion, leichtem – gut eingestelltem – Bluthochdruck und an der Autoimmunerkrankung Morbus Basedow. Die Autoimmunerkrankung bewirkte bei ihm eine krankhafte Schilddrüsenüberfunktion und eine blasenbildende Hauterkrankung. Die Gehfähigkeit des Angeklagten war arthrosebedingt eingeschränkt. Im Jahr 2012 war er zudem an Darmkrebs erkrankt. Der Tumor konnte komplett entfernt werden. Tochtergeschwülste wurden bislang nicht festgestellt.

Im Zwischenverfahren hatte der Angeklagte unter Vorlage entsprechender Atteste auf diese Vorerkrankungen hingewiesen. Die Strafkammer hatte im Oktober 2020 das Verfahren gegen den Angeklagten abgetrennt, da die Durchführung einer Hauptverhandlung mit vier Angeklagten unter Corona-Bedingungen angesichts der angezeigten Schutzmaßnahmen zugunsten einzelner Verfahrensbeteiligter unverhältnismäßig aufwendig wäre. Die Kammer hatte klargestellt, sie beabsichtige nach Möglichkeit, die Verhandlung gegen den Angeklagten vorzuziehen. Mit demselben Beschluss eröffnete sie das Hauptverfahren gegen den Antragsteller und ließ die Anklage zur Hauptverhandlung zu. Der Kammervorsitzende hat Termin zur Hauptverhandlung auf den 17.11.2020 und weitere Termine zur Fortsetzung der Hauptverhandlung bis Anfang Januar 2021 bestimmt. Die Terminsladung enthielt Hinweise auf die Pflichten bei der Wahrnehmung von Terminen angesichts der COVID-19-Pandemie. Der Angeklagte hat dann die Aufhebung der Termine beantragt. Die Strafkammer hat einen Sachverständigen mit der Begutachtung des Angeklagten und der vorgesehenen Hygienekonzepte beauftragt. Letztlich hatte der Sachverständige keine Bedenken gegen die Durchführung der Hauptverhandlung, wenn das Hygienekonzept beachtet und teilweise verschärft werde. Die Kammer hat daraufhin den Verlegungs-/Aufhebungsantrag zurückgewiesen. Dagegen richtete sich dann der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung durch das BVerfG.

Das BVerfG (Beschl. v. 16.11.2020 – 2 BvQ 87/20, NStZ-RR 2021, 19) hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückgewiesen. In dem Zusammenhang führt es u.a. aus, dass dann, wenn angesichts des Gesundheitszustands eines Beschuldigten ernsthaft zu befürchten sei, dass er bei Fortsetzung des Strafverfahrens sein Leben einbüßen oder schwerwiegenden Schaden an seiner Gesundheit nehmen würde, zwischen der Pflicht des Staates zur Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und dem Grundrecht des Beschuldigten (Art 2 Abs. 2 S. 1 GG) ein Spannungsverhältnis entstehe. Der Konflikt sei, sofern dies nicht eine Aufopferung des Lebens verlange, nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips durch Abwägung der widerstreitenden Interessen zu lösen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 13.6.2017 – 2 BVR 1313/17, auch schon zu Corona BVerfG, Beschl. v. 19.5.2020 – 2 BVR 483/20 – NJW 2020, 2327). Bestehe die naheliegende, konkrete Gefahr, dass der Beschuldigte bei Durchführung der Hauptverhandlung sein Leben einbüßen oder schwerwiegenden Schaden an seiner Gesundheit nehmen würde, so verletze ihn die Fortsetzung des Strafverfahrens in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (vgl. BVerfG, a.a.O.). Soweit ein Gericht Maßnahmen ergreift, um einer zu befürchtenden Schädigung entgegenzuwirken, komme ihm bei der Erfüllung seiner Schutzpflichten ein erheblicher Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu (vgl. BVerfG, a.a.O.). Es sei aber kein vollkommener Schutz vor jeglichen Gesundheitsgefahren geboten (BVerfG, a.a.O.).

Letztlich hat das BVerfG (Beschl. v. 16.11.2020 – 2 BvQ 87/20, a.a.O.) diese Fragen aber nicht entschieden, sondern den Erlass einer einstweiligen Anordnung (§ 32 BVerfGG) wegen Unzulässigkeit abgelehnt. Es hat darauf hingewiesen, dass der Rechtsweg nicht erschöpft sei. Werde eine strafprozessuale Terminsbestimmung angegriffen, so gehöre die Beschwerde gem. §§ 304 ff. StPO zum vorrangig zu erschöpfenden fachgerichtlichen Rechtsweg, wenn – wie hier – geltend gemacht werde, die Terminsanordnung sei rechtswidrig, weil das Gericht das ihm zustehende Ermessen fehlerhaft ausgeübt habe und in dieser fehlerhaften Ausübung eine besondere, selbstständige Beschwer liege. In diesem Fall stehe § 305 S. 1 StPO der Zulässigkeit der Beschwerde nicht entgegen (vgl. u.a. BVerfG NJW 2020, 23273). Außerdem hat das BVerfG beanstandet, dass die vom Angeklagten gerügte Verletzung seines Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit weder hinreichend plausibel vorgetragen noch sonst ersichtlich sei. Das Landgericht habe nachvollziehbar und in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise dargelegt, dass derzeit kein akutes Krankheitsbild bei dem Angeklagten vorliege, das die Annahme einer Verhandlungsunfähigkeit rechtfertige. Soweit das Landgericht ausgeführt hat, dass die Gefährdungslage durch die COVID-19-Pandemie keine andere Beurteilung der Sach- und Rechtslage gebiete, hat es ebenfalls keinen Verstoß gegen die verfassungsrechtlichen Maßstäbe zur Beurteilung der Verhandlungsfähigkeit gesehen.

Hinweis:

In dieselbe Richtung geht der Beschluss des OLG Stuttgart (v. 30.11.2020 – 4 Ws 265/20, StRR 1/2021, 3 [Ls.]). Das Oberlandesgericht weist darauf hin, dass das Gericht bei der Prüfung der Frage, ob ein Hauptverhandlungstermin wegen der Corona-Pandemie verlegt werden soll, seiner Pflicht, zwischen dem Risiko einer Infektion mit möglicherweise gefährlichem Verlauf und dem Interesse des Staates an einer effektiven Strafverfolgung sorgfältig abzuwägen gerecht werde, wenn es zur Minimierung der Ansteckungsgefahr eine Vielzahl geeigneter Maßnahmen getroffen habe (Stichwort: ausreichendes Hygienekonzept; vgl. noch zur Durchführung von Strafverfahren während der Corona-Krise SächsVerfGH NJW 2020, 1285; OLG München NJW 2020, 1381).

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III. Hauptverhandlung

1. Vereinbarte Unterbringung

Die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus kann nicht Inhalt einer Verständigung sein. So lautet der Leitsatz des zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehenen Beschlusses des BGH (Beschl. v. 3.12.2020 – 4 StR 541/19). Das Landgericht hatte die Angeklagte u.a. wegen vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Ferner hatte das Landgericht die Unterbringung der Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet und auch insoweit die Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Die hiergegen gerichtete Revision der Angeklagten, mit der sie die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt, hatte mit einer Verfahrensrüge Erfolg.

Der BGH (a.a.O.) geht davon aus, dass in der Hauptverhandlung eine Verständigung (§ 257c StPO) zustande gekommen ist, deren Inhalt u.a. auch die im Urteil festgesetzte Unterbringung des Angeklagten war. Diese „Verständigung“ verstößt nach Auffassung des BGH (a.a.O.) gegen § 257c Abs. 2 S. 3 StPO. Nach § 257c Abs. 2 S. 3 StPO dürfen der Schuldspruch sowie Maßregeln der Besserung und Sicherung nicht Gegenstand einer Verständigung sein. Über die bis zur Einführung der Verständigungsregelung vorliegende Rechtsprechung hinaus habe der Gesetzgeber nicht nur die Sicherungsverwahrung (vgl. BGH NStZ 2008, 620; NStZ-RR 2005, 39), sondern auch sämtliche Maßregeln der Besserung und Sicherung i.S.v. § 61 StGB aus den vereinbarungsfähigen Rechtsfolgen herausgenommen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. 2020, § 257c Rn 9; Jahn/Kudlich in: MüKo-StPO, 1. Aufl., § 257c Rn 114).

Hinweis:

Da schon die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus einen unzulässigen Verständigungsinhalt darstellt, konnte der BGH die noch nicht entschiedene Frage offenlassen, ob das Verbot des § 257c Abs. 2 S. 3 StPO auch für Folgeentscheidungen – wie hier die Aussetzung der Vollstreckung der Maßregel zur Bewährung gem. § 67b StGB – gilt (vgl. zum Streitstand Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 257c Rn 9 m.w.N.). Eine Entscheidung dazu wäre für die Praxis interessant gewesen, da der BGH sich damit dann auch dazu geäußert hätte, ob nicht nur die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 StGB erfasst wird, sondern auch die Frage der Länge der Sperrfrist nach § 69a StGB. Das ist in der Literatur nicht unbestritten (vgl. die Nachweise bei Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O.).

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2. Ausschluss der Öffentlichkeit

Zunehmend spielen auch in der Rechtsprechung des BGH Fragen im Zusammenhang mit Corona/COVID-19 eine Rolle, so auch im Beschluss des BGH v. 17.11.2020 (4 StR 390/209). Zu entscheiden hatte der BGH über eine Revision gegen ein Urteil des LG Chemnitz. Mit der Revision war mit Verfahrensrüge u.a. ein Verstoß gegen § 169 GVG – Öffentlichkeitsgrundsatz – geltend gemacht worden. Grundlage der Rüge war folgendes Verfahrensgeschehen: Mit Allgemeinverfügung vom 22.3.2020 hatte das Sächsische Staatsministerium für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt anlässlich der Coronavirus-Pandemie auf der Grundlage des IfSG (Infektionsschutzgesetz) mit Wirkung vom 23.3.2020 eine Allgemeinverfügung erlassen, wonach das Verlassen der häuslichen Unterkunft ohne triftigen Grund untersagt wird. Nr. 2 der Allgemeinverfügung enthielt die Aufzählung bestimmter Tätigkeiten, die „insbesondere“ triftige Gründe darstellen, darunter in Nr. 2.9 die Wahrnehmung unaufschiebbarer Termine bei Behörden, Gerichten, Gerichtsvollziehern, Rechtsanwälten und Notaren. Während der Gültigkeit dieser Allgemeinverfügung verhandelte das LG Chemnitz am 25., 26. und 31.3.2020. Der Angeklagte war der Auffassung, dass am Verfahren unbeteiligten Zuhörern an diesen Sitzungstagen aufgrund der Allgemeinverfügung vom 22.3.2020 der Besuch der Hauptverhandlung untersagt gewesen sei. Um einen Verstoß gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit zu vermeiden, hätte das Landgericht die Hauptverhandlungstermine aufheben müssen.

Das hat der BGH anders gesehen. Es könne dahinstehen, welche Bedeutung dem Umstand zukommt, dass der Erlass der Allgemeinverfügung nicht im Einflussbereich der Justiz lag. Jedenfalls besteht nach der Allgemeinverfügung kein Verbot, als Zuhörer an Hauptverhandlungen teilzunehmen. Vielmehr stelle die Teilnahme als Zuhörer an einer öffentlichen Hauptverhandlung einen unbenannten triftigen Grund i.S.d. Allgemeinverfügung dar (vgl. OLG München, Beschl. v. 30.3.2020 – 2 Ws 387/20 u. 338/20, NStZ 2020, 503; Meßling in: Schlegel/Meßling/Bockholdt, COVID-19 – Corona-Gesetzgebung – Gesundheit und Soziales, § 20 Rn 60). Der in § 169 GVG niedergelegte Öffentlichkeitsgrundsatz solle eine Kontrolle der Justiz durch die am Verfahren nicht beteiligte Öffentlichkeit ermöglichen und sei historisch als unverzichtbares Institut zur Verhinderung obrigkeitlicher Willkür verankert worden (vgl. BVerfGE 133, 168, 217 f.). Angesichts dieser Bedeutung der grundsätzlichen Öffentlichkeit eines Strafverfahrens, die auch dadurch belegt werde, dass ein Verstoß gegen die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens einen absoluten Revisionsgrund gem. § 338 Nr. 6 StPO darstelle, stehe außer Frage, dass das Verlassen der häuslichen Unterkunft zur Teilnahme an öffentlichen Gerichtsverhandlungen einen triftigen Grund begründet, der der Ausnahmeregelung der Nr. 2 der Allgemeinverfügung vom 22.3.2020 unterfalle.

Hinweis:

Unstreitig ist die vom BGH vertretene Auffassung nicht (vgl. a.A. Kulhanek NJW 2020, 1183, 1184; Arnoldi NStZ 2020, 313, 315). M.E. geht die Aussage in ihrer Allgemeingültigkeit auch ein wenig weit. Will der BGH wirklich vertreten, dass die Teilnahme an einer öffentlichen Gerichtsverhandlung – als Zuschauer – nicht gegen ein ggf. bestehendes strenges Ausgangsverbot verstößt? Der 5. Strafsenat des BGH hat aber inzwischen wie der 4. Strafsenat im Beschl. v. 17.11.2020 entschieden (vgl. Beschl. v. 6.1.2021 – 5 StR 363/20).

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3. Unterbrechung der Hauptverhandlung (§ 229 StPO, § 10 EGStPO)

Im Berichtszeitraum hat der BGH in einigen Entscheidungen zu „Unterbrechungsfragen“ Stellung genommen.

a) Hemmung der Unterbrechungsfrist (§§ 229 Abs. 2, 3 StPO)

Im Beschluss des BGH (v. 18.11.2020 – 4 StR 118/20, StRR 2/2021, 14) ist die bislang in der obergerichtlichen Rechtsprechung noch nicht entschiedene Frage der Hemmung der Unterbrechungsfristen nach § 229 Abs. 1 und Abs. 2 StPO bei wiederholter Erkrankung einer oder mehrerer in § 229 Abs. 3 S. 1 StPO genannten Personen entschieden worden. Der Angeklagte hatte mit seiner Revision u.a. gerügt, die Unterbrechungsfristen des § 229 Abs. 2 StPO seien in zwei Fällen nicht gewahrt worden. Der Rüge lag folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

Die Hauptverhandlung, die am 13.2.2018 begonnen hatte, wurde am 18.9.2018 – dem 21. Hauptverhandlungstag – unterbrochen und am 29.10.2018 fortgesetzt. Die Unterbrechungsfrist war gem. § 229 Abs. 3 S. 1 StPO wegen der Erkrankung einer beisitzenden Richterin gehemmt, was das Landgericht durch Beschluss feststellte. Vom 29.10.2018 bis zur Unterbrechung am 18.12.2018 fand die Hauptverhandlung an insgesamt neun Tagen statt und wurde am 6.2.2019 fortgesetzt. Während dieser Unterbrechung war die Vorsitzende erkrankt; das Landgericht stellte durch Beschluss die abermalige Hemmung der Unterbrechungsfrist fest. Vom 6.2.2019 bis zum 12.3.2019 fand die Hauptverhandlung an insgesamt sechs Hauptverhandlungstagen statt. Am 12.3.2019 wurde sie bis zum 16.4.2019 unterbrochen. Während dieser Unterbrechung war erneut die beisitzende Richterin erkrankt. Das Landgericht stellte abermals durch Beschluss die Hemmung der Unterbrechungsfrist fest. Aussetzungsanträge der Verteidigung lehnte es ab. Der Angeklagte war der Auffassung, eine wiederholte Hemmung der Unterbrechungsfrist gem. § 229 Abs. 3 StPO komme hier nicht in Betracht, sodass die Unterbrechungen vom 18.12.2018 bis zum 6.2.2019 sowie vom 12.3. bis zum 16.4.2019 die Fristen des § 229 Abs. 1 und 2 StPO überschritten hätten.

Der BGH (StRR 2/2021, 14) hat anders entschieden. Ob und unter welchen Voraussetzungen bei wiederholter Erkrankung einer der in § 229 Abs. 3 StPO (in der Fassung v. 5.7.2017) genannten Personen der Lauf der in § 229 Abs. 1 und 2 StPO bestimmten Fristen jeweils erneut gehemmt wird, sei höchstrichterlich bislang nicht entschieden worden. Auch Rechtsprechung der OLG liege hierzu – soweit ersichtlich – nicht vor. In der Literatur finde sich zwar keine Stimme, die eine wiederholte Hemmung des Laufs der Unterbrechungsfrist gem. § 229 Abs. 2 StPO während einer Hauptverhandlung für ausgeschlossen erachtet. Es werde aber die Auffassung vertreten, eine wiederholte Hemmung setze jedenfalls voraus, dass die Hauptverhandlung nach einer ersten Hemmung an mindestens zehn weiteren Tagen fortgesetzt worden sei. Denn aufgrund der vergleichbaren Interessenlage und des Normzwecks würden die Beschränkungen des § 229 Abs. 2 StPO analog auch für § 229 Abs. 3 StPO gelten (Zieschang StV 1996, 115 zu § 229 StPO in der Fassung vom 7.4.987). Nach der überwiegend vertretenen Auffassung solle es hingegen genügen, wenn zwischen den Unterbrechungen an einem Tag verhandelt worden sei (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 229 Rn 5; Gmel in: KK-StPO, 8. Aufl., § 229 Rn 11; Becker in: LR-StPO, 27. Aufl., § 229 Rn 24; Gorf in: BeckOK-StPO, 37. Ed., § 229 Rn 8; Grube in: SSW-StPO, 4. Aufl., § 229 Rn 14).

Der BGH (StRR 2/2021, 14) schließt sich der herrschenden Auffassung an: Das begründet er mit dem Wortlaut der Vorschrift sowie mit teleologischen und systematischen Erwägungen. Bereits der Wortlaut des § 229 Abs. 3 StPO enthalte keinen Hinweis, dass eine wiederholte Hemmung von Unterbrechungsfristen ausgeschlossen sei oder der einschränkenden Voraussetzung einer bestimmten Mehrzahl von Fortsetzungsterminen zwischen den Unterbrechungen unterliege. Der Vergleich des Wortlauts des § 229 Abs. 2 und Abs. 3 StPO spreche auch gegen eine Übertragung der Voraussetzungen der Unterbrechung nach § 229 Abs. 2 StPO auf die Fälle der Fristhemmung des § 229 Abs. 3 StPO. In § 229 Abs. 3 StPO heißt es, die Hemmung trete ein, sobald die Hauptverhandlung bereits an mindestens zehn Tagen stattgefunden habe; das Wort „jeweils“, das in § 229 Abs. 2 StPO enthalten sei, fehle hier. Nach dem Wortverständnis der Norm reiche es danach aus, wenn vor Eintritt einer – auch wiederholten – Hemmung insgesamt an mindestens zehn Tagen verhandelt worden sei. Der Zweck des § 229 Abs. 3 StPO spreche ebenfalls für dieses Verständnis. Die Norm solle es ermöglichen, eine Hauptverhandlung im Fall von Ereignissen fortzusetzen, die dem Einfluss des Gerichts entzogen seien (vgl. BT-Drucks 10/1313, S. 24 ff.). Dem würde es – so der BGH – zuwiderlaufen, wenn der Eintritt einer erneuten Hemmung davon abhinge, dass eine bestimmte Anzahl an Fortsetzungsterminen seit der letzten Hemmung stattgefunden habe. Mit Blick auf den Zweck der Norm greife auch das systematische Argument nicht durch, die uneingeschränkte wiederholte Anwendung von § 229 Abs. 3 StPO widerspreche der Detailregelung des § 229 Abs. 2 StPO (so aber Zieschang StV 1996, 115, 116). Die einzelnen Regelungen des § 229 StPO würden den strafprozessualen Konzentrationsgrundsatz ausgestalten und sich dabei auf spezifische Verfahrenslagen beziehen, für die der Gesetzgeber bewusst differenzierte Rechtsfolgen vorgesehen habe. Sie stünden daher nebeneinander (vgl. bereits BT-Drucks 10/1313, S. 24 ff.). § 229 Abs. 1 StPO habe den Normalfall der Hauptverhandlung im Blick, die zügig und ohne längere Unterbrechungen durchgeführt werden soll. § 229 Abs. 2 StPO ermögliche dem Gericht eine größere Dispositionsfreiheit bei der Planung umfangreicher Hauptverhandlungen. Der Eintritt der Hemmung nach § 229 Abs. 3 StPO erlaube es schließlich bei umfangreichen Hauptverhandlungen unvorhersehbaren Ereignissen Rechnung zu tragen.

Hinweis:

Die vom BGH (StRR 2/2021, 14) für seine Auffassung angeführten Argumente sind klassisch, insb. das Wortlautargument überzeugt. Allerdings: Man wird die Konzentrationsmaxime nicht aus den Augen verlieren dürfen. Die wird es ggf. gebieten – so auch wohl der BGH –, in Ausnahmefällen häufiger und langer Unterbrechungen mit jeweils nur wenigen Zwischenterminen die Hauptverhandlung auszusetzen, obwohl alle Fristen des § 229 StPO eingehalten sind. Auch im entschiedenen Fall hat die Hauptverhandlung 14 Monate gedauert, wobei sich allerdings aus der Entscheidung nicht ergibt, an wie vielen Hauptverhandlungstagen verhandelt worden ist. Das gilt vor allem, wenn man bedenkt, dass § 229 Abs. 2 StPO durch das „Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens v. 10.12.2019“ (BGBl I, S. 2121) geändert worden und die zulässige Unterbrechungsfrist verlängert worden ist. Zudem: Interessant wird es sein, demnächst zu erfahren, wie der BGH wohl mit dem neuen § 10 EGStPO (vgl. dazu III. 3. b) umgehen wird. Denn bei dessen Anwendung wird sich die Problematik mehrfacher Unterbrechung ggf. auch stellen.

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b) Anwendung von § 10 EGStPO

Der BGH (Beschl. v. 19.11.2020 – 4 StR 431/20, NStZ 2021, 186 = StraFo 2021, 77 = StRR 1/2021, 20 m. Anm. Stehr) nimmt zur Anwendung des § 10 EGStPO Stellung. Dieser ist durch das Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht vom 27.3.2020 (BGBl I, S. 569) eingeführt worden. Er bestimmt, dass unabhängig von der Dauer der Hauptverhandlung der Lauf der in § 229 Abs. 1 und 2 StPO genannten Unterbrechungsfristen gehemmt ist, solange die Hauptverhandlung aufgrund von Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von Infektionen mit dem SARS-CoV-2-Virus (COVID-19-Pandemie) nicht durchgeführt werden kann, längstens jedoch für zwei Monate; diese Fristen enden frühestens zehn Tage nach Ablauf der Hemmung. Beginn und Ende der Hemmung stellt das Gericht durch unanfechtbaren Beschluss fest.

In dem vom BGH (NStZ 2021, 186 = StraFo 2021, 77 = StRR 1/2021, 20) entschiedenen Fall sollte die Hauptverhandlung in einem beim LG Bielefeld anhängigen Verfahren ab 13.3.2020 regulär nach § 229 Abs. 1 StPO bis zum 31.3.2020 unterbrochen und anschließend fortgesetzt werden. Am 28.3.2020 berichtete eine Schöffin dann dem Vorsitzenden, dass ihr Ehemann plötzlich innerhalb der nächsten zwei Wochen am Herzen operiert werden müsse und die Ärzte ihr rieten, zwei Wochen vor und nach der Operation eine Ansteckung mit dem Coronavirus unbedingt zu vermeiden. Die Hauptverhandlung wurde dann ohne weitere erkennbare Veranlassungen erst am 30.4.2020 fortgesetzt. Erst an diesem Tag wurde ein Beschluss nach § 10 EGStPO verkündet, dass die Unterbrechungsfrist vom 29.3. bis zum 29.4.2020 gehemmt war. Die Revision des Angeklagten richtete sich dagegen, dass dieser Beschluss nicht innerhalb der Dreiwochenfrist ergangen war, sowie, dass eine nicht unmittelbare Person der Hauptverhandlung geschützt werden sollte.

Die Revision hatte keinen Erfolg. Der BGH (NStZ 2021, 186 = StraFo 2021, 77 = StRR 1/2021, 20) legt in der recht knapp begründeten Entscheidung dar, dass der Umstand, dass das Landgericht den Beginn der Hemmung nicht innerhalb der dreiwöchigen Unterbrechungsfrist des § 229 Abs. 1 StPO festgestellt habe, keinen Rechtsverstoß darstelle. Die Hemmung des § 10 Abs. 1 S. 1 EGStPO trete kraft Gesetzes ein. Der Feststellungsbeschluss habe nur insofern konstitutive Bedeutung, als er den Beginn und das Ende der Hemmung unanfechtbar feststelle (vgl. zu § 229 Abs. 3 StPO (BGH NStZ 1992, 550; NStZ-RR 2016, 178). Es begegne auch keinen rechtlichen Bedenken, dass das LG einen Hemmungsgrund gem. § 10 Abs. 1 EGStPO angenommen hat. Aufgrund der in § 10 Abs. 1 S. 2 EGStPO normierten Unanfechtbarkeit komme mit Blick auf § 336 S. 2 Alt. 1 StPO eine Richtigkeitsprüfung über den Willkürmaßstab hinaus nicht in Betracht; sie sei auch verfassungsrechtlich nicht geboten (vgl. zur Parallelvorschrift des § 229 Abs. 3 S. 2 StPO; BGH NStZ 2016, 688 = StraFo 2016, 416). Anhaltspunkte dafür, dass die Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 S. 1 EGStPO für eine Hemmung überhaupt nicht vorgelegen haben, seien nicht ersichtlich. Die weitgehende Kontaktvermeidung des Ehemannes der Schöffin aufgrund einer ärztlichen Empfehlung stelle eine Schutzmaßnahme zur Verhinderung der Verbreitung von Infektionen mit dem SARS-CoV-2-Virus dar. Die Schutzmaßnahme müsse nicht gerichtlich oder gesundheitsbehördlich angeordnet oder empfohlen worden sein. § 10 EGStPO enthalte insoweit keine Einschränkung. Es genüge, wenn sie nachvollziehbar der Verhinderung der Verbreitung von Infektionen mit dem Corona-Virus dienen solle. Dies sei hier aufgrund der ärztlichen Empfehlung der Fall. Maßnahmen, die eine weitere Durchführung der Hauptverhandlung verhindern, seien auch solche, die dem Schutz von Personen dienen, die zur Risikogruppe gehören, wie beispielsweise ältere Personen, Personen mit Grunderkrankung oder einem unterdrückten Immunsystem (vgl. BT-Drucks 19/18110, S. 32 f.). Dass die Schöffin nur mittelbar durch die Schutzmaßnahme betroffen war, sei ebenfalls unerheblich. Ein Hindernis für die Durchführung der Hauptverhandlung liegt auch vor, wenn es nur mittelbar auf Schutzmaßnahmen beruhe (vgl. BT-Drucks 19/18110, S. 33).

Hinweis:

Die Entscheidung entspricht Sinn und Zweck des (neuen) § 10EGStPO. Ob sie allerdings auch mit der Konzentrationsmaxime in Einklang steht bzw. ggf. stehen wird, ist fraglich. Denn wendet man die Grundsätze des BGH (Beschl. v. 18.11.2020 – 4 StR 118/20, StRR 2/2021, 14) an (s. vorstehend III. 3. a), kann es zu sehr langen Hauptverhandlungen kommen.

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IV. Bußgeldverfahren

1. BVerfG zu Informationen außerhalb der Bußgeldakte

Seit längerer Zeit wird in der verkehrsrechtlichen Rechtsprechung und Literatur darüber gestritten, ob der Betroffene zu seiner Verteidigung Zugang zu außerhalb der Akten befindlichen Informationen haben muss, um sich sachgerecht zu verteidigen und welche Auswirkungen es hat, wenn ihm dieser Zugang nicht gewährt wird. Das spielt insb. eine Rolle, wenn es um die Frage der Überprüfbarkeit der Ergebnisse einer Messung mit einem standardisierten Messverfahren geht (Stichwort: Rohmessdaten; vgl. dazu Burhoff/Niehaus, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., 2021, Rn 222 ff.). Die Oberlandesgerichte, allen voran das OLG Bamberg, hatten hier einen Informationsanspruch des Betroffenen weitgehend verneint. In ihrer ablehnenden Haltung haben sie sich auch nicht durch verfassungsrechtliche Rechtsprechung aus dem Saarland beirren lassen (vgl. insb. OLG Bamberg NStZ 2018, 724 = StRR 7/2018, 23 = VRR 7/2018, 14). Nun liegt mit dem Beschluss des BVerfG (v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18, NJW 2021, 455 = NZV 2021, 41 m. Anm. Krenberger; dazu a. Niehaus VRR 1/2021, 4 ff.) aber endlich eine Entscheidung vor, die hoffentlich zu einer zumindest teilweisen Änderung der Praxis führen wird.

Mit seinem Beschluss hat das BVerfG (NJW 2021, 455 = NZV 2021, 41) einen Beschluss des OLG Bamberg (v. 19.6.2018 – 3 Ss OWi 672/18), mit dem eine Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen ein Urteil wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung verworfen worden war, aufgehoben. Der Betroffene hatte zunächst im Rahmen des Verwaltungsverfahrens u.a. Einsicht in die Lebensakte des verwendeten Messgeräts PoliScan Speed M1 des Herstellers Vitronic, den Eichschein und die sog. Rohmessdaten verlangt. Diese Informationen befanden sich nicht in der Bußgeldakte. Die Bußgeldstelle gewährte Einsicht in die Bußgeldakte, die neben dem Messprotokoll und dem Messergebnis auch den Eichschein des eingesetzten Messgerätes enthielt. Die Bedienungsanleitung zu dem verwendeten Messgerät wurde dem Beschwerdeführer als Datei auf der Internetseite der Bußgeldstelle zugänglich gemacht. Bezüglich der übrigen angefragten Informationen teilte die Behörde mit, dass diese nicht Bestandteil der Ermittlungsakte seien und nur auf gerichtliche Anordnung vorgelegt würden. Einen Antrag des Betroffenen auf gerichtliche Entscheidung (§ 62 OWiG) verwarf das Amtsgericht dann als unzulässig, da der Betroffene nicht mehr beschwert sei. Aufgrund seines Einspruchs werde nunmehr im gerichtlichen Bußgeldverfahren eine umfassende Prüfung erfolgen, ob der Betroffene die ihm vorgeworfene Geschwindigkeitsüberschreitung tatsächlich begangen habe. In der Hauptverhandlung hat das Amtsgericht die Anträge des Betroffenen auf Aussetzung der Hauptverhandlung und gerichtliche Entscheidung gem. § 46 Abs. 1 OWiG in Verbindung mit § 238 Abs. 2 StPO zurückgewiesen und ihn verurteilt. Das OLG Bamberg hat seine Rechtsbeschwerde gegen die amtsgerichtliche Verurteilung verworfen.

Das BVerfG (NJW 2021, 455 = NZV 2021, 41) sieht das Recht des Betroffenen auf ein faires Verfahren aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG verletzt. Auf folgende Punkte aus der Entscheidung des BVerfG ist hinzuweisen (vgl. a. Burhoff VA 2021, 33 ff.).

  • Das BVerfG (a.a.O.) bestätigt die im Falle eines standardisierten Messverfahrens nach der obergerichtlichen Rechtsprechung reduzierte Sachverhaltsaufklärungs- und Darlegungspflicht der Tatgerichte (vgl. Burhoff/Burhoff, a.a.O., Rn 2310 ff.). Diese Vorgehensweise der Fachgerichte im Ordnungswidrigkeitenverfahren sei nicht zu beanstanden. Hierdurch werde gewährleistet, dass bei massenhaft vorkommenden Verkehrsordnungswidrigkeiten nicht bei jedem einzelnen Bußgeldverfahren anlasslos die technische Richtigkeit einer Messung jeweils neu überprüft werden muss. Dem geringeren Unrechtsgehalt der Ordnungswidrigkeiten gerade im Bereich von massenhaft vorkommenden Verkehrsverstößen könne durch Vereinfachungen des Verfahrensgangs Rechnung getragen werden.

  • Aber: Aus dem Recht auf ein faires Verfahren folgt nach Auffassung des BVerfG grds. auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren das Recht, Kenntnis von solchen Inhalten zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlung entstanden sind, aber nicht zur Akte genommen wurden. Wenn der Betroffene Zugang zu Informationen begehrt, die sich außerhalb der Gerichtsakte befinden, um sich Gewissheit über seiner Entlastung dienende Tatsachen zu verschaffen, ist ihm dieser Zugang grds. zu gewähren.

  • Dies bedeutet – so das BVerfG (a.a.O.) – allerdings nicht, dass das Recht auf Zugang zu den außerhalb der Akte befindlichen Informationen unbegrenzt gilt. Gerade im Bereich massenhaft vorkommender Ordnungswidrigkeiten ist in Hinblick auf die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege eine sachgerechte Eingrenzung des Informationszugangs geboten. Die begehrten, hinreichend konkret benannten Informationen müssen deshalb zum einen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen und zum anderen eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen, um eine uferlose Ausforschung, erhebliche Verfahrensverzögerungen und Rechtsmissbrauch zu verhindern.

  • Insofern ist nach Ansicht des BVerfG (a.a.O.) aber maßgeblich auf die Perspektive des Betroffenen beziehungsweise seines Verteidigers abzustellen. Entscheidend ist, ob dieser eine Information verständiger Weise für die Beurteilung des Ordnungswidrigkeitenvorwurfs für bedeutsam halten darf.

  • Zwar steht dem Betroffenen ein Zugangsrecht vom Beginn bis zum Abschluss des Verfahrens zu. Er kann sich mit den Erkenntnissen aus dem Zugang zu weiteren Informationen aber nur erfolgreich verteidigen, wenn er diesen rechtzeitig im Bußgeldverfahren begehrt. Solange sich aus der Überprüfung der Informationen keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte für die Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses ergeben, bleiben die Aufklärungs- und Feststellungspflichten der Tatgerichte nach den Grundsätzen des standardisierten Messverfahrens reduziert. Ermittelt der Betroffene indes konkrete Anhaltspunkte für eine Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses, hat das AG zu entscheiden, ob es sich – gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines Sachverständigen – dennoch von dem Geschwindigkeitsverstoß überzeugen kann. Im Übrigen bleiben die Möglichkeiten zur Ablehnung von Beweisanträgen aus § 77 Abs. 2 OWiG unberührt.

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2. Folgerungen für die Praxis

Auf den ersten Blick eine sicherlich „schöne Entscheidung“ und ein lang erwarteter Schritt in die richtige Richtung. Aber ein Freifahrtsschein ist die Entscheidung nicht. Denn: Die Grundsätze des standardisierten Messverfahrens bleiben anwendbar. Allerdings betont das BVerfG auch insoweit ein Einsichtsrecht des Betroffenen und gibt damit all denen Recht, die darauf seit Jahren hingewiesen haben (vgl. nur schon Cierniak zfs 2012, 664 ff.; Cierniak/Niehaus DAR 2014, 2 und 2018, 541: a. noch Burhoff/Niehaus, a.a.O., Rn 222 ff.). Aber: Es muss sich um Daten und Unterlagen handeln, die vorhanden sind, es geht zunächst mal nicht um solche, die nicht existieren wie etwa nicht gespeicherte Rohmessdaten. Insoweit zieht das BVerfG (NJW 2021, 455 = NZV 2021, 41) dann aber die Grenzen weiter als bisher die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte. Es geht um das Aufklärungsinteresse des Betroffenen, nicht um das der Verwaltungsbehörde oder des Gerichts, das ggf. bestimmte Beweismittel und Unterlagen nicht für erforderlich hält. Im Übrigen gelten für den Betroffenen folgende Hinweis:

  • Der Betroffene muss sich frühzeitig und rechtzeitig um die Einsicht in die begehrten Beweismittel und Ermittlungsvorgänge bemühen. Er muss also entsprechende Anträge stellen, die dann inhaltlich beschieden werden müssen. Die umfassende und eigenständige Überprüfung des Messergebnisses darf dem Betroffenen nicht verwehrt werden. Er darf also nicht, wie manche Verwaltungsbehörden es in der Vergangenheit immer wieder gern getan haben, auf einen (spätere) richterliche Überprüfung verwiesen werden. Das ist nicht „Parität des Wissens“ (vgl. zur Rechtzeitigkeit KG, Beschl. v. 7.1.20213 Ws (B) 314/20; OLG Brandenburg, Beschl. v. 19.2.2021 – 1 OLG 53 Ss-OWi 684/20).

  • Hat der Betroffene die entsprechenden Unterlagen erhalten, muss er ggf. bei Gericht entsprechende Anträge stellen, die dann anhand der Kriterien der § 244 StPO, § 77 OWiG geprüft werden müssen. Lamentieren, wie es z.B. vor einiger Teil noch das AG St. Ingbert in seinem Urteil vom 10.11.2020 (23 OWi 62 Js 1144/20 [2176/20], VRR 1/2021, 21) getan hat, bringt nichts mehr. Die Anträge sind zu bescheiden, auch, wenn es den „regulären Geschäftsbetrieb erschwert“. Im Übrigen: Das BVerfG sieht den immer wieder beschworenen Stillstand der Rechtspflege in diesen Fällen in seinem Beschluss nicht.

  • Wie wird es nun weitergehen? M.E. werden sich die Verwaltungsbehörden und ihnen im Zweifel folgend die (Ober-)Gerichte versuchen, sich darauf zurück zu ziehen, dass bestimmte Unterlagen/Daten nicht vorhanden sind und deshalb nicht herausgegeben werden können/müssen. Allerdings wird man dem entgegenhalten können, dass das BVerfG eine Prüfungsmöglichkeit für den Betroffenen verlangt und die Hersteller und in ihrem Gefolge zum Teil die Obergerichte nun nicht einfach hingehen können/dürfen und die Geräte so herstellen, dass sie (Mess-)Daten nicht mehr speichern. Ob und inwieweit das zu lässig ist, wird sicherlich die Diskussion der nächsten Zeit beherrschen.

  • Und noch eine weitere Frage wird die Rechtsprechung beschäftigen: Nämlich wie damit umzugehen ist, dass ggf. eine Rechtsfrage nicht dem BGH vorgelegt worden ist? Dazu schweigt das BVerfG (NJW 2021, 455 = NZV 2021, 41). Zwei Landesverfassungsgerichte haben sich dazu allerdings bereits geäußert, und zwar der VerfGH Koblenz (NJW 2020, 3512) und der VerfGH Stuttgart (Urt. v. 14.12.2020 – 1 VB 64/17m DAR 2021, 81). Beide sehen in einer Nichtvorlage einen Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters. Allerdings: Auch hier muss der Verteidiger reagieren. Denn der Betroffene muss ggf. erläutern, welche relevanten Erkenntnisse er oder ein von ihm beauftragter Sachverständiger aus den verlangten Daten für eine ihn betreffende Einzelmessung gewinnen will (OLG Zweibrücken zfs 2020, 413). Tut er das nicht bzw. nicht ausreichend, muss er sich möglicherweise entgegen halten lassen, dass es um eine Frage des Einzelfalls handelt und deshalb eine Divergenzvorlage ausscheidet (OLG Zweibrücken a.a.O.).

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3. Reaktionen aus der Praxis

Es war zu erwarten, dass die Literatur die Entscheidung des BVerfG (NJW 2021, 455 = NZV 2021, 41) zustimmend aufnehmen würde. Die ersten Stimmen liegen vor (vgl. Krenberger NZV 2021, 41; Niehaus VRR 1/2021, 4 ff.; Burhoff VA 2021, 33). In der Rechtsprechung hat das BayObLG schnell reagiert und in seinem Beschluss vom 4.1.2021 (202 ObOWi 1532/20, DAR 2021, 104 = VRR 1/2021, 14 = StRR 2/2021, 30) Stellung genommen. Das BayObLG (a.a.O.) – in der „Nachfolge“ des OLG Bamberg – geht jetzt auch davon aus, dass sich aus dem Recht auf ein faires Verfahren bei einer standardisierten Messung ein Anspruch des Betroffenen auf Zugang zu nicht bei der Bußgeldakte befindlicher, aber bei der Verfolgungsbehörde vorhandener und zum Zwecke der Ermittlungen entstandener bestimmter Informationen, wie z.B. der sog. Rohmessdaten einer konkreten Einzelmessung, ergeben kann. Das BayObLG (a.a.O.) hält aber daran fest, dass durch die bloße Versagung der Einsichtnahme bzw. die Ablehnung der Überlassung von nicht zu den Bußgeldakten gelangter sog. Rohmessdaten das rechtliche Gehör des Betroffenen (Art. 103 Abs. 1 GG) regelmäßig nicht verletzt sein soll. So hat u.a. das BayObLG (Beschl. v. 9.12.19 – 202 ObOWi 1955/19, DAR 2020, 145) und das KG (Beschl. v. 2.4.2019 – 122 Ss 43/19) entschieden. Auch soll ein Anspruch des Betroffenen und seiner Verteidigung auf Einsichtnahme und Überlassung der (digitalen) Daten der gesamten Messreihe nicht bestehen (so schon u.a. OLG Zweibrücken, Beschl. v. 5.5.2020 – 1 OWi 2 SsBs 94/19, zfs 2020, 413; vgl. auch noch zur Entscheidung des BVerfG v. 12.11.2020; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 7.1.2021 – 1 OWi 2 SsBs 98/20; AG St. Ingbert, Urt. v. 13.1.2021 – 23 OWi 68 Js 1367/20 (2105/20); OVG Münster, Beschl. v. 4.1.2021 – 8 B 1781/20).

Hinweis:

Das BayObLG (a.a.O.) hat sich dem BVerfG (a.a.O.) damit nur teilweise angeschlossen, teilweise weiß man es auch schon wieder besser. Denn die Ausführungen zu Umfang der Einsichtnahme dürften nicht mit dem in Einklang stehen, was das BVerfG in seinem Beschluss vom 12.11.2020 ausgeführt hat. Das BVerfG (a.a.O.) hat klar und deutlich gesagt, dass es Sache der Verteidigung und eines ggf. beauftragten Sachverständigen ist, zu beurteilen, welche Daten man zur Überprüfung braucht. Mit der entsprechenden Passage des Beschlusses des BVerfG (a.a.O.) setzt sich das BayObLG (a.a.O.) nicht auseinander. Wenn man es getan hätte, dann hätte man auch etwas zu der vom BVerfG (a.a.O.) in Bezug genommenen Spurenaktenentscheidung in BVerfGE 63, 45 ff. sagen müssen. Denn da wird dem Beschuldigten auch das Recht eingeräumt, dass „er selbst nach Entlastungsmomenten suchen kann, die zwar fernliegen mögen, aber nicht schlechthin auszuschließen sind.“ Auf die Sicht der Ermittlungsbehörden kommt es grds. nicht an. Das BayObLG scheint da anderer Ansicht zu sein. Der Kampf wird also weiter gehen.

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