aus ZAP Heft 13/2019, F. 22 R, 1117
(Ich bedanke mich bei der Schriftleitung von "ZAP" für die freundliche Genehmigung, diesen Beitrag aus "ZAP" auf meiner Homepage einstellen zu dürfen.)
Von Rechtsanwalt Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg
1. Anforderungen an die Ausgestaltung des richterlichen Bereitschaftsdienstes
a) Akteneinsicht bei nicht vollstrecktem Haftbefehl nach Flucht
1. Sitzungshaftbefehl (§ 230 Abs. 2 StPO)
2. Wiedereintritt in die Hauptverhandlung und letztes Wort des Angeklagten
1. Begriff der Mehrkosten bei der einvernehmlichen "Umbeiordnung"
2. Anfall der zusätzlichen Verfahrensgebühr Nr. 4142 VV RVG nach neuem Vermögensabschöpfungsrecht
Ich hatte in ZAP F. 22 R, S. 1103 auf die Änderung des § 350 StPO durch das "Gesetz zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Anwesenheit in der Verhandlung vom 17.12.2018", das am 21.12.2108 in Kraft getreten ist (BGBl I, S. 2.571) hingewiesen. Durch diese Änderungen ist in § 350 StPO der alte Absatz 3 der Vorschrift entfallen. Dieser lautete:
"(3) Hat der Angeklagte, der nicht auf freiem Fuße ist, keinen Verteidiger gewählt, so wird ihm, falls er zu der Hauptverhandlung nicht vorgeführt wird, auf seinen Antrag vom Vorsitzenden ein Verteidiger für die Hauptverhandlung bestellt. Der Antrag ist binnen einer Woche zu stellen, nachdem dem Angeklagten der Termin für die Hauptverhandlung unter Hinweis auf sein Recht, die Bestellung eines Verteidigers zu beantragen, mitgeteilt worden ist."
Diese Regelung war die Grundlage für die in Rechtsprechung und Literatur vertretene Auffassung, dass ein Pflichtverteidigerbestellung aus dem Erkenntnisverfahren nicht für die Revisionshauptverhandlung gilt, sondern der Verteidiger für diese vom Revisionsgericht gesondert bestellt werden musste.
Diese Auffassung wird man jetzt kaum mehr aufrechterhalten können. Dies gilt vor allem, wenn man die Gesetzesbegründung (BT-Drucks 19/4467, S. 24 f.) liest, in der es ausdrücklich heißt, dass "auch im Bereich der Revisionshauptverhandlung künftig allein die allgemeinen Vorschriften über die notwendige Verteidigung zur Anwendung gelangen [sollen]. Die bisher vertretene Auffassung, die Bestellung eines Pflichtverteidigers wirke zwar im Revisionsverfahren grundsätzlich fort, ende aber vor der Revisionshauptverhandlung, wird sich nach der Streichung der Sonderregelung des § 350 Abs. 3 StPO und angesichts der systematischen Stellung des § 140 StPO nicht mehr halten lassen. Vielmehr wird davon auszugehen sein, dass eine bereits erfolgte Pflichtverteidigerbestellung fortwirkt und bei einem nicht verteidigten Angeklagten die Notwendigkeit einer Verteidigung in der Revisionshauptverhandlung - insbesondere am Maßstab des § 140 Abs. 2 StPO - stets zu prüfen ist."
Hinweis
Aus dieser Änderung folgt: Eine Pflichtverteidigerbestellung gilt (jetzt) auch im Revisionsverfahren. Ggf. sollte der Verteidiger sich das, bis die Revisionsgerichte gezeigt haben, wohin der Weg geht, in einem Beschluss "bestätigen" lassen.
Im Übrigen: I.d.R. wird der Angeklagte im Revisionsverfahren nicht unverteidigt sein. Entweder ist ihm nach § 140 Abs. 2 StPO ein Pflichtverteidiger bestellt worden oder, wenn er sich nicht auf freiem Fuß befindet (auch) nach § 140 Abs. 1 Nr. 4 oder 5 StPO. Sollte der Fall eintreten, dass ein unverteidigter Angeklagter erst kurz vor der Revisionshauptverhandlung in anderer Sache inhaftiert oder in eine Anstalt eingewiesen wird, so hat das Revisionsgericht dem Angeklagten jedenfalls nach § 140 Abs. 2 StPO einen Verteidiger zu bestellen.
Im Übrigen soll die derzeit in § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO enthaltene Dreimonatsgrenze im Gesetzgebungsverfahren zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/1919 über Prozesskostenhilfe für verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren (ABl L 297 vom 26.10.2016, S. 1) ohnehin gestrichen werden.
Das BVerfG hat in seinem Beschl. v. 12.3.2019 (2 BvR 675/14, ZAP EN-Nr. 249/2019 = NJW 2019, 1428) noch einmal/erneut zum richterlichen Bereitschaftsdienst Stellung genommen. Das Verfahren geht zurück auf zwei Wohnungsdurchsuchungen, die im September 2013 (!) morgens zwischen 4 Uhr und 5 Uhr von der Polizei und der Staatsanwaltschaft wegen Gefahr im Verzug angeordnet worden waren. Der (spätere) Beschuldigte wurde am frühen Samstagmorgen des 14.9.2013 von Rettungskräften in Rostock aufgefunden. Er befand sich infolge eines akuten Rauschzustands in hilfloser Lage. Da die Rettungskräfte baten, in der Wohnung nach Personaldokumenten und Hinweisen darauf zu suchen, was die Person zu sich genommen haben könnte, betraten die Polizeibeamten seine Wohnung, während der Beschuldigte in das Universitätsklinikum Rostock verbracht wurde. Dort fanden die Polizeibeamten u.a. zwei große Plastiktüten mit Cannabisprodukten. Aufgrund ihres Fundes gingen die Polizeibeamten von einem Verdacht des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln aus. Sie hielten deshalb telefonisch Rücksprache mit der zuständigen Bereitschaftsstaatsanwältin, die um 4:44 Uhr die Durchsuchung der Wohnung zur Beschlagnahme von Beweismitteln anordnete. Ob sie zuvor versucht hatte, den zuständigen Ermittlungsrichter des AG Rostock zu erreichen, ließ sich der Ermittlungsakte nicht entnehmen. Bei der dann vollzogenen Durchsuchung wurden u.a. Cannabisprodukte beschlagnahmt. Die Rechtsmittel des Beschuldigten gegen die nichtrichterlichen Durchsuchungsanordnungen und die gerichtlichen Bestätigungsbeschlüsse hatten keinen Erfolg. Den hat erst die Verfassungsbeschwerde gebracht, allerdings nur betreffend die Durchsuchungsanordnung der Bereitschaftsstaatsanwältin.
Das BVerfG (a.a.O.) geht von einer Verletzung der Grundrechte des Beschuldigten aus Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2 GG aus. Die staatlichen Organe seien verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die effektive Durchsetzung des grundrechtssichernden Richtervorbehalts gem. Art. 13 Abs. 2 Hs. 1 GG gewährleistet sei. Art. 13 GG verpflichte die für die Organisation der Gerichte zuständigen Organe der Länder und des Bundes, die Voraussetzungen für eine tatsächlich wirksame präventive richterliche Kontrolle - u.a. eine ausreichende sachliche und personelle Ausstattung der Gerichte - zu schaffen (BVerfGE 103, 142, 152 = NJW 2002, 1233; BVerfGE 139, 245, 267 = NJW 2015, 2787 = StRR 2015, 381 mit Anm. Laudon). Aus Art. 13 Abs. 2 GG folge aber nicht, dass an allen nach § 162 Abs. 1 S. 1 StPO für die ermittlungsrichterlichen Aufgaben zuständigen AG von Verfassungs wegen ein Richter "rund um die Uhr" erreichbar sein müsse. Art. 13 Abs. 2 Hs. 2 GG sehe die Eilkompetenz der Strafverfolgungsbehörden als Ausnahme ausdrücklich vor. Dem Umstand, dass eine nächtliche Wohnungsdurchsuchung ungleich stärker in die Rechtssphäre des Betroffenen eingreift als zur Tageszeit, habe der Gesetzgeber mit § 104 StPO grds. Rechnung getragen. Diese Vorschrift gewährleiste - so das BVerfG - den gem. Art. 13 Abs. 1 GG gebotenen Schutz vor nächtlichen Wohnungsdurchsuchungen jedoch nur unvollkommen. Soweit die in § 104 Abs. 3 StPO definierte Nachtzeit in den Monaten April bis September bereits um 4 Uhr morgens enden, bilde die Vorschrift nicht mehr die Lebenswirklichkeit ab. Vielmehr seien nach den heutigen Lebensgewohnheiten mindestens die Stunden zwischen 4 Uhr und 6 Uhr noch der Nacht zuzurechnen (vgl. § 758a Abs. 4 S. 2 ZPO). Daher sei es von Verfassungswegen geboten, dass sich der Schutz vor nächtlichen Wohnungsdurchsuchungen - insofern abweichend von § 104 Abs. 3 StPO - auch in den Monaten April bis September auf die Zeit von 4 Uhr bis 6 Uhr morgens erstreckt. Insoweit könnten nach Auffassung des BVerfG die Ausnahmeregelungen der Absätze 1 und 2 des § 104 StPO übertragen werden. Sei der Vollzug von Wohnungsdurchsuchungen danach ganzjährig zwischen 21 Uhr und 6 Uhr eingeschränkt und bestehe für diese Zeit ein regelmäßig deutlich geringerer Bedarf an Anordnungen von Wohnungsdurchsuchungen, so sei es gerechtfertigt, einen ermittlungsrichterlichen Bereitschaftsdienst in der Zeit von 21 Uhr bis 6 Uhr von Verfassungswegen nur insoweit für geboten zu erachten, als ein über den Ausnahmefall hinausgehender Bedarf an nächtlichen Durchsuchungsanordnungen besteht.
Auf der Grundlage beanstandet das BVerfG die Ausgestaltung des richterlichen Bereitschaftsdienstes. Der war wie folgt geregelt: Beim AG Rostock bestand im Jahr 2013 an Samstagen und dienstfreien Tagen (z.B. dem 24. und dem 31. 12.) ein richterlicher Bereitschaftsdienst in Form einer Präsenzbereitschaft im Zeitraum von 10 Uhr bis 12 Uhr, an Sonn- und Feiertagen im Zeitraum von 11 Uhr bis 12 Uhr. Diese Bereitschaft dauerte jeweils auch nach 12 Uhr an, sofern zuvor durch die Staatsanwaltschaft oder die Polizei eilige Anträge angekündigt worden waren. Außerdem war ein gesonderter richterlicher Rufbereitschaftsdienst eingerichtet, der jeweils nach Dienstende (montags bis donnerstags ab 16:15 Uhr; freitags ab 15 Uhr; samstags, sonntags und feiertags ab 12 Uhr) begann und bis 21 Uhr andauerte. Diese Ausgestaltung der Bereitschaftsdienstzeiten wird nach Auffassung des BVerfG den Anforderungen aus Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2 GG nicht gerecht. Am Samstag, den 14.9.2013 habe ein richterlicher Präsenzbereitschaftsdienst im Zeitraum von 10 Uhr bis 12 Uhr bestanden, an den sich ein bis 21 Uhr dauernder Rufbereitschaftsdienst anschloss. Im Zeitraum zwischen 6 Uhr und 10 Uhr sei dagegen kein Ermittlungsrichter erreichbar gewesen. Die unabhängig vom konkreten Bedarf gebotene uneingeschränkte Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters bei Tage, die ausnahmslos auch für Samstage, Sonntage und gesetzliche Feiertage sicherzustellen ist, sei auf diese Weise nicht gewährleistet. Ein Ermittlungsrichter hätte mindestens ab 6 Uhr erreichbar sein müssen.
Die Instanzgerichte hätten sich daher - so das BVerfG - mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob die Anordnung der Durchsuchung durch die Bereitschaftsstaatsanwältin um 4:44 Uhr im Falle eines verfassungsgemäß eingerichteten ermittlungsrichterlichen Bereitschaftsdienstes wegen Gefahr im Verzug gerechtfertigt gewesen wäre. Dabei hätte es nach Auffassung des BVerfG vorliegend nahegelegen, zunächst zu prüfen, ob die Staatsanwaltschaft ohne Gefährdung des Durchsuchungszwecks bis zur hypothetischen, von Verfassungswegen mindestens gebotenen Erreichbarkeit des Ermittlungsrichters um 6 Uhr morgens hätte zuwarten müssen, um sodann eine richterliche Durchsuchungsanordnung zu beantragen. Hätte das LG dies verneint, weil die durch die Einholung der richterlichen Anordnung bedingte zeitliche Verzögerung den Erfolg der Durchsuchung aus seiner Sicht gefährdet hätte, hätte es sich mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob für das Präsidium des AG angesichts des Bedarfs an nächtlichen Durchsuchungsanordnungen Anlass bestanden hätte, die Erreichbarkeit eines Ermittlungsrichters zum Zeitpunkt der staatsanwaltlichen Durchsuchungsanordnung sicherzustellen.
Hinweis
Das BVerfG macht in Fortführung seiner bisherigen Rechtsprechung deutlich, dass die Einrichtung des richterlichen Bereitschaftsdienstes auch von 21.00 bis 6.00 Uhr erforderlich sein kann (vgl. zum richterlichen Bereitschaftsdienst auch Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 8. Aufl., 2019, Rn 1609 ff. m.w.N. aus der Rechtsprechung [im Folgenden kurz: Burhoff, EV]). Allerdings ist die Einrichtung nicht zwingend. Voraussetzung ist vielmehr das Bestehen eines über den Ausnahmefall hinausgehenden Bedarfs an nächtlichen Durchsuchungsanordnungen. Von der Einrichtung eines nächtlichen ermittlungsrichterlichen Bereitschaftsdienstes kann nur abgesehen werden, soweit nachts Durchsuchungsanordnungen lediglich in sehr geringem Umfang anfallen. Leider hat das BVerfG der Praxis keine Vorgaben an die Hand gegeben, mit denen dieser "sehr geringe Umfang" ex-ante für die Aufstellung entsprechender Präsidiumsbeschlüsse, zu ermitteln wäre. Der Verteidiger hat also keine generellen Maßstäbe, an denen er die Rechtmäßigkeit einer Durchsuchungsanordnung prüfen könnte.
Die Frage der Akteneinsicht des Verteidigers in den Fällen des nicht vollstreckten Haftbefehls ist ein Problem, dass die Praxis immer wieder beschäftigt. Dazu hat jetzt noch einmal das OLG München Stellung genommen (vgl. OLG München, Beschl. v. 22.1.2019 - 2 Ws 51/19, StRR 4/2019, 22; zu den Fragen eingehend auch Burhoff, EV, Rn 284 ff. m.w.N.). Nach dem Sachverhalt hatte das AG gegen den Beschuldigten in einem laufenden Ermittlungsverfahren einen Haftbefehl erlassen. Der Beschuldigte hatte sich dem Verfahren durch Flucht entzogen und war unbekannten Aufenthalts. Der Verteidiger des Beschuldigten hat gegen den Haftbefehl Beschwerde eingelegt und bis dahin nicht gewährte Akteneinsicht beantragt. Die Staatsanwaltschaft hat das abgelehnt. Die dagegen gerichteten Rechtsmittel hatten keinen Erfolg.
Das OLG (Beschl. v. 22.1.2019 - 2 Ws 51/19, StRR 4/2019, 22) hat in seiner Entscheidung an der h.M. in dieser Frage festgehalten (vgl. dazu Burhoff, EV, Rn 310 ff. m.w.N.). Solange in einem laufenden Ermittlungsverfahren ein bestehender Ergreifungshaftbefehl gegen den untergetauchten Beschuldigten noch nicht vollstreckt ist, habe der Verteidiger weder einen Anspruch auf Gewährung von Akteneinsicht noch auf Mitteilung des Haftbefehls (KG NStZ 2012, 588 = StRR 2011, 470 m. Anm. Burhoff; OLG München NStZ 2009, 110 = StRR 2008, 475 m. Anm. Herrmann). Die Verweigerung der Akteneinsicht verletze nicht das Recht des Beschuldigte auf Gewährung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG oder dessen Anspruch auf Gewährleistung einer effektiven Verteidigungsmöglichkeit nach Art. 19 Abs. 4, 20 Abs. 3 GG. Das BVerfG (NStZ-RR 1998, 108) habe hierzu ausgeführt, ein vorläufig gegenüber dem Beschuldigten abgeschirmtes Ermittlungswissen der Strafverfolgungsbehörden sei wegen des Auftrags des Strafverfahrens, den Sachverhalt zu erforschen und die Wahrheit zu finden, verfassungsrechtlich unbedenklich. Zwar beschwere auch der bloße Erlass eines Haftbefehls gegen einen flüchtigen Beschuldigten. Seinem Informationsinteresse werde jedoch durch die Regelung der StPO insbesondere zur richterlichen Vernehmung ausreichend Rechnung getragen. § 115 Abs. 3 StPO bestimme, dass der Beschuldigte im Rahmen der Vorführung vor den zuständigen Richter nach Ergreifung aufgrund eines Haftbefehls auf die ihn belastenden Umstände und sein Recht hinzuweisen sei, sich zur Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen. Weiterhin sei ihm Gelegenheit zu geben, die Verdachts- und Haftgründe zu entkräften und die Tatsachen geltend zu machen, die zu seinen Gunsten sprechen. Diese Informationspflicht gehe über die Mitteilung des Inhalts des Haftbefehls hinaus und umfasse auch das die Haft veranlassende Belastungsmaterial in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht. Erst im Rahmen der nach der richterlichen Vernehmung gebotenen Prüfung des Haftbefehls werde das Strafgericht unter Berücksichtigung der Grundsätze des BVerfG (NStZ 1994, 551) zu beurteilen haben, welche Rechtsfolgen sich an eine etwaige Verweigerung der Akteneinsicht knüpfen.
Hinweis
Die Entscheidung entspricht der h.M. in der Rechtsprechung. Ob dem Informationsinteresse des Beschuldigten allerdings, wie das BVerfG (a.a.O.) meint, durch die Vorschriften über die Vorführung des Beschuldigten (§ 115 StPO) gewahrt sind, kann man ggf. bezweifeln. Jedenfalls sollte man m.E. eine entsprechende Anwendung des § 147 Abs. 2 S. 2 StPO diskutieren.
Zuletzt wurde in ZAP F. 22 R, S. 1103[DB1] ff. über aktuelle Rechtsprechung zu Haftfragen berichtet. An die Zusammenstellung schließt die nachfolgende Rechtsprechungsübersicht an (vgl. i.Ü. eingehend zu den mit den Untersuchungshaftfragen zusammenhängenden Problemen Burhoff, EV, Rn 2312 ff., 4127 ff.).
Hinweis
Das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24.11.2011 (BGBl I, 2302) gewährt zwar einen Ausgleich für rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen, entbindet aber den Gesetzgeber nicht von seiner Pflicht, rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln schon in der Entstehung zu verhindern. Es stellt daher einen Verstoß gegen das Verfassungsgebot einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege dar, wenn rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen in Nichthaftsachen immer mehr unter Anwendung der sog. "Vollstreckungslösung" als scheinbar nicht zu vermeidender Nachteil Akzeptanz finden. Es müssen gerade auch Jugendstrafverfahren und Jugendschutzsachen, die keine Haftsachen sind, zügig terminiert und abgeschlossen werden (OLG Karlsruhe NStZ-RR 2017, 59 = Justiz 2018, 499 = StV 2017, 711).
Das OLG Brandenburg hat in seinem Beschl. v. 11.3.2019 (1 Ws 35/19) zu zwei Fragen in Zusammenhang mit einem nach § 230 Abs. 2 StPO ergangenen sog. Sitzungshaftbefehl Stellung genommen. Die Hauptverhandlung gegen den Angeklagten hatte am 9.1.2019 vor der großen Strafkammer des LG begonnen. Nachdem der Angeklagte einem Fortsetzungstermin am 16.1.2019 trotz ordnungsgemäßer Ladung unentschuldigt ferngeblieben war, erließ das LG am 16.1.2019 außerhalb der Hauptverhandlung gegen ihn einen Haftbefehl gem. § 230 Abs. 2 StPO. Der Angeklagte wurde daraufhin am 17.1.2019 festgenommen, der Haftbefehl wurde ihm am 18.1.2019 verkündet. Der Verteidiger hat am 7.2.2019 gegen den Haftbefehl Beschwerde eingelegt, der das LG nicht abgeholfen hat. Mit Beschl. v. 22.2.2019 hat das LG den Haftbefehl aufgehoben, da es das Verfahren nach § 229 Abs. 4 StPO wegen einer Erkrankung eines Schöffen ausgesetzt hat. Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Haftbefehl hatte beim OLG Erfolg.
Das OLG Brandenburg (a.a.O.) hat zunächst zur Frage der Zulässigkeit des Rechtsmittels des Angeklagten Stellung genommen. Nach Auffassung des OLG (a.a.O.) ist die Beschwerde des Angeklagten durch die Aufhebung des Haftbefehls und dessen Entlassung aus der Haft nicht gegenstandslos geworden. Nach der Rechtsprechung des BVerfG gebe das Erfordernis eines effektiven Rechtschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) einem Betroffenen das Recht, die Berechtigung eines tiefgreifenden Grundrechtseingriffs auch dann noch gerichtlich klären zu lassen, wenn dieser tatsächlich nicht mehr fortwirkt. Während früher generell eine nachträgliche gerichtliche Klärung schwerwiegender Grundrechtseingriffe davon abhängig gemacht worden sei, dass deren direkte Belastung sich typischerweise auf eine Zeitspanne beschränkt, in der der Betroffene die gerichtliche Entscheidung in dem von der maßgeblichen Prozessordnung vorgesehenen Verfahren kaum erlangen kann, hänge nach der neueren Rechtsprechung des BVerfG die Gewährung von Rechtsschutz im Hinblick auf das bei Freiheitsentziehungen bestehende Rehabilitierungsinteresse weder vom konkreten Ablauf des Verfahrens und dem Zeitpunkt der Erledigung der Maßnahme noch davon ab, ob Rechtsschutz typischerweise noch vor Beendigung der Haft erlangt werden könne. Dies gelte sowohl für den Fall der strafrechtlichen Untersuchungshaft als auch für die Konstellation eines Sitzungshaftbefehls. Die Beschwerde dürfe in solchen Fällen nicht wegen prozessualer Überholung als unzulässig verworfen werden; vielmehr sei die Rechtmäßigkeit der zwischenzeitlich erledigten Maßnahme zu prüfen und gegebenenfalls deren Rechtswidrigkeit festzustellen. Diese Voraussetzungen seien hier - so das OLG - erfüllt. Die Verhaftung eines nicht erschienenen Angeklagten zur Sicherstellung der Hauptverhandlung stelle einen schwerwiegenden Eingriff in das durch Art. 2 Abs. 2 GG garantierte Grundrecht dar.
Zur Begründetheit des Rechtsmittels führt das OLG Brandenburg (a.a.O.) aus, dass die Haftanordnung der Strafkammer rechtswidrig gewesen sei. Der auf § 230 Abs. 2 StPO gestützte Haftbefehl sei bereits deshalb rechtswidrig, weil er nicht ordnungsgemäß erlassen worden sei. Über Zwangsmittel nach § 230 Abs. 2. StPO habe nämlich das erkennende Gericht grundsätzlich in der für die Hauptverhandlung maßgebenden Besetzung, mithin unter Mitwirkung der Schöffen, zu entscheiden. Der angefochtene Haftbefehl sei aber nicht in der Hauptverhandlung mit der hierfür maßgeblichen Besetzung erlassen worden. Zwar könne das Gericht außerhalb der Hauptverhandlung einen Haftbefehl gem. § 230 Abs. 2 StPO erlassen, wenn es sich diesen Erlass in der Hauptverhandlung vorbehalte; Voraussetzung eines solchen Vorbehalts sei aber, dass eine vorgebrachte Entschuldigung geprüft oder der Eingang des glaubhaft angekündigten Nachweises abgewartet werden soll. Das sei hier aber nicht der Fall gewesen.
Hinweis
Die Entscheidung entspricht der h.M. in der obergerichtlichen Rechtsprechung (zur Zulässigkeit und zur Rechtsprechung des BVerfG s. Burhoff, EV, Rn 3621 ff.; zur Zuständigkeit für den Erlass des Sitzungshaftbefehls Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 9. Aufl., 2019, Rn 4074 ff. [im Folgenden kurz: Burhoff, HV]). Nicht eindeutig ist allerdings, ob, wie das OLG ausführt, sich das Gericht den Erlass des Haftbefehls vorbehalten kann. Der Wortlaut des Gesetzes sieht diese Möglichkeit jedenfalls nicht vor.
Eine "Erörterung" der Sach- und Rechtslage bezieht sich im Zweifel auf Fragen, die für die Sachentscheidung bedeutsam sind. Daher ist dem Angeklagten danach ggf. erneut das letzte Wort zu gewähren. Das ist das Fazit aus dem BGH, Beschl. v. 5.2.2019 (3 StR 469/18, ZAP EN-Nr. 378/2019 = StRR 2019, Nr. 5), der eine Verfahrensrüge eines Angeklagten als begründet angesehen hatte. Nach dem Sachverhalt hatten die Angeklagten in einem gegen sie wegen des Vorwurfs des Raubes geführten Verfahrens in der Hauptverhandlung am 1.3.2018 nach dem Schluss der Beweisaufnahme und den Schlussvorträgen jeweils das letzte Wort erhalten. Anschließend wurde die Hauptverhandlung um 11.35 Uhr unterbrochen und um 11.45 Uhr fortgesetzt. Sodann wurde die Sach- und Rechtslage erörtert. Danach wurde die Hauptverhandlung erneut unterbrochen und am 7.3.2018 fortgesetzt. An diesem Tag wurde das Urteil verkündet, ohne dass dem Angeklagten erneut das letzte Wort gewährt worden war.
Der Angeklagte hat nach Auffassung des BGH (a.a.O.) zu Recht beanstandet, dass ihm nach der Erörterung der Sach- und Rechtslage nicht erneut das letzte Wort erteilt wurde. Insoweit gelte: Gemäß § 258 Abs. 2 Hs. 2 StPO gebühre dem Angeklagten nach dem Schluss der Beweisaufnahme und den Schlussvorträgen das letzte Wort. Trete das Gericht danach erneut in die Beweisaufnahme ein, sei dem Angeklagten wiederum das letzte Wort zu erteilen. Denn mit dem Wiedereintritt in die Verhandlung haben die früheren Ausführungen des Angeklagten ihre Bedeutung als abschließende Äußerungen i.S.d. § 258 Abs. 2 Hs. 2 StPO verloren (BGH NStZ 1993, 551 m.w.N.). Der Wiedereintritt in die Verhandlung müsse nicht förmlich, sondern könne auch konkludent durch Vornahme einer Prozesshandlung geschehen (BGH NStZ 2004, 505, 507). Ob von einem Wiedereintritt in die Verhandlung auszugehen sei, sei anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls zu bestimmen (BGH NStZ-RR 2010, 152). Maßgeblich sei, ob es sich um einen Verfahrensvorgang handelt, der für die Sachentscheidung des Tatgerichts von Bedeutung sein kann (BGH, a.a.O.). Das sei beispielsweise nicht der Fall bei einer bloßen Entgegennahme von Hilfsbeweisanträgen (BGHBGHR StPO § 258 Abs. 3 Wiedereintritt 14), bei einer Ersetzung eines Pflichtverteidigers (BGH, Beschl. v. 17.9.21981 - 4 StR 496/81) oder bei der Kundgabe eines Negativattests i.S.d. § 273 Abs. 1a S. 3 StPO. Ein Verfahrensvorgang, der Einfluss auf die Sachentscheidung haben könne, sei demgegenüber jede Prozesshandlung, die ihrer Natur nach in den Bereich der Beweisaufnahme fällt sowie jede Handlung, in der sich der Wille des Gerichts zum Weiterverhandeln in der Sache zeigt (BGHR StPO § 258 Abs. 3 Wiedereintritt 19). Das sei insbesondere der Fall, wenn der Wille des Gerichts zum Ausdruck kommt, im Zusammenwirken mit den Prozessbeteiligten in der Beweisaufnahme fortzufahren oder wenn Anträge erörtert werden (BGH NStZ-RR 2010, 152 m.w.N.).
Ebenso verhält es sich nach Auffassung des BGH, falls - wie hier - "die Sach- und Rechtslage erörtert" wird (so bereits BGH NStZ 2012, 587). Wenngleich eine "Erörterung" der Sach- und Rechtslage nicht notwendigerweise die Möglichkeit einer Verständigung (§ 257c StPO) zum Gegenstand haben müsse, so verstehe es sich doch von selbst, dass sich die Erörterung "der Sach- und Rechtslage" auf Fragen beziehe, die für die Sachentscheidung bedeutsam seien. Die in der Hauptverhandlung relevante Sach- und Rechtslage werde durch den Anklagevorwurf und die dadurch aufgeworfenen Fragen bestimmt, insbesondere diejenigen, die den Schuld- und Strafausspruch betreffen. Danach sei das Gericht hier durch die Erörterung der Sach- und Rechtslage mit den Verfahrensbeteiligten wieder in die Verhandlung eingetreten, so dass dem Angeklagten anschließend erneut das letzte Wort hätte erteilt werden müssen.
Hinweis
Eine der doch recht häufigen Entscheidungen des BGH zum sog. Wiedereintritt in die Hauptverhandlung und zum danach dem Angeklagten noch einmal zu gewährenden letzten Wort. Eine Problematik, die bei § 258 StPO angesiedelt ist. Eins ist in diesen Fällen fast immer sicher. Revisionen, die auf einen solchen Verfahrensfehler gestützt werden, haben meist beim BGH Erfolg. Der bügelt in diesen Fällen auch nicht mit der Keule des Beruhens (§ 337 StPO) darüber. So auch hier, wo er nur lapidar ausgeführt hat: "Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Angeklagte, der die Anklagevorwürfe in Abrede gestellt hatte, nunmehr Angaben gemacht hätte, die sich zu seinen Gunsten ausgewirkt hätten." (zu allem eingehend auch Burhoff, HV, 3766 ff., 2050 ff. mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung).
In der Praxis spielt die sog. Umbeiordnung des Pflichtverteidigers eine große Rolle (vgl. dazu Burhoff, EV, Rn 3210 ff.). So auch in dem OLG Celle, Beschl. v. 6.2.2019 (2 Ws 37/19, StraFo 2019, 263) zugrunde liegenden Verfahren, in dem ein einvernehmlicher Wechsel des Pflichtverteidigers vorgenommen worden ist. Das AG hatte dem Angeklagten zunächst einen ortsansässigen Verteidiger zum Pflichtverteidiger bestellt. Diesen hat das AG dann später entpflichtet und einen anderen (Wahl)Pflichtverteidiger beigeordnet, der seinen Kanzleisitz in einem anderen Ort hatte, mit dem Hinweis, dass durch die Umbeiordnung entstehende Mehrkosten nicht erstattet werden. Dagegen hatte der Pflichtverteidiger Beschwerde eingelegt, die aber u.a. mit der Begründung verworfen worden war, dass die erfolgte Umbeiordnung nur möglich gewesen sei, wenn der Staatskasse keine Mehrkosten entstehen. Im Rahmen der Kostenfestsetzung beantragt der Verteidiger dann die Gebührenfestsetzung. Dem Antrag ist von der Kostenbeamtin nur teilweise entsprochen worden. Sie hat die Fahrtkosten für drei Hauptverhandlungstermine (Nr. 7003 VV RVG) und Abwesenheitsgelder nebst anteiliger Umsatzsteuer in Abzug gebracht. Diese Kostenpositionen seien lediglich durch die Umbeiordnung entstanden, da der Verteidiger aus einem anderen Ort komme und nicht wie der vormalige Verteidiger ortsansässig sei- Dagegen das Rechtsmittel des Verteidigers, das Erfolg hatte.
Ausgangspunkt für die Überlegung, welche Kosten festzusetzen sind, war für das OLG Celle (a.a.O.) § 48 Abs. 1 RVG. Danach bestimmt sich der Vergütungsanspruch des bestellten Verteidigers nach dem Beiordnungsbeschluss. Durch diesen wurde hier eine Erstattung der durch die Umbeiordnung entstandenen Mehrkosten ausgeschlossen. Das OLG Celle geht davon aus, dass von dem auslegungsfähigen Begriff der "Mehrkosten" die hier geltend gemachten Positionen der Fahrtkosten und des Abwesenheitsgeldes aber nicht erfasst werden. Mit dem Begriff der Mehrkosten werden Fiskalinteressen geschützt: Der Fiskus solle durch den Sinneswandel des Beschuldigten nicht belastet werden. Die so zu schützenden Fiskalinteressen reichen aber nicht weiter, als wenn der Beschuldigte den jetzt gewählten Verteidiger von vornherein bezeichnet hätte und dieser hätte beigeordnet werden können (OLG Oldenburg StRR 5/2017, 4; Beschl. v. 23.4.2015 - 1 Ws 170/15). Angesichts der durch das 2. ORRG v. 29.7.2009 erfolgten Streichung der früheren gesetzlichen Einschränkung, dass der Verteidiger möglichst aus der Zahl der örtlichen Rechtsanwälte ausgewählt werden sollte, sei die Gerichtsnähe des Verteidigers keine wesentliche Voraussetzung mehr (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., 2019, § 142, Rn 5; vgl. Laufhütte in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 8. Aufl., 2019, § 142, Rn 5). Zwar könne der ortsferne Kanzleisitz des gewählten Verteidigers nach wie vor im Einzelfall einen Grund darstellen, die Bestellung des gewünschten Rechtsanwalts abzulehnen. Im Bestellungsverfahren trete der Gesichtspunkt der Ortsnähe im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung aber grundsätzlich gegenüber dem besonderen Vertrauensverhältnis des Beschuldigten zu seinem Verteidiger zurück (vgl. BVerfG NJW 2001, 3695; BGHSt 43, 153, OLG Stuttgart StraFo 2006, 112). Der Umstand der Ortsferne stehe nur dann der Bestellung entgegen, wenn dadurch eine sachdienliche Verteidigung des Beschuldigten bzw. der ordnungsgemäße Verfahrensablauf gefährdet werden (OLG Brandenburg StRR 2015, 181). Unter Berücksichtigung dieser Wertung sei der Begriff der "Mehrkosten" dahingehend zu verstehen, dass diejenigen Gebührenpositionen ausgeschlossen werden sollen, die durch die Umbeiordnung doppelt entstehen und damit den Fiskus "ohne wichtigen Grund" i.S.d. Widerrufsmöglichkeit einer Bestellung nach § 143 StPO belasten würden. Im Übrigen wäre das "nachträgliche" Entstehen von Fahrtkosten auch bei einer im Laufe des Strafverfahrens eingetretenen beruflichen Veränderung eines von Beginn an beigeordneten Verteidigers denkbar, etwa bei einem Kanzlei- und damit verbundenen Bezirkswechsel.
Hinweis
Der Beschluss hat die für die Praxis des Rechts der Pflichtverteidigung wichtigen Frage, wie auch schon früher das OLG Oldenburg in den zitierten Entscheidungen, richtig entschieden. Man kann natürlich darum streiten, ob die Einschränkung "keine Mehrkosten" überhaupt zulässig ist, aber der Streit bringt m.E. nichts. Die h.M. in der Rechtsprechung geht in die andere Richtung (zur Auswahl des Pflichtverteidigers Burhoff, EV, Rn 2998 ff. und zur Entpflichtung/Umbeiordnung Rn 3187 ff.). Interessant sind in dem Zusammenhang die Ausführungen des OLG zum Kriterium "Ortsnähe" - "in einem entsprechenden Einzelfall einer Bestellung entgegenstehen". Generell steht die "Ortsferne" also nicht (mehr) entgegen.
Das am 1.7.2017 in Kraft getretene Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung hat das Recht der Vermögensabschöpfung (früher: "Verfall und Einziehung") grundlegend neu geregelt. Es hat das Rechtsinstitut des Verfalls abgeschafft und durch ein neues Rechtsinstitut der Einziehung von Taterträgen ersetzt. In diesem Rahmen sind die Regelungen über die Rückgewinnungshilfe aufgehoben und gegen neue dem Verletztenschutz dienende Vorschriften ausgewechselt worden. Gebührenrechtlich hat dies zur Folge, dass die Verfahrensgebühr bei Einziehung und verwandten Maßnahmen gem. Nr. 4142 VV RVG für die Tätigkeiten des Verteidigers seither unabhängig davon entsteht, ob die Vermögensabschöpfung (auch) der Entschädigung von Tatverletzten dient oder ob dies nicht der Fall ist. (vgl. zu dieser Gebühr eingehend zuletzt u.a. Burhoff RVGreport 2019, 82 ff.). In dem Zusammenhang ist dann aber fraglich (gewesen), ob die Verfahrensgebühr gem. Nr. 4142 VV RVG auch dann entsteht, wenn der vor dem 1.7.2017 mit der Verteidigung beauftragte oder zum Pflichtverteidiger bestellte Rechtsanwalt zunächst nur Tätigkeiten zu entfalten hatte, die sich gegen vermögenssichernde Maßnahmen im Rahmen einer Rückgewinnungshilfe nach altem Recht (§§ 73 Abs. 1 S. 2, 73a, 73b StGB a.F.) richteten. Das LG Berlin hatte im vergangenen Jahr in mehreren Entscheidungen zu der Frage des Anfalls der Nr. 4142 VV RVG in diesen Fällen Stellung genommen und das Entstehen der Gebühr bejaht (vgl. LG Berlin RVGreport 2018, 178 = RVGprofessionell 2018, 80 = StRR 2/2018, 24; s. auch noch LG Berlin, Beschl. v. 26.1.2018 - 537 Qs 26/18 - und LG Berlin, Beschl. v. 13.4.2018 - 511 KLs 255 Js 739/14 [11/17]). Dagegen war - wie nicht anders zu erwarten - von der Staatskasse Rechtsmittel eingelegt worden. Das KG hat nun diese für die Verteidigung gebührenrechtlich wichtige Frage im für Verteidiger günstigen Sinn entschieden (KG, Beschl. v. 6.3.2019 - 1 Ws 31/18)
Das KG (a.a.O.) führt aus: Ob sich die Änderung der Gesetzeslage in diesen Fällen (auch) auf die Vergütung des Rechtsanwalts auswirkt, bestimme sich grundsätzlich nach § 60 RVG. Absatz 1 Satz 1 der Vorschrift sei allerdings nicht unmittelbar anzuwenden, weil mit der darin genannten "Gesetzesänderung" eine Änderung des RVG selbst gemeint sei (vgl. Mayer/Kroiß/Klees, RVG, 6. Aufl., § 60 Rn 20), worum es hier jedoch nicht gehe. Allerdings ordnet § 60 Abs. 1 S. 3 an, dass Satz 1 auch gilt, "wenn Vorschriften geändert werden, auf die dieses Gesetz verweist." Sofern diese Norm zur Anwendung käme, müsste die Vergütung nach bisherigem Recht berechnet werden, wenn der unbedingte Auftrag zur Erledigung derselben Angelegenheit i.S.d. § 15 RVG vor dem Inkrafttreten der Gesetzesänderung erteilt oder der Rechtsanwalt vor diesem Zeitpunkt bestellt oder beigeordnet worden ist. Die (mit der Vorgängervorschrift § 134 BRAGO) wortgleiche Formulierung "Die Vergütung ist nach bisherigem Recht zu berechnen" wird nach allgemeiner Auffassung dahingehend verstanden, dass sie bestimmt, ob das bis zum Inkrafttreten der Gesetzesänderung geltende alte oder das neue Recht anwendbar ist (vgl. etwa Hartmann, Kostengesetze, 48. Aufl., 2018, § 60 RVG Rn 1; AnwK-RVG/N. Schneider, RVG, 8. Aufl., § 60 RVG Rn 2, 3).
Der Beschwerde sei zwar - so das KG - zuzugeben, dass danach § 60 Abs. 1 S. 3 RVG tatsächlich einschlägig erscheine. Ein solches Ergebnis wäre aber nach Auffassung des KG nicht sachgerecht, weil hierbei ein wesentlicher Aspekt der Neuregelung des Rechts der Vermögensabschöpfung außer Betracht bliebe, der sich bei der gebotenen Gesamtschau zwingend auch auf das Vergütungsrecht auswirken müsse: Der Gesetzgeber habe mit der Regelung des Art. 316h EGStGB ausdrücklich angeordnet, dass das neue Vermögensabschöpfungsrecht auf vor dem 1.7.2017 begangene Anlasstaten anwendbar ist (sofern nicht bis zu diesem Tag eine Entscheidung über die Anordnung des Verfalls oder des Verfalls von Wertersatz ergangen ist, was bei der hier vorliegenden Konstellation nicht der Fall ist). Diese Rückwirkung bedeute, dass ein vor dem Stichtag bestellter Verteidiger bereits zu diesem Zeitpunkt in der Sache nicht mehr gegen eine bloße Rückgewinnungshilfe, sondern gegen eine Einziehung nach neuem Recht verteidigt habe, weshalb eine Gleichstellung mit den nach dem Stichtag bestellten Verteidigern geboten sei. Dass im Zeitpunkt der Bestellung des Rechtsanwalts R. formal noch das alte Vermögensabschöpfungsrecht gegolten habe, müsse daher entgegen der Auffassung der Staatskasse unbeachtlich sein.