aus ZAP Heft 24/2012, F. 22 R, S. 757
(Ich bedanke mich bei der Schriftleitung von "ZAP" für die freundliche Genehmigung, diesen Beitrag aus "ZAP" auf meiner Homepage einstellen zu dürfen.)
von Rechtsanwalt Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Münster/Augsburg
Auf Folgendes ist hinzuweisen:
Der Kampf um die Akteneinsicht wird in der Praxis besonders heftig geführt und ist für den Beschuldigten von besonderer Bedeutung, wenn er inhaftiert ist. Dazu hatte der EGMR schon vor längerem darauf hingewiesen, dass dann, wenn nicht oder nicht ausreichend Akteneinsicht gewährt werden kann, ggf. ein gegen den Beschuldigten bestehender Haftbefehl aufzuheben bzw. die dem Beschuldigten insoweit vorenthaltene Akte unverwertbar ist (vgl. EGMR StV 2001, 201, 203, 205; 2008, 475 m. Anm. Hagmann StV 2008, 483 und Pauly StV 2008, 484; NJW 2002, 2013; s. auch BVerfG NJW 1994, 3219 sowie hierzu die obergerichtliche Rspr., wie z.B. KG StV 1993, 370 m. zust. Anm. Schlothauer; OLG Hamm NStZ 2003, 386, 387 f.; vgl. dazu auch Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 6. Aufl., 2012, Rn. 158 ff. [im Folgenden kurz: Burhoff, EV, Rn. 167 ff.). Diese Rspr. ist 2009 in § 147 Abs. 2 S. 2 StPO umgesetzt und das Akteneinsichtsrecht durch das Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts v. 29.7.2009 (BGBl. I, S. 2274) dahingehend erweitert worden, dass dem Verteidiger nunmehr im Fall der Freiheitsentziehung Einsicht in die für die Beurteilung von deren Rechtmäßigkeit maßgeblichen Aktenteile zu gewähren ist bzw. zumindest die wesentlichen Informationen in geeigneter Weise zugänglich zu machen sind (vgl. dazu eingehend Herrmann StRR 2010, 4, 8; Weider StV 2010, 102, 105; Burhoff, EV, a.a.O.). Deshalb erstaunt es, wenn auf der Grundlage der o.a. Rechtsprechung und der (neuen) Gesetzeslage doch immer wieder noch Entscheidungen veröffentlicht werden, in denen dem Verteidiger des inhaftierten aa Beschuldigten nicht ausreichend Akteneinsicht gewährt worden ist.
Andererseits freut es dann aber auch, wenn man liest, wie die Instanzgerichte mit der Verfahrenslage umgehen, wie z.B. der AG Halle (Saale), Beschl. v. 26. 6. 2012 (395 Gs 275 Js 16282/12 [300/12], StRR 2012, 356 m. Anm. Hunsmann). Da hatte der Verteidiger, dessen Mandant sich wegen des Vorwurfs des schweren Raubes aufgrund eines Haftbefehls vom 26. 5. 2012 in U-Haft befand mit Schriftsatz vom 30. 5. 2012 per Telefax am 6. 6. 2012 bei der StA zur Vorbereitung eines Haftprüfungstermins einen Antrag auf Gewährung von Akteneinsicht gestellt. Unter dem 11. 6. 2012 wurde ihm lediglich mitgeteilt, dass die angeforderten Akten zur Zeit nicht verfügbar seien und nicht übersandt werden könnten. Erst im Haftprüfungstermin am 22. 6. 2012 ist dem Verteidiger dann von Seiten des AG Akteneinsicht angeboten worden. Der Verteidiger lehnte das jedoch als ungeeignet ab, woraufhin der Haftbefehl aufgehoben wurde. Zur Begründung hat das AG darauf verwiesen, dass aus dem Recht des Beschuldigten auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren und seinem Anspruch auf rechtliches Gehör ein Anspruch des inhaftierten Beschuldigten auf zumindest teilweise hinsichtlich der für die Haftentscheidung relevanten Tatsachen und Beweismittel Einsicht seines Verteidigers in die Akten folge, wenn und soweit er die darin befindlichen Informationen benötige, um auf die gerichtliche Haftentscheidung effektiv einwirken zu können. Das AG verweist darauf, dass Akteneinsicht auch durch Fertigung einer ausreichenden Anzahl von Haftsonderbänden hätte gewährleistet werden können. Das AG sähe sich daher veranlasst, den Haftbefehl aufzuheben, zumal nach Auffassung des AG die Akteneinsicht im Haftprüfungstermin durchaus gerechtfertigt als ungeeignet abgelehnt worden sei.
Tipp/Hinweis: |
Ähnlich haben in der Vergangenheit über die o.a. Obergerichte hinaus bereits entschieden LG Magdeburg (StV 2004, 327) und AG Halberstadt (StV 2004, 549) und für Beschwerdeentscheidungen im Arrestverfahren das LG Kiel (NStZ 2007, 424). Derr Verteidiger sollte sich in vergleichbaren Fällen auf diese Rspr. berufen. |
Im Zusammenhang mit der Frage der Verhältnismäßigkeit weiterer U-Haft ist hinzuweisen auf den OLG Naumburg, Beschl. v. 11.10.2012 2 Ws 198/12 (zur Verhältnismäßigkeit der U-Haft s. Burhoff, EV, Rn. 2879 ff.). Dort war der Angeklagte vom LG zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt worden. In dem Verfahren hatte er bereits 10 Monate U-Haft verbüßt. Zuvor hatte er in einem anderen Verfahren, in dem er frei gesprochen worden ist, mehr als sechs Monate U-Haft verbüßt. Das Verfahren wäre gesamtstrafenfähig gewesen. Das OLG (a.a.O.) rechnet die mehr als sechs Monate Freiheitsstrafe von einem Jahr bei der Prüfung der Frage der Verhältnismäßigkeit der weiteren U-Haft an und kommt zur Aufhebung der Haftbefehls. Mit Blick auf die Bedeutung des Freiheitsrechts aus Art. 2 Abs. 2 GG sei über den eigentlichen Anwendungsbereich des § 51 Abs. 1 StGB hinaus sog. verfahrensfremde U-Haft jedenfalls dann auf eine Freiheitsstrafe anzurechnen, wenn zumindest eine potentielle Gesamtstrafenfähigkeit der Strafe, auf die die Untersuchungshaft angerechnet werden soll, besteht (BVerfG NStZ 2001, 501 m.w.N.; Fischer, StGB, 59. Aufl., § 51, Rn. 6a). Dies gelte auch für die hier gegebene fiktive Gesamtstrafenlage, bei der der Angeklagte die verfahrensfremde U-Haft im Hinblick auf Tatvorwürfe erlitten habe, von denen er freigesprochen wurde. Wäre der Angeklagte für jene Taten verurteilt worden, wäre aus den dann verhängten Strafen und derjenigen, die Gegenstand des Verfahrens beim OLG sei, eine Gesamtstrafe zu bilden gewesen (§§ 55 Abs. 1 StGB, 460 StPO). Die im Fall der rechtskräftigen Verurteilung von der Staatsanwaltschaft im Vollstreckungsverfahren vorzunehmende Anrechnung müsse sich daher auch auf die in dem anderen Verfahren erlittene Untersuchungshaft erstrecken.
Hinweis: |
Da damit in dem beim OLG anhängigen Verfahren die dort verhängte Strafe unter Berücksichtigung der verfahrensfremden U-Haft überbüßt war/ist, ging an der Entscheidung des OLG, nämlich Aufhebung des Haftbefehls kein Weg vorbei. Offen geblieben sind damit die Fragen nach der Fluchtgefahr bei einer verhängten Freiheitsstrafe von einem Jahr und, ob nicht auch so bereits die weitere U-Haft unverhältnismäßig ist/war. Schließlich waren auch in dem eigentlichen Verfahren bereits 10 Monate U-Haft verbüßt (zur Fluchtgefahr Burhoff, EV, Rn. 2882 ff.). |
Ich hatte in ZAP F. 22 R, S. 322 ff. über aktuelle Rechtsprechung zu Pflichtverteidigungsfragen berichtet. An die Zusammenstellung schließen die nachfolgende Rechtsprechung-Übersicht an (vgl. i.Ü. eingehend zu den mit der Pflichtverteidigung zusammenhängenden Problemen Burhoff, EV, Rn. 2082 ff.)
Soweit ersichtlich war in der Rspr. bisher nicht näher entschieden, wie weit bei einer Beschuldigtenvernehmung dem Beschuldigten der Tatvorwurf zu eröffnen ist (vgl. §§ 136, 163a StPO). Mit der Frage befasst sich der BGH, Beschl. v. 6. 3. 2012 (1 StR 623/11, NStZ 2012, 581 = StRR 2012, 378 m. Anm. Artkämper). Der Beschuldigte war in einem Tötungsverfahren zum Nachteil seiner Ehefrau zu Beginn seiner fünf Stunden dauernden polizeilichen Vernehmung ordnungsgemäß über seine Rechte belehrt worden. Bei der Eröffnung der ihm zur Last gelegten Tat hatten ihm die Vernehmungsbeamten gesagt worden, dass er seiner Frau etwas Schlimmes angetan habe, darum gehe es in der Beschuldigtenvernehmung. Der Beschuldigte fragte während der laufenden Vernehmung mehrfach nach, ob seine Frau noch lebe. Erst gegen Ende der Vernehmung wurde ihm eindeutig gesagt: Wir müssen Dir leider mitteilen, dass tot ist. Daraufhin äußerte der Beschuldigte: Was habe ich gemacht? Ich habe alles kaputtgemacht. Ich habe gedacht sie lebt noch. Ich habe nicht vorgehabt sie zu töten.
Der BGH hat diese Art der Belehrung als nicht ausreichend i.S. des § 163a StPO angesehen. Hier gehe es um die Tat als solche, nicht um deren rechtliche Bewertung. Unbeschadet der stets gegebenen, praktisch besonders bei polizeilichen Vernehmungen bedeutsamen Möglichkeit, aus ermittlungstaktischen Gründen nicht stets jedes schon bekannte Detail offenzulegen, sei dem Beschuldigten der ihm vorgeworfene Sachverhalt zumindest in groben Zügen zu eröffnen. Hinsichtlich der Ausgestaltung der Eröffnung im Einzelnen habe der Vernehmende zwar einen gewissen Beurteilungsspielraum. Dessen Grenzen seien jedoch überschritten, wenn dem Beschuldigten eines Gewaltdeliktes der Tod des Opfers nicht eröffnet werde. Ohne Hinweis auf diesen die Tat prägenden Gesichtspunkt sei sie nicht einmal in groben Zügen eröffnet.
Tipp/Hinweis: |
Ähnlich hat das AG Backnang zur Beurteilung des Geständnisses eines Beschuldigten in einem polizeilichen Formular entschieden (vgl. Beschl. v. 19. 9. 2012 2 Ls 90 Js 58693/12, JurionRS 2012, 24501). Dort hatte der Beschuldigte erklärt: Ich gebe die Tat zu. Das AG ist davon ausgegangen, dass sich dieser Erklärung nur auf eine einfache Diebstahlstat beziehe, nicht hingegen auf die komplexen Voraussetzungen eines Bandendiebstahls. |
Ein Beweisverwertungsverbot hat der BGH (a.a.O.) allerdings verneint. Belehrungsdefizite begründen dann nach seiner Auffassung dann kein Verwertungsverbot, wenn sie das Aussageverhalten des Vernommenen nicht beeinflusst haben. Im entschiedenen Fall ist der BGH davon angesichts eines ungewöhnlich massiven Tatgeschehens und der Fragen des Beschuldigten ausgegangen.
Tipp/Hinweis: |
Der Verteidiger muss der Verwertung der Erkenntnisse aus einer Vernehmung, bei der dem Beschuldigten der Tatvorwurf unzureichend eröffnet worden ist, widersprechen (zur Widerspruchslösung Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 7. Aufl., 2012, Rn. 3491 ff. [im Folgenden kurz: Burhoff, HV). |
Im Strafbefehlsverfahren nach Einspruch sieht sich der Verteidiger häufig vor folgende Situation gestellt: Der Angeklagte ist nicht erschienen. Soll dann die nun drohende Verwerfung des Einspruchs (§ 412 S. 1 StPO) verhindert werden, ist das ggf. möglich, wenn der Angeklagte durch seinen in der Hauptverhandlung anwesenden Verteidiger vertreten wird (§ 412 S. 1 StPO). Die wirksame Vertretung des Angeklagten durch den Verteidiger setzt aber eine (schriftliche) Vertretungsvollmacht des Verteidigers voraus. Allerdings genügt es, dass eine dem Gericht vorgelegte Vollmachtsurkunde aufgrund eines mündlich erteilten Auftrags des Angeklagten vom Verteidiger für diesen mit eigenen Namen unterzeichnet ist, da die Ermächtigung, die Vollmachtsurkunde zu unterzeichnen, auch mündlich erteilt werden kann. So hat zuletzt das OLG Dresden entschieden (vgl. Beschl. v. 21. 8. 2012 3 Ss 336/12, JurionRS 2012, 22024) und damit eine schon ältere Entscheidung des BayObLG aus dem Jahr 2001 bestätigt (NStZ 2002, 277). Letzteres hatte darauf hingewiesen, dass keine Bedenken bestehen, dass bei einer Unterzeichnung der Vollmachtsurkunde durch den Verteidiger sich dieser die Vollmacht im Wege eines Insichgeschäfts selbst erteile. Denn es sei zwischen der Erteilung der Vollmacht und der hierüber zu erstellenden Vollmachtsurkunde zu unterscheiden. Der Vorlage einer schriftlichen Vollmacht komme lediglich eine Nachweisfunktion gegenüber einem Dritten zu. Dagegen sei die Erteilung der Vollmacht selbst formfrei.
Tipp/Hinweis: |
In § 411 Abs. 2 S. 1 StPO wird ausdrücklich eine schriftliche Vollmacht des Verteidigers verlangt, wenn er den Angeklagten in der Hauptverhandlung des Strafbefehlsverfahren vertreten will. I.Ü. reicht die anwaltliche Versicherung, dass der Rechtsanwalt bevollmächtigt sei ((BGHSt 36, 259, 260; BGH NStZ 2005, 583 [für Rechtsmittelrücknahme]; StraFo 2010, 339; KG VRR 2012, 74 m. Anm. Burhoff; OLG Brandenburg VRS 117, 305 [an keine Form gebunden]; OLG Jena VRS 108, 276; OLG München StV 2008, 127; OLG Schleswig SchlHA 2010, 283 [Dö/Dr]; LG Ellwangen NStZ 2003, 331 [für AE]; LG Cottbus StraFo 2002, 233 [für Akteneinsicht]; Burhoff, EV, Rn. 114). Nur, wenn daran Zweifel bestehen, kann die Vorlage einer schriftlichen Vollmacht verlangt werden. |
Ich hatte in ZAP F 22 R S. 720 über die Entscheidung des OLG Naumburg v. 19. 9. 2011 (2 Ws 245/11, StRR 2012, 201 = StraFo 2011, 517) betreffend den Rechtsmittelverzicht des unverteidigten Angeklagten berichtet. In dem Zusammenhang ist hinzuweisen auf den OLG Celle, Beschl. v. 30. 5. 2012 (32 Ss 52/12, StRR 2012, 424). Dort war die Angeklagte vom AG wegen Beförderungserschleichung zu einer Freiheitsstrafe von einem Monat verurteilt worden. Das AG hatte die Vollstreckung dieser Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt. Die weder im Verfahren vor dem AG noch im Berufungsrechtszug beim LG verteidigte Angeklagte hatte gegen das amtsrichterliche Urteil zunächst unbeschränkt Berufung eingelegt, dieses Rechtsmittel aber mit Zustimmung der StA in der Berufungshauptverhandlung auf die Strafaussetzung zur Bewährung beschränkt.
Das OLG (a.a.O.) geht in seiner Entscheidung zunächst davon aus, der der Angeklagte, obwohl im Verfahren gegen die Angeklagte nur eine Freiheitsstrafe von einem Monat verhängt worden sei, ein Pflichtverteidiger hätte bestellt werden müssen, das sie im Falle des Widerrufs von anderen zur Bewährung ausgesetzten Strafen insgesamt 29 Monate Freiheitsstrafe zu verbüßen hätte. In der Rechtsprechung werde jedoch bei einer Straferwartung von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe und darüber i.d.R. die Mitwirkung eines Verteidigers als notwendig angesehen, ohne dass es sich hierbei um eine starre Grenze handelt (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 55. Aufl. 2012, § 140 Rn. 23 m.w.N. [im Folgenden kurz: Meyer/Goßner]).
Tipp/Hinweis: |
Die Entscheidung zur notwendigen Verteidigung entsprich der h.M. in Rechtsprechung und Lit., der sich das OLG angeschlossen hat (vgl. dazu auch Burhoff, EV, Rn. 2189 ff.). |
In einer Segelanweisung hat das OLG (a.a.O.) dann darauf hingewiesen, dass in der neuen Hauptverhandlung nunmehr auch zu prüfen sei, ob die von der Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung ohne Anwesenheit eines Verteidigers erklärte Beschränkung ihrer Berufung auf die Aussetzung der Vollstreckung der einmonatigen Freiheitsstrafe zur Bewährung rechtlich wirksam ist. Zweifel an der Wirksamkeit dieser Beschränkung, die sich als Teilrücknahme der zunächst unbeschränkt eingelegten Berufung erweist, ergaben sich für das OLG aus dem Umstand, dass die Angeklagte die Teilrücknahme ihres Rechtsmittels trotz Vorliegens der Voraussetzungen notwendiger Verteidigung aus § 140 Abs. 2 StPO in der Berufungshauptverhandlung erklärt hatte, ohne die Möglichkeit einer vorherigen Beratung durch einen Verteidiger erhalten zu haben. Ob ein Angeklagter in Konstellationen notwendiger Verteidigung wirksam einen Verzicht auf sein oder eine Rücknahme seines Rechtsmittel(s) erklären könne, werde in der höchstrichterlichen Rspr. nicht einheitlich beurteilt (näher Radtke, in: Radtke/Hohmann, StPO, 2011, § 302 Rn 18; Meyer-Goßner,§ 302 Rn. 25a jeweils m.w.N.). Das gelte auch bei der Rechtsmittelbeschränkung eines trotz notwendiger Verteidigung nicht verteidigten Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung. Das OLG macht deutlich, dass es zu einer Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts bzw. der Rechtsmittelbeschränkung neige. Anderenfalls würde der gesetzgeberischen Wertung, dass ein Angeklagter jedenfalls in den Fällen der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO ohne Verteidigung zu einer sachgerechten Wahrnehmung seiner Verteidigungsinteressen nicht in der Lage ist, nicht ausreichend Rechnung getragen. Das gelte erst recht vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Unwiderruflichkeit von Verzichts- oder Rücknahmeerklärungen in Bezug auf ein Rechtsmittel.
Tipp/Hinweis: |
Hinsichtlich der Frage der Wirksamkeit der Rechtsmittelbeschränkung scheint sich das OLG der insoweit h.M. anschließen zu wollen, auch wenn die Frage letztlich offen gelassen wird. Diese h.M. (vgl. KG StV 2006, 695; OLG Düsseldorf StV 1998, 647; OLG Hamm StV 2010, 67; OLG Koblenz StraFo 2006, 27; OLG Köln NStZ 2004, 77 m.w.N.; StV 2003, 65; OLG München NJW 2006, 789; OLG Naumburg StraFo 2011, 517 = StRR 2012, 102) geht davon aus, dass ein Rechtsmittelverzicht oder eine Rechtsmittelbeschränkung bei notwendiger Verteidigung unwirksam ist, wenn nicht ein (Pflicht)Verteidiger anwesend ist.. Teilweise wird das in der obergerichtlichen Rspr. aber auch anders gesehen und Unwirksamkeit nur dann angenommen, wenn besondere Umstände hinzukommen (vgl. z.B. OLG Brandenburg StraFo 2001, 136; OLG Hamburg NStZ 1997, 53; StV 2006, 175; OLG München NStZ-RR 2010, 19; OLG Naumburg NJW 2001, 2190). Die Nichtanwesenheit des Pflichtverteidigers muss mit der Verfahrensrüge (§ 338 Nr. 5 StPO) geltend gemacht werden. Es gelten die strengen Anforderungen des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO (vgl. dazu Junker in: Burhoff/Kotz (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtlichen Rechtsmittel und Rechtsbehelfe, 2012, Teil A: Rn. 2789 ff.). |
Schwierigkeiten bereiten in der Praxis nicht selten die Fälle, in denen Angeklagte nach einem Rechtsmittelrücknahme die Rücknahmeerklärung reut. Häufig wird deren Wirksamkeit dann mit der Erklärung angefochten, der Angeklagte sei entweder bei der Erklärung der Rechtsmittelrücknahme oder bei der Erteilung der Ermächtigung zur Rechtsmittelrücknahme durch seinen Verteidiger nicht in der Lage gewesen, die Tragweite der Erklärung zu erfassen. So auch in dem BGH, Beschl. v. 19. 6. 2012 (3 StR 190/12, StRR 2012, 423 = NStZ-RR 2012, 318) zugrunde liegenden Verfahren. Der BGH hat u.a. darauf hingewiesen, dass es für eine wirksame Ermächtigung ausreichend sei, wenn der erklärende Angeklagte verhandlungsfähig i.S. des Strafverfahrensrechts und in der Lage sei, die Bedeutung von Prozesserklärungen zu erkennen (BGH NStZ 1983, 280). Bedenken gegen die Rechtswirksamkeit der vom Angeklagten seinem Verteidiger erteilten Ermächtigung hatte der BGH auch nicht etwa deshalb, weil nach den Feststellungen des landgerichtlichen Urteils im Tatzeitpunkt die Steuerungsfähigkeit des Beschuldigten nicht sicher ausschließbar vollständig aufgehoben war.). Weder die Urteilsgründe noch das Hauptverhandlungsprotokoll hätten einen Hinweis darauf enthalten, dass der Beschuldigte verhandlungsunfähig gewesen sei. Er habe aktiv an der Verhandlung mitgewirkt und sich zum Tatvorwurf eingelassen.
Tipp/Hinweis: |
Die Entscheidung fasst die Rspr. des BGH zur Rechtsmittelrücknahme anschaulich zusammen (vgl. dazu auch Burhoff, HV, 7. Aufl., 2012, Rn. 581 ff., 2151 ff.). Da der Angeklagte an eine wirksame Rücknahme der Revision gebunden ist - sie ist unwiderruflich und unanfechtbar (BGH NStZ 1983, 280, 281) sollte der Verteidiger seinen Mandanten über die weit reichenden Folgen einer Rücknahme belehren und diese Belehrung zur eigenen Sicherheit in der Handakte festhalten. Denn die Fälle, in denen den Angeklagten die Rücknahme nachträglich reut, sind nicht selten. |
Einige OLG-Entscheidungen haben sich in Zusammenhang mit der Feststellungen von Geschwindigkeitsüberschreitungen mit der Frage befasst, ob die Verwertbarkeit einer Lasermessung die Anwendung des sog. Vier-Augen-Prinzips voraussetzt (vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 13.09.2012, IV-2 RBs 129/12, VRR 2012, 431; OLG Hamm, Beschl. v. 21.06.2012, III-3 RBs 35/12, JurionRS 2012, 20810; Beschl. v. 19.07.2012 - III-3 RBs 66/12, JurionRS 2012, 19246). Das hatten die Betroffenen in den Verfahren geltend gemacht. Die OLG haben das verneint. Ein derartiges Vier-Augen-Prinzip" gebe es nicht. Existiere keine von dem technischen Messsystem selbst hergestellte fotografisch-schriftliche Dokumentation des Messergebnisses, seien die Fragen nach dem vom Gerät angezeigten Messwert und nach der Zuordnung des Messergebnisses zu einem bestimmten Fahrzeug unter Heranziehung der hierfür im jeweiligen Einzelfall vorhandenen Beweismittel (z. B. Zeugenaussagen der beteiligten Polizeibeamten, Messprotokoll) nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§§ 46 Abs. 1, 71 Abs. 1 OWiG, § 261 StPO) zu klären (vgl. OLG Hamm VRS 92, 275; OLG Köln, Beschl. v. 5. 1. 2012 - III-1 RBs 365/11, JurionRS 2012, 10052; vgl. allgemein auch BGHSt 23, 213) Ihre Grenze finde die freie Beweiswürdigung nur in der Pflicht zur erschöpfenden Sachaufklärung und in den Beweisverboten des Verfahrensrechts (BGH, a.a.O.).
Tipp/Hinweis: |
Die Frage, welchen Messwert das Messgerät angezeigt hat, betrifft danach allein die tatrichterliche Beweiswürdigung im Einzelfall (OLG Hamm, a.a.O.; vgl. OLG Köln, a.a.O.). Das bedeutet, dass der Verteidiger die erschüttern muss. |
Das OLG Düsseldorf (a.a.O.) hat in seiner Entscheidung zudem ausgeführt: Der Einwand des Betroffenen, die Geschwindigkeitsmessung sei nicht verwertbar, weil das Vier-Augen-Prinzip nicht eingehalten worden sei, ziele inhaltlich jedenfalls auch auf ein Beweisverwertungsverbot ab. Die insoweit erforderliche Verfahrensrüge sei indes nicht wirksam erhoben, da nicht dargelegt worden sei, dass der Beweisverwertung in der Hauptverhandlung bis zu dem durch § 71 Abs. 1 OWiG, § 257 StPO bestimmten Zeitpunkt widersprochen worden sei (vgl. BGH StV 1996, 529; NStZ 1997, 502; OLG Hamburg NJW 2008, 2597, 2600; OLG Hamm NJW 2009, 242; NStZ-RR 2010, 148, 149). Im Übrigen existiere keine verfahrensrechtliche Vorschrift, welche die Verwertung eines Messwertes untersage, der an dem Lasermessgerät allein von einem Polizeibeamten abgelesen und nach dessen mündlicher Angabe von dem Protokollführer in das Messprotokoll eingetragen worden sei. Vielmehr stehe der Verwertung des auf diese Weise festgestellten Messwertes kein Beweisverwertungsverbot - weder ein Beweismittel- noch ein Beweismethodenverbot - entgegen. Gleiches gilt mangels Verfahrensverstoßes, wenn der Messbeamte die von dem Protokollführer vorgenommene Eintragung nicht auf ihre Richtigkeit überprüft habe.
Tipp/Hinweis: |
Soweit ersichtlich hat bislang in der Rspr. noch kein OLG auch in diesen Fällen einen Widerspruch in der Hauptverhandlung verlangt, wenn in der Rechtsbeschwerde die Unverwertbarkeit einer Messung geltend gemacht werden soll. Das steckt aber inzidenter in den Ausführungen des OLG zur Zulässigkeit. Das ist neu und wird sicherlich viel Unruhe in die amtsgerichtlichen Hauptverhandlungen tragen. Allerdings habe ich auch Zweifel, ob e sich tatsächlich um ein Beweisverwertungsverbot i.S. de Rechtsprechung zur Widerspruchslösung handelt. Aber unabhängig davon: Als Verteidiger wird man in Zukunft diese Rechtsprechung des OLG Düsseldorf im Auge haben müssen und vorsorglich in vergleichbaren Fällen der Verwertung der Messergebnisse widersprechen müssen (vgl. eingehend zur Widerspruchslösung Burhoff, HV, Rn. 3491.) Und: In der Rechtsbeschwerde muss dann dazu vorgetragen werden (§ 344 Abs. 2 S. 2 StPO!!). |
In der Rspr. ist inzwischen die Frage, ob in den Fällen der Pflichtverteidiger/Verbindung (§ 48 Abs. 5 S. 3 RVG) immer ein Erstreckungsantrag erforderlich ist, oder nur, wenn die Verbindung der Verfahren nach der Beiordnung erfolgt, umstritten. Die wohl h.M. (vgl. KG JurBüro 2009, 531 = NStZ-RR 2009, 360 [Ls.] = RVGreport 2010, 64; StRR 2012, 78; OLG Hamm RVGreport 2005, 273 = AGS 2005, 437 = JurBüro 2005, 532; OLG Jena, Beschl. v. 17. 3. 2008 - 1 AR [S] 3/08; OLG Jena JurBüro 2009, 138 [Ls.] = Rpfleger 2009, 171 = NStZ-RR 2009, 160 [Ls.] = StRR 2009, 43; LG Aurich RVGreport 2011, 221 = StRR 2011, 244; LG Bonn, Beschl. v. 30. 8.2006 - 37 Qs 22/06, www.burhoff.de; LG Dortmund StraFo 2006, 358) geht davon aus, dass das nur der Fall ist, wenn die Verbindung der Verfahren nach der Beiordnung erfolgt. Unzutreffend a.A. sind das OLG Oldenburg (RVGreport 2011, 220 = RVGprofessionell 2011, 104 = NStZ-RR 2011, 261 = StRR 2011, 323), das OLG Koblenz (StRR 2012, 319 = StraFo 2012, 290 = AGS 2012, 390), das OLG Celle (Beschl. v. 2. 2. 2007 - 1 Ws 575/06) und das OLG Rostock (StRR 2009, 279 = RVGreport 2009, 304 = RVGprofessionell 2009, 155).
Der h.M. angeschlossen hat sich das OLG Bremen (Beschl. v. 7. 8. 2012 Ws 137/11, StRR 2012, 436 = JurionRS 2012, 22598). Dort ist der Rechtsanwalt für den Angeklagten in mehreren Verfahren als Verteidiger tätig gewesen. Diese wurden miteinander verbunden. Der Rechtsanwalt wurde dann in der (gemeinsamen) Hauptverhandlung vom AG beigeordnet. Im Rahmen der Kostenfestsetzung machte der Pflichtverteidiger auch die in den hinzuverbundenen Verfahren vor der Beiordnung entstandenen Gebühren geltend. Der Amtsrichter wies darauf hin, dass eine Erstreckung gemäß § 48 Abs. 5 Satz 3 RVG nicht beantragt und auch nicht beschlossen worden sei. Festgesetzt wurden dann nur die im führenden Verfahren entstandenen Gebühren. Das LG hat auf die Beschwerde des Verteidigers auch die übrigen Gebühren festgesetzt. Das Rechtsmittel der Staatskasse hatte keinen Erfolg.
Das OLG (a.a.O.) hat darauf verwiesen, dass sich die Ansprüche auf die in den verbundenen Verfahren entstandenen Grund - und Verfahrensgebühren bereits unmittelbar aus § 48 Abs. 5 S. 1 RVG ergeben. Die Beiordnung eines Rechtsanwaltes als Verteidiger wirke auch kostenrechtlich zunächst allein in die Zukunft. Von diesem Grundsatz mache § 48 Abs. 5 RVG drei Ausnahmen, u.a. in Satz 3 für den Fall der Verbindung eines Verfahrens zu einem Verfahren, in dem der Rechtsanwalt bereits zum Verteidiger bestellt war. Dem Wortlaut dieser Vorschrift lasse sich kein Hinweis entnehmen, dass es einer Erstreckungsanordnung gem. § 48 Abs. 5 S. 3 RVG auch bei einer Verbindung der Verfahren vor der Beiordnungsentscheidung des § 48 Abs. 5 S. 1 RVG bedürfe. Satz 3 setze ersichtlich voraus, dass die Verbindung zu einem Verfahren erfolgt, in dem bereits eine Beiordnungsentscheidung getroffen worden ist. Die gegenteilige Auffassung lasse in der Praxis schwer zu überwindende Anwendungshindernisse, kaum begründbare Zufallsergebnisse und zudem einen erheblichen Mehraufwand der Gerichte im Beiordnungs- und Kostenfestsetzungsverfahren besorgen. Dies gilt vor allem bei Verfahren, die bereits durch die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren verbunden werden. Bei Sammelverfahren oder der Zusammenfassung einer großen Anzahl von Straftaten von Intensivtätern im Ermittlungsverfahren müsste im Zeitpunkt der Beiordnungsentscheidung für jedes einzelne Verfahren geprüft werden, ob eine Erstreckung erfolgen soll oder nicht. Eine Erstreckungsanordnung gem. § 48 Abs. 5 S. 3 RVG sei mithin nur veranlasst, wenn die Verbindung der Verfahren nach der Beiordnung des Verteidigers erfolge. Diese Verbindungen würden in aller Regel durch die Gerichte der Hauptsache zu einem Zeitpunkt vorgenommen, zu dem sich die Frage problemlos beantworten lasse, ob auch in dem hinzu zu verbindenden Verfahren eine Verteidigerbestellung notwendig wäre und deshalb eine Erstreckung der Wirkungen des § 48 Abs. 5 Satz 1 RVG anzuordnen sei.
Tipp/Hinweis: |
Trotz der zutreffenden h.M. sollte der Verteidiger aber dennoch in allen Fälle, in denen Verbindung und Pflichtverteidiger(bestellung) aufeinander treffen, ausdrücklich die Erstreckung beantragen. Nur so kann er sich sicher gegen Gebührenausfälle schützen (zur Erstreckung eingehend Burhoff in. Burhoff: (Hrsg.), RVG Straf- und Bußgeldsachen, 3. Aufl. 2012, § 48 Abs. 5 Rn. 1 [im Folgenden kurz Burhoff/Bearbeiter, RVG). |
Nachfolgend sollen in einem Überblick die wesentlichen Änderungen in Teil 4 und 5, die durch das 2. KostRMoG zu erwarten sind, vorgestellt werden (vgl. auch Burhoff VRR 2012, 16 = StRR 2012, 14 = RVGreport 2012, 42 = RVGprofessionell 2012, 12; ders., StRR 2012, 373 = VRR 2012, 364 = RVGreport 2012, 369; zu allem auch BR-Drucks. 517/12, S. 151 ff., 412 ff.).
Eine ganz wesentliche Änderung betrifft die Anhebung der Betragsrahmen in Teil 4 und 5 VV RVG. Vorgeschlagen wird vom Entwurf eine Erhöhung um ca. 19 % vorgeschlagen wird (vgl. S. 206 ff.). Dieser Erhöhung orientiert sich an der Entwicklung des Index der tariflichen Monatsverdienste der Arbeitnehmer im produzierenden Gewerbe und im Dienstleistungsbereich seit 2004. Bei den neuen Betragsrahmen sind die einzelnen Gebühren grds. auf volle 10 gerundet worden. Zum Teil sind dadurch die Mindestgebühren zwar stärker erhöht worden, was aber durch entsprechende Abrundungen bei den Höchstgebühren ausgeglichen worden ist. Die Höchstgebühren bei den Gebührenrahmen mit Zuschlag sind um genau 25 % erhöht worden (zu en Auswirkungen s. die Beispiele bei Burhoff RVGreport 2012, 42 ff.).
In § 17 Nr. 10a RVG-E wird ausdrücklich geregelt, dass das strafrechtliche Ermittlungsverfahren und ein nachfolgendes gerichtliches Verfahren verschiedene Angelegenheiten sind. Die Frage ist in Rechtsprechung und Literatur bislang erheblich umstritten und wird von vielen AG und LG anders gesehen. Der Gesetzgeber hat sich aber in der Literatur weitgehend übereinstimmend vertretenen anderen Ansicht angeschlossen (vgl. dazu Burhoff/Burhoff, RVG, Teil A: Angelegenheiten (§§ 15 ff.), Rn. 81 ff.). In § 17 Nr. 11 VV RVG-E ist eine der Regelung in § 17 Nr. 10a VV RVG entsprechende Klarstellung für das Bußgeldverfahren vorgesehen. Auch da werden das Verfahren vor der Verwaltungsbehörde und das gerichtliche Verfahren als verschiedene Angelegenheiten angesehen.
Tipp/Hinweis: |
Folge dieser Änderung ist, dass demnächst sowohl für das Ermittlungsverfahren als auch für das gerichtliche Verfahren bzw. im Bußgeldverfahren im Verfahren vor der Verwaltungsbehörde als auch im gerichtlichen Verfahren eine Auslagenpauschale abgerechnet werden kann (vgl. Anm. zu Nr. 7002 VV RVG). |
Der Entwurf sieht in § 17 RVG eine neue Nr. 1 vor, wonach das Verfahren über ein Rechtsmittel und der vorausgegangene Rechtezug als verschiedene Angelegenheiten anzusehen sind. Es sind also jeder Rechtszug und die übrigen Rechtszüge verschiedene Angelegenheiten (s. BR-Drucks. 517/12, S. Entwurf S. 413). Folge dieser Änderung ist eine ausdrückliche Klarstellung in § 19 Abs. 1 Satz 2 Nr. 10a RVG-E, wonach die Beschwerdeverfahren, wenn sich die Gebühren nach Teil 4, 5 oder 6 VV RVG richten und dort nichts anderes bestimmt ist oder besondere Gebührentatbestände vorgesehen sind, ausdrücklich zum Rechtszug gehören. Diese Änderung führt dazu, dass die Beschwerdeverfahren in Straf- und Bußgeldsachen (Teil 4 und 5 VV RVG) und in Teil 6 VV RVG nach wie vor aufgrund des Pauschalcharakters der Vorbem. 4.1 Abs. 1 VV RVG, Vorbem. 51. Abs. 1 VV RVG und Vorb. 6.2 Abs. 1 durch die jeweiligen Verfahrensgebühren mit abgegolten sind (zur Abrechnung von Beschwerdeverfahren Burhoff/Volpert, RVG, Teil A: Beschwerdeverfahren, Abrechnung, Rn. 371 ff.; Burhoff RVGreport 2012, 12).
Im RVG gibt es derzeit keine Regelung. wie Verfahren vor dem EGMR abgerechnet werden können. Diese Lücke soll demnächst § 38a RVG-E schließen. Danach richtet sich für diese Verfahren die Abrechnung nach Teil 3 Abschnitt 2 VV RVG und wird damit ebenso geregelt werden wie für Vorabentscheidungsverfahren vor dem EUGH (derzeit § 38 Abs. 1 RVG). Der Gegenstandswert beträgt mindestens 5.000 (§ 38a Satz 2 Hs. 2 RVG-E).
Bislang konnten die Pauschgebühren der §§ 42, 51 RVG nicht in Freiheitsentziehungs- und Unterbringungssachen sowie bei Unterbringungsmaßnahmen nach § 151 Nr. 6 und 7 FamFG gewährt werden. In der BRAGO war das früher zwar in § 112 BRAGO vorgesehen, die entsprechende Regelung ist 2004 jedoch nicht in den Anwendungsbereich der §§ 42, 51 VV RVG übernommen worden, da die genannten Verfahren in § 42 Abs. 1 S. 1 RVG bzw. § 51 Abs. 1 S. 1 RVG nicht aufgeführt sind. Eine entsprechende Anwendung der Vorschriften haben Rechtsprechung und Literatur abgelehnt (vgl. z.B. Burhoff/Burhoff, RVG, § 51 Rn. 4 m.w.N.) Der Entwurf erweitert nun den Anwendungsbereich der §§ 42, 51 RVG auf alle Verfahren, für die sich die Gebühren nach Teil 6 Abschnitt 3 VV RVG richten. Damit wird nun das Vorhaben des RVG, wonach die Regelung des § 112 BRAGO unverändert übernommen werden sollte (vgl. dazu BT-Dr. 15/1971, S. 231), nachträglich erfüllt.
In § 58 Abs. 3 RVG-E ist ein neuer Satz 4 vorgesehen. Danach soll ein Pflichtverteidiger zusammen mit den an ihn gezahlten Vorschüssen und Zahlungen insgesamt nicht mehr als Vergütung erhalten als ihm als Höchstgebühren eines Wahlanwalts zustehen würde. Die Regelung entspricht der in Rspr. und Lit. h.M. (vgl. Burhoff/Volpert, RVG, § 58 Abs. 3 Rn. 36 m.w.N.)
Tipp/Hinweis: |
Eine für die Praxis wesentliche Neuerung wird vom Bundesrat in seiner Stellungnahme zum Reg-Entwurf vorgeschlagen (vgl. BR-Drucks. 517/12 [B], S. 90). In § 58 Abs. 3 soll ein Satz anagefügt werden, in dem es heißt Verfahrensabschnitt ist jeder Teil des Verfahrens, für den besondere Gebühren bestimmt sind. Damit wäre die in Rspr. und Lit. umstrittene Frage entschieden, was unter einem Verfahrensabschnitt zu verstehen ist (vgl. (vgl. dazu Gerold/Schmidt/Burhoff, RVG,§ 58 Rn.62 ff.; Burhoff/Volpert, RVG, § 58 Abs. 3 Rn.14 ff.). Zugleich wäre damit dann beim Pflichtverteidiger die Anrechnung von nicht verbrauchten Vorschüssen, die für bestimmte Verfahrensabschnitte gezahlt worden sind, wie z.B. für das vorbereitende Verfahren, auf die Gebühren anderer Verfahrensabschnitte, wie z.B. das Hauptverfahren, ausgeschlossen. |
In der Gesetzesbegründung zum RVG war ausdrücklich dargelegt, dass der Rechtsanwalt auch im Strafverfahren als Beistand für einen Zeugen oder Sachverständigen die gleichen Gebühren wie ein Verteidiger erhalten soll (BT-Drucks. 15/1971 S. 220). Trotz dieses eindeutigen gesetzgeberischen Anliegens und des klar zum Ausdruck gekommenen gesetzgeberischen Willens ist alsbald nach Inkrafttreten des RVG in Rspr. und Lit. eine heftiger Streit um die Abrechnung der Tätigkeiten des als Zeugenbeistand tätigen Rechtsanwalt in den Verfahren, die nach Teil 4 bzw. 5 VV RVG abgerechnet werden entbrannt. Die diskutierte Streitfrage, nämlich Abrechnung nach Teil 4 Abschnitt 1 VV RVG oder nur nach Teil 4 Abschnitt 3 VV RVG, gehört sicherlich immer noch mit zu den heftigst umstrittenen Fragen der Abrechnung nach den Teilen 4 und 5 VV RVG (zum Streitstand und zu Rechtsprechungsnachweisen s. Burhoff/Burhoff, RVG, Vorbem. 4.1 VV Rn. 5 ff.; Burhoff RVGreport 2011, 85; Gerold/Schmidt/Burhoff, a.a.O., VV Einl. Vorb. Teil 4.1 Rn. 5 ff.)
Hier bringt der Entwurf nun eine Klarstellung in Vorbem. 4 Abs. 1 VV RVG, die diesen Streit i.S. der Vertreter der Auffassung, die nach Teil 4 Abschnitt 1 VV RVG abrechnen (vgl. z.B. Burhoff/Burhoff, RVG, Vorbem. 4.1 VV Rn. 5 ff.), erledigt (vgl. BR-Drucks. 517/12, S. 438 f.). Vorbem. 4 Abs. 1 VV RVG soll nämlich demnächst heißen: (1) Für die Tätigkeit als Beistand oder Vertreter eines Privatklägers, eines Nebenklägers, eines Einziehungs- oder Nebenbeteiligten, eines Verletzten, eines Zeugen oder Sachverständigen und für die Tätigkeit im Verfahren nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz erhält der Rechtsanwalt die gleichen Gebühren wie ein Verteidiger im Strafverfahren. Damit sollte in der Tat der angesprochene Streit erledigt sein (wie die Neuregelung in der Vergangenheit schon Burhoff/Burhoff, a.a.O. m.w.N., auch zur teilweise vertretenen a.A. in der Rspr.). Kritisch haben sich zu dieser Änderung die Länder geäußert (vgl. BR-Drucks. 517/12 [B], S. 91).
In Rspr. und Literatur ist bislang das Verhältnis der Grundgebühr Nr. 4100/5100 VV RVG zur jeweiligen Verfahrensgebühr nicht eindeutig geklärt. Teilweise ist unter Hinweis auf die Gesetzesbegründung zur Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG und den dort beschriebenen eigenen Abgeltungsbereich der Grundgebühr (vgl. dazu BT-Dr. 15/1971, S. 222.) - die zum derzeitigen Recht m.E. zutreffende Auffassung - vertreten worden, dass die Verfahrensgebühr erst entsteht, wenn der Abgeltungsbereich der Grundgebühr überschritten worden ist (vgl. Burhoff/Burhoff, RVG, Nr. 4100 VV Rn. 20; KG RVGreport 2009, 186 = StRR 2009, 239 = AGS 2009, 271) Teilweise ist man aber auch davon ausgegangen, dass die Grundgebühr immer neben der Verfahrensgebühr entstehe, da es sich bei dieser um eine Betriebsgebühr handle (vgl. insbesondere AnwKomm-RVG/N.Schneider, 6. Aufl., VV Vorb. 4 Rn. 22; AG Tiergarten RVGreport 209, 395 = StRR 2009, 237 = AGS 2009, 322.) Der Gesetzgeber hat sich im Entwurf für die letzte Auffassung entschieden. In Abs. 1 der Anm. soll eingefügt werden neben der Verfahrensgebühr. Damit ist klargestellt, dass die Grundgebühr den Charakter einer Zusatzgebühr hat, die den Rahmen der Verfahrensgebühr erweitert (vgl. BR-Drucks. 517/12, S. 438 f.).
Nach Inkrafttreten des RVG war in Rspr. und Lit. sehr schnell die Frage umstritten, ob die zusätzliche Gebühr Nr. 4141 VV RVG auch dann entsteht, wenn das strafrechtliche Ermittlungsverfahren eingestellt und die Sache gem. § 43 OWiG an die Verwaltungsbehörde abgegeben wird. Das ist von der h.M. zutreffend bejaht worden (vgl. Gerold/Schmidt/Burhoff, a.a.O., 4141 VV RVG, Rn. 16; Burhoff/Burhoff, RVG, Teil A: Angelegenheiten [§§ 15 ff.], Rn. 88; AnwKomm-RVG/N.Schneider, 4141 VV, Rn. 19 ff., jeweils m.w.N. aus der Rspr.). A.A. waren zunächst nur Hartmann (Kostengesetze, 41. Aufl., 4141 VV RVG, Rn. 4), das AG München (JurBüro 2007, 84) und das AG Osnabrück (RVGreport 2008, 190). Inzwischen hat sich aber auch der BGH dieser Mindermeinung angeschlossen (vgl. NJW 2010, 1209 = RVGreport 2010, 70 m. abl. Anm. Burhoff = StRR 2010, 109 = VRR 2010, 38). Der Entwurf entscheidet sich für die h.M. und erteilt damit dem BGH (a.a.O.) eine Absage. In Nr. 4141 Anm. 1 Nr. 1 VV RVG wird nämlich das Wort Verfahren durch Strafverfahren ersetzt. In der Begründung wird zutreffend darauf hingewiesen, dass die Regelung der Nr. 4141 VV RVG dem Zweck diese, den Anreiz zu erhöhen, Verfahren ohne Hauptverhandlung zu erledigen und soll somit zu weniger Hauptverhandlungen führen. Diesem Zweck trage die Gebühr aber auch dann Rechnung, wenn sich ein Bußgeldverfahren anschließt, von dem man nicht absehen kann, ob es später überhaupt noch gerichtlich anhängig sein wird.
Tipp/Hinweis: |
Damit wird in Zukunft in diesen Fällen wieder die Nr. 4141 VV RVG abgerechnet werden können. Befinden sich Verteidiger derzeit in vergleichbaren Fällen im Streit mit der Rechtsschutzversicherung oder der Staatskasse um den Anfall der Nr. 4141 VV RVG sollte auf die geplante Änderung und die Unhaltbarkeit der Auffassung des BGH hingewiesen werden. |
In der Rspr. (vgl. AG Darmstadt AGS 2008, 344) und Lit. (vgl. u.a. Burhoff/Burhoff, RVG, Nr. 4141 VV Rn. 32, Gerold/Schmidt/Burhoff, VV 4141 Rn. 30; AnwKomm-RVG/N.Schneider, a.a.O., VV 4141 Rn. 107 ff.) ist eine entsprechende Anwendung der Regelung der zusätzliche Gebühr Nr. 4141 VV RVG auf die Fälle befürwortet worden, in denen das Gericht nach § 411 Abs. 1 S. 3 StPO nach Beschränkung des Einspruchs des Angeklagten gegen den Strafbefehl auf die Höhe der Tagessätze mit Zustimmung des Angeklagten durch Beschluss entscheidet (a.A. OLG Frankfurt RVGreport 2002008, 428 = StRR 2009, 159 = VRR 2009, 80 = AGS 2008, 487; wegen weiterer Nachw. s. Burhoff/Burhoff, a.a.O ). Dies greift der Entwurf in einer neuen Nr. 4 der Nr. 4141 VV RVG auf. Offen ist damit aber immer noch die Frage, ob die Nr. 4141 VV RVG auch dann entsteht., wenn sich Verteidiger, Gericht und Staatsanwaltschaft über den Erlass eines Strafbefehls verständigen, so dass gegen den dann erlassenen Strafbefehl kein Einspruch eingelegt wird (befürwortet von Burhoff/Burhoff, RVG, Nr. 4141 VV Rn. 34).
Bislang nicht geregelt war im RVG der Fall, dass der Privatkläger seine Privatklage nach Eröffnung des Hauptverfahrens zurück nimmt. Die Regelung in Nr. 4141 Anm. 1 Nr. 2 VV RVG, wonach im Fall der Nichteröffnung des Hauptverfahrens eine Gebühr Nr. 4141 VV RVG entsteht, betrifft nur den Vertreter des Privatbeklagten. Dem begegnet der Entwurf dadurch, dass in Nr. 4141 Anm. 1 VV RVG ein Satz 2 angefügt werden soll, wonach die Nr. 3 auf den Beistand oder Vertreter eine Privatklägers entsprechend anzuwenden [ist], wenn die Privatklage zurückgenommen wird.
Bisher ist in der Lit. davon ausgegangen worden, dass bei Einstellung im Privatklageverfahren neben einer Gebühr Nr. 4141 VV RVG ggf. auch noch die Einigungsgebühr nach Nr. 4147 VV RVG entstehen kann (vgl. AnwKomm-RVG/N.Schneider, a.a.O., 4141 VV Rn. 53 m.w.N.). Das ändert der Entwurf dadurch, dass in der Anm. 2 ein Satz 2 eingefügt wird, wonach die Gebühr Nr. 4141 VV RVG nicht neben der Gebühr Nr. 4141 VV RVG anfallen kann. Allerdings ist die Höhe der Gebühr Nr. 4147 VV RVG an die Gebühr Nr. 4141 VV RVG angeglichen worden. Während bisher ein Betragsrahmen von 20,00 bis 150,00 bzw. eine Festbetragsgebühr von 68,00 für den beigeordneten bzw. bestellten Rechtsanwalt vorgesehen war. entsteht die Gebühr Nr. 4147 VV RVG demnächst immer aus dem Rahmen der jeweiligen Verfahrensgebühr ohne Zuschlag (vgl. BR-Drucks. 517/12, S. 440 f.). Für den Wahlanwalt handelt es ich um eine Festbetragsgebühr in Höhe der Rahmenmitte (Nr. 4141 Anm. 3 S. 2 VV RVG).
Die Nutzung von Burhoff-Online ist kostenlos. Der Betrieb der Homepage verursacht aber für Wartungs-, Verbesserungsarbeiten und Speicherplatz laufende Kosten.
Wenn Sie daher Burhoff-Online freundlicherweise durch einen kleinen Obolus unterstützen wollen, haben Sie hier eine "Spendenmöglichkeit".