aus ZAP Heft 22/201, F. 21 S. 311
(Ich bedanke mich bei der Schriftleitung von "ZAP" für die freundliche Genehmigung, diesen Beitrag aus "ZAP" auf meiner Homepage einstellen zu dürfen.)
Von Rechtsanwalt Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Münster/Augsburg
Die Anwesenheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung des Bußgeldverfahrens nach dem OWiG richtet sich nach § 73 OWiG. Danach gilt ebenso wie für die Hauptverhandlung des Strafverfahrens auch in der Hauptverhandlung des Ordnungswidrigkeitenverfahrens (OWi-Verfahren) für den Betroffenen eine Anwesenheitspflicht (vgl. zum Strafverfahren Burhoff ZAP F. 22, S. 939). Das Gesetz verlangt grundsätzlich, dass der Betroffene während der gesamten Dauer der Hauptverhandlung anwesend ist. Mit dieser Anwesenheitspflicht korrespondiert das Recht des Betroffenen auf Teilnahme an der Hauptverhandlung als Ausprägung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (OLG Jena zfs 2010, 109 ff. = VRS 117, 342). § 231 StPO gilt im Bußgeldverfahren i.Ü. nicht (OLG Bamberg VRR 2012, 276).
Zwar besteht gem. § 73 Abs. 1 OWiG die Pflicht des Betroffenen, in der Hauptverhandlung zu erscheinen (zur Anwesenheitspflicht ausländischer Verkehrssünder s. Mitsch ZIS 2011, 502). Nach § 73 Abs. 2 OWiG ist das Gericht aber verpflichtet, den Betroffenen auf seinen Antrag hin von dieser Verpflichtung zu entbinden, wenn er sich zur Sache geäußert hat oder erklärt, dass er sich in der Hauptverhandlung nicht zur Sache äußern werde, und seine Anwesenheit zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhalts nicht erforderlich ist (vgl. dazu unten II. 5.; wegen weiterer Einzelheiten s. auch Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 8. Aufl. 2019, Rn 1393 ff. [im Folgenden kurz: Burhoff, EV]; Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 9. Aufl. 2019, Rn 1389 ff. [im Folgenden kurz: Burhoff, HV]; Stephan/Niehaus, in: Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 5. Aufl. 2018, Rn 2351 ff. [im Folgenden kurz: Burhoff/Bearbeiter, OWi]).
Das Gericht darf den Betroffenen nicht ohne Antrag des Verteidigers vom Erscheinen in der Hauptverhandlung entbinden und dann ohne ihn verhandeln (BayObLG NStZ-RR 2000, 149; 2005, 82). Es kann auch nicht einen Verlegungsantrag in einen Entbindungsantrag umdeuten, da mit diesem gerade nicht zum Ausdruck gebracht werden soll, dass der Betroffene nicht an der Hauptverhandlung teilnehmen will (OLG Hamm VRS 108, 274). Hat der Betroffene einen Entbindungsantrag nicht gestellt, wird er aber dennoch von der Anwesenheitspflicht entbunden, darf eine Abwesenheitsverhandlung nicht stattfinden (OLG Jena zfs 2006, 348). Stellt der Betroffene allerdings nach einem Antrag auf Terminsverlegung wegen Krankheit einen Antrag auf Entbindung von der Pflicht zur Anwesenheit in der Hauptverhandlung, überholt sich der Antrag auf Terminsverlegung (Fall der Erledigung), so dass das Amtsgericht (AG) nur noch über den Antrag auf Entbindung von der Anwesenheitspflicht zu entscheiden und ggf. ohne den Betroffenen die Hauptverhandlung durchzuführen hat (OLG Brandenburg VRR 2014, 443 [Ls.]).
Liegen die Voraussetzungen für die Entbindung vor (vgl. II. 5.), muss das AG den Betroffenen von der Anwesenheitspflicht entbinden. Das AG hat in dieser Frage kein Ermessen (so schon BayObLG DAR 2001, 371; st. OLG-Rspr., vgl. aus neuerer Zeit KG VRS 113, 63; NStZ 2011, 584; VA 2017, 50; OLG Bamberg DAR 2013, 90; NZV 2013, 612; VRR 2013, 350; OLG Düsseldorf VA 2016, 176; OLG Hamburg, Beschl. v. 5.3.2018 6 RB 3/18; OLG Hamm DAR 2016, 595; OLG Jena, Beschl. v. 30.6.2009 1 Ss 78/09; OLG Karlsruhe StraFo 2010, 494; VA 2016, 176; OLG Köln StraFo 2009, 76 m.w.N.; NZV 2013, 50; OLG Naumburg VA 2015, 195; s. weitere Nachweise bei Burhoff/Stephan/Niehaus, OWi, Rn 2435; Seitz/Bauer, in: Göhler, OWiG, 17. Aufl. 2017, § 73 Rn 5 [im Folgenden kurz: Göhler/Bearbeiter]).
Hinweis:
Die Ablehnung des Entbindungsantrags ohne nachvollziehbare Gründe verletzt den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör und kann/muss mit der Rechtsbeschwerde geltend gemacht werden, und zwar mit der Verfahrensrüge (st. OLG-Rspr., vgl. u.a. OLG Bamberg zfs 2008, 413 m.w.N.; OLG Dresden NZV 2013, 613; OLG Köln zfs 2004, 335; OLG Rostock, Beschl. v. 27.4.2011 Ss OWi 50/11 I 63/11; Burhoff VRR 2007, 250, 255; Krenberger zfs 2013, 374; Burhoff/Stephan/Niehaus, OWi, Rn 2439 f.; Burhoff/Junker, OWi, Rn 3069). Zulässig ist über § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG die Rechtsbeschwerde dann ggf. auch im sog. zulassungsfreien Raum.
Besteht der Richter trotz eines begründeten Entbindungsantrags auf das Erscheinen des Betroffenen in der Hauptverhandlung, kann das die Besorgnis der Befangenheit begründen (AG Fulda StRR 2011, 401; AG Recklinghausen StRR 2010, 363 [Ls.]; s. auch Burhoff, HV, Rn 104).
Der Antrag auf Entbindung des Betroffenen von der Erscheinenspflicht in der Hauptverhandlung kann frühestens zusammen mit der Einlegung des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid wirksam gestellt werden (OLG Bamberg StraFo 2016, 348). Ein Antrag des Betroffenen hat nur Wirkung für die konkret bevorstehende Hauptverhandlung. Nach einer Aussetzung der Hauptverhandlung muss der Antrag ggf. wiederholt werden (KG DAR 2017, 714; VRS 99, 372; OLG Bamberg DAR 2012, 393; OLG Brandenburg VRS 116, 276; OLG Hamm, DAR 2006, 522; OLG Jena VRS 117, 342; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 9.4.2015 2 (7) SsRs 76/15), nicht jedoch nach einer bloßen Terminsverlegung (OLG Bamberg StraFo 2016, 212). In den Fällen der Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung der Sache an das AG muss der Antrag ebenfalls erneut gestellt werden (OLG Bamberg StraFo 2016, 524 = NStZ-RR 2017, 26).
Hinweis:
Hat der Betroffene allerdings einen allgemeinen, nicht terminsbezogenen Antrag nach § 73 Abs. 2 OWiG gestellt und hat das AG dem Antrag für den tatsächlich stattgefundenen Hauptverhandlungstermin stattgegeben, kann nach § 74 Abs. 1 S. 1 OWiG in Abwesenheit des Betroffenen verhandelt werden, wenn der ursprünglich vorgesehene Termin verlegt worden war (vgl. auch OLG Karlsruhe NStZ-RR 2015, 258).
Kann der Betroffene nicht an der Hauptverhandlung teilnehmen, müssen die Entschuldigungsgründe unverzüglich dem Gericht vorgetragen werden (zum Inhalt des Antrags s. unten II. 5; OLG Bamberg VRR 2009, 230). Ein möglichst frühzeitiger Entbindungsantrag empfiehlt sich vor allem auch deshalb, weil nach der Neufassung des § 74 Abs. 1 S. 1 OWiG (entbunden war) die Auffassung vertreten werden könnte, dass ein Entbindungsantrag in der Hauptverhandlung nicht mehr zulässig sei, sondern der Antrag vor der Hauptverhandlung eingegangen sein müsse (so Göhler/Seitz/Bauer, § 73 Rn 4; s. dazu aber unten IV. 2. b cc).
Der Entbindungsantrag sollte so rechtzeitig an das AG geschickt werden, dass er dem Richter noch rechtzeitig vor dem Termin vorgelegt werden kann (OLG Bamberg StraFo 2017, 510; zur Kontroverse in der obergerichtlichen Rechtsprechung um den rechtzeitigen Eingang des Antrags s. einerseits OLG Hamm DAR 2011, 539 [1 ½ Stunden nicht ausreichend] m. abl. Anm. Deutscher VRR 2011, 473; andererseits OLG Bamberg, Beschl. v. 25.3.2008 3 Ss OWi 1326/08 [30 Minuten vor Hauptverhandlung-Beginn reichen aus] und NZV 2011, 409; s. auch noch KG VRR 2012, 195 [2 Stunden ausreichend]).
Hinweis:
Ob allerdings dem Amtsrichter der Entbindungsantrag bis zum Erlass der angefochtenen Entscheidung tatsächlich zur Kenntnis gelangt war, ist unerheblich, maßgeblich ist allein, ob der Antrag bei gehöriger gerichtsinterner Organisation dem Richter hätte rechtzeitig zugeleitet werden können (OLG Naumburg VA 2015, 195).
Über den Antrag des Betroffenen, ihn vom Erscheinen zu entbinden, muss grundsätzlich rechtzeitig vor der Hauptverhandlung entschieden werden, damit der Betroffene sich auf die getroffene Entscheidung einstellen kann (ähnlich OLG Braunschweig, Beschl. v. 12.7.2012 Ss [OWi] 113/12 für Terminsverlegungsantrag). Ist über den rechtzeitig gestellten Antrag des Betroffenen nicht entschieden worden, kann das ggf. sein Fernbleiben in der Hauptverhandlung entschuldigen (OLG Hamm VRR 2008, 123 [Ls.]; OLG Karlsruhe zfs 1999, 538 [Antrag bereits einen Monat vor der Hauptverhandlung]; OLG Zweibrücken StraFo 1997, 81 [zumindest dann, wenn zusätzliche Tatsachen belegen, dass der Betroffene davon ausgegangen ist, seine Anwesenheitspflicht sei aufgehoben]). Zudem liegt in der unterlassenen Entscheidung eine Verletzung des Anspruchs des Betroffenen auf rechtliches Gehör (OLG Bamberg NStZ-RR 2008, 86; OLG Zweibrücken zfs 2012, 229).
Für das Stellen des Entbindungsantrags, ggf. noch in der Hauptverhandlung (vgl. unten IV. 2. b cc), bedarf der Verteidiger eine über die Verteidigungsvollmacht hinausgehende Vertretungsvollmacht (st. OLG-Rspr., vgl. u.a. KG zfs 2015, 468; VRR 2014, 435; OLG Bamberg DAR 2009, 155; OLG Hamm NStZ-RR 2009, 353 [Ls.]; zfs 2004, 42; OLG Köln NStZ 2002, 268; jeweils m.w.N. aus der Rspr.; zur Vollmacht des Verteidigers allgemein Burhoff, EV, Rn 4677; Burhoff, HV, Rn 3919). Eine Telefaxkopie genügt (OLG Hamm a.a.O.). Die Erteilung der umfassenden Vertretungsvollmacht bedarf keiner besonderen Form; die Vollmacht kann auch mündlich erteilt werden. Das gilt auch für den Pflichtverteidiger; die diesem ggf. zuvor als Wahlverteidiger erteilte Vertretungsvollmacht erlischt mit der Bestellung zum Pflichtverteidiger (OLG München VRR 2010, 393).
In der Vertretungsvollmacht kann zugleich die Ermächtigung enthalten sein, eine etwa erforderliche Vollmachtsurkunde im Namen des Vollmachtgebers zu unterzeichnen. In der Vergangenheit ist die obergerichtliche Rechtsprechung davon ausgegangen, dass eine so unterzeichnete Vollmacht für die Vertretung in der Hauptverhandlung reicht (vgl. BayObLG NStZ 2002, 277; KG zfs 2015, 468; KG StRR 2014, 38; VA 2017, 50; OLG Brandenburg zfs 2015, 470; OLG Celle, Beschl. v. 20.1.2014 322 SsRs 24/13; OLG Dresden StRR 2013, 261 m. Anm. Reichling).
Hinweis:
Daran wird nach der Neuregelung in § 329 StPO für das strafrechtliche Berufungsverfahren allerdings nicht mehr festgehalten (vgl. dazu Burhoff, HV, Rn 818 ff.; für das Berufungsverfahren KG StraFo 2018, 71; OLG Hamburg StV 2018, 151 [Ls.] m. Anm. Burhoff StRR 9/2017, 13).
Die Entbindung von der Anwesenheitspflicht setzt gem. § 73 Abs. 2 OWiG voraus, dass eine Äußerung des Betroffenen zur Sache vorliegt oder dieser erklärt, dass er sich nicht zur Sache äußern werde und seine Anwesenheit zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhalts nicht erforderlich ist (vgl. dazu Burhoff/Stephan/Niehaus, OWi, Rn 2578 ff.; Burhoff, EV, Rn 1393; Burhoff, HV, Rn 1389; eingehend auch Burhoff VRR 2007, 250; die Rspr.-Übersicht von Krenberger zfs 2012, 424 ff.; ders., zfs 2013, 364; Fromm DAR 2013, 368).
Hinweis:
Die Nichtentbindung von der Pflicht zum Erscheinen darf nicht dazu dienen, die nach der Neuregelung des § 74 Abs. 2 OWiG dann ggf. zwingende Verwerfung des Einspruchs des Betroffenen vorzubereiten.
Die Entbindung von der Anwesenheitspflicht setzt zunächst voraus, dass eine Äußerung des Betroffenen zur Sache vorliegt oder dieser erklärt, dass er sich nicht zur Sache äußern werde. Eine Äußerung des Betroffenen zur Sache i.S.d. § 73 Abs. 2 OWiG liegt dann vor, wenn eine im Vorverfahren abgegebene Äußerung des Betroffenen in der Hauptverhandlung verwertbar ist (vgl. dazu Göhler/Seitz/Bauer, § 73 Rn 6). Das hängt nicht davon ab, ob die bislang vom Betroffenen abgegebenen Erklärungen inhaltlich zur Sachaufklärung beitragen können. Die Frage nach der inhaltlichen Qualität einer vorliegenden Äußerung des Betroffenen ist zu unterscheiden von der Frage, ob die Anwesenheit des Betroffenen zur Sachaufklärung erforderlich ist (vgl. dazu unten II. 5. c). Also steht eine Erklärung, mit der der Betroffene Beweisergebnisse bezweifelt hat, der Entbindung nicht entgegen. Entsprechendes gilt für die Erklärung, er könne sich an den Vorfall nicht erinnern. Auch ein ggf. der Verwertung in der Hauptverhandlung an sich entgegenstehendes Beweisverwertungsverbot, z.B. weil der Betroffene nicht oder nicht ausreichend belehrt worden ist, wird zumindest bei dem verteidigten Betroffenen der Entbindung nicht entgegenstehen.
Entscheidend für die Frage, ob der Betroffene von seinem Erscheinen in der Hauptverhandlung entbunden werden kann/muss, ist weiter, ob von seiner Anwesenheit ein Aufklärungsbeitrag zu erwarten ist (OLG Bamberg NZV 2013, 612; vgl. auch die Rspr.-Nachw. bei Krenberger zfs 2012, 424, 426; ders., zfs 2013, 364 f.; Fromm DAR 2013, 368, 369 f.). Ist der Betroffene geständig, kann z.B. eine nicht erfolgende Entbindung allein schon deshalb unwirksam sein (BayObLG NStZ-RR 1996, 179; OLG Hamm NZV 1997, 90; OLG Frankfurt NStZ 1997, 39 [jew. zum alten Recht]), und zwar auch dann, wenn es um die Verhängung eines Fahrverbots geht (s. aber OLG Frankfurt NZV 2012, 193; zfs 2012, 291; OLG Koblenz zfs 2001, 476; OLG Oldenburg NStZ 2010, 458).
Hinweis:
Nach Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung und auch der Formulierung in § 73 Abs. 2 OWiG (erforderlich ist) müssen konkrete Anhaltspunkte dafür sprechen, dass die Anwesenheit des Betroffenen zumindest Auswirkungen auf die Aufklärung des Sachverhalts hat (vgl. KG NStZ 2011, 584). Allein die theoretische Möglichkeit, dass der der Betroffene seinen Entschluss zum Schweigen überdenkt, reicht nicht (OLG Düsseldorf zfs 2008, 594; VRR 2013, 158 m. Anm. Burhoff; VA 2016, 176; OLG Hamm DAR 2016, 595; OLG Köln NZV 2013, 50; OLG Naumburg zfs 2015, 534; OLG Stuttgart DAR 2004, 542; 2014, 100 m. Anm. Hillenbrand VRR 2014, 35).
Zu beachten ist, dass es bei der Beurteilung dieser Frage, ob von der Anwesenheit des Betroffenen ein Aufklärungsbeitrag zu erwarten ist, keinen Unterschied macht, ob eine Erklärung vom Betroffenen selbst oder von seinem mit Vertretungsvollmacht ausgestatteten Verteidiger stammt (vgl. OLG Hamm StraFo 2004, 281 m.w.N.; LG Meiningen zfs 2006, 115; Göhler/Seitz/Bauer, § 74 Rn 11a).
Nach der Rechtsprechung des BGH zu § 73 Abs. 2 OWiG a.F. (zur Frage der Zulässigkeit der Anordnung des persönlichen Erscheinens) musste von der Anwesenheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung ein Beitrag zur Aufklärung zumindest zu erwarten sein (BGHSt 38, 251, 255). Das soll auch nach der Neufassung noch gelten (Göhler/Seitz/Bauer, § 73 Rn 8). Insoweit reichen aber rein spekulative Überlegungen nicht aus (s. auch KG NStZ 2011, 584; OLG Naumburg StraFo 2007, 207; OLG Stuttgart DAR 2004, 542; OLG Rostock DAR 2003, 530; OLG Zweibrücken NZV 2000, 304; Schneider NZV 1999, 16), sondern es müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Anwesenheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung auf die Sachaufklärung Einfluss ausüben wird (so wohl auch Göhler/Seitz/Bauer, § 73 Rn 8). Zudem muss das Bestehen auf der Anwesenheit des Betroffenen verhältnismäßig sein (KG zfs 1999, 536), was bei weiterer Entfernung des Wohnorts des Betroffenen zum Gerichtsort eine Rolle spielen kann (s. auch Göhler/Seitz/Bauer, § 73 Rn 8; s. aber OLG Köln NJW 2002, 3791). Ergeben sich die erforderlichen Feststellungen aufgrund von Urkunden oder aus schriftlichen Auskünften des Betroffenen, dürfte seine Anwesenheit entbehrlich sein (KG zfs 1999, 536; OLG Karlsruhe zfs 1999, 538).
Rechtsprechungsbeispiele, in denen eine Anwesenheit erforderlich ist:
Rechtsprechungsbeispiele, in denen eine Anwesenheit nicht erforderlich ist:
Dem Betroffenen muss das Erscheinen auch zumutbar sein (KG zfs 1999, 536; vgl. dazu bei großer Entfernung aber OLG Köln NJW 2002, 3791). Das ist der Fall, wenn die Sache nicht geringfügig ist und der Betroffene in der Nähe des Gerichts wohnt oder sich dort aufhält (Göhler/Seitz/Bauer, § 73 Rn 8). Ist die Anwesenheit des Betroffenen zur Aufklärung des Sachverhalts nicht notwendig und handelt es sich um eine geringfügige OWi (Geldbuße bis zu 100 ), so wird, auch wenn der Betroffene in der Nähe des Gerichts wohnt, das Erscheinen i.d.R. nicht zumutbar sein. Das gilt erst recht, wenn der Betroffene seinen Wohnort weit entfernt vom Gerichtsort hat (BayObLG NJW 1997, 3455 [Ls]; vgl. aber BayObLG StraFo 1998, 315 [zum alten Recht; persönliches Erscheinen erforderlich zum Zwecke der Identifizierung]).
Der Verteidiger muss auf die Formulierung des Antrags große Sorgfalt verwenden. Der Antrag nach § 73 Abs. 2 OWiG muss zwar nicht als solcher formuliert sein und es genügt, wenn der Betroffene zum Ausdruck bringt, von der Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung befreit werden zu wollen (OLG Brandenburg zfs 2018, 50; Göhler/Seitz/Bauer, OWiG, § 73 Rn 4). Der Betroffene ist aber so die obergerichtliche Rechtsprechung verpflichtet, einen Sachverhalt vorzutragen, der geeignet ist, sein Ausbleiben zu entschuldigen (vgl. OLG Bamberg VRR 2009, 231 m. Anm. Gieg; OLG Oldenburg NStZ 2010, 458). Nach Auffassung des OLG Düsseldorf (VRR 2007, 192) reicht es zur Begründung des Antrags, von der Anwesenheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung zu dessen Identifizierung abzusehen, daher nicht, wenn er bei einem durch ein Lichtbild erfassten Verkehrsverstoß lediglich vorträgt, dass er nicht bestreitet, zum Tatzeitpunkt der Fahrer des Fahrzeugs gewesen zu sein. Der Entbindungsantrag ist auch abzugrenzen vom Antrag auf Terminsverlegung (OLG Hamm VRS 108, 274).
Hinweis:
Der Verteidiger muss darauf achten muss, dass ein Entbindungsantrag unmissverständlich formuliert ist. Ist/war das nicht der Fall und führt das zu Nachfragen des AG, obliegt dem Betroffenen eine Mitwirkungspflicht. Er muss daher, wenn sich aus der Nachfrage des Gerichts ergibt, dass dieses ein missverständlich formuliertes Schreiben des Betroffenen anders als von diesem gewollt nicht als Entbindungsantrag auslegt, das Missverständnis aufklären. Tut er das nicht, muss er sich an dem Erklärungsgehalt, den das Gericht dem Schreiben beimisst, festhalten lassen (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.12.2014 1 (8) SsRs 662/14).
Das Entbindungsbegehren muss im Antrag also eindeutig und unmissverständlich zum Ausdruck kommen. Der Verteidiger sollte sich davor hüten, den Entbindungsantrag verklausuliert und ggf. in viel anderem Text versteckt zu stellen. Denn die OLG-Rechtsprechung diskutiert inzwischen ein solches Antragsverhalten unter dem Stichwort der Gehörsrügenfalle und sieht es als rechtsmissbräuchlich an, wenn die ausdrückliche und unmissverständliche Stellung eines Antrags möglich war (OLG Düsseldorf StRR 6/2017, 19; OLG Hamm NStZ-RR 2015, 259; OLG Oldenburg NJW 2018, 681; OLG Rostock NJW 2015, 1770; s. auch OLG Zweibrücken zfs 2018, 50). Folge davon ist dann, dass das AG den Antrag nicht bescheiden muss und in der unterlassenen Bescheidung keine Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG) liegt.
Allerdings darf, wenn der Antrag nicht bewusst oder in rechtsmissbräuchlicher Absicht versteckt oder verklausuliert eingereicht wird, aus dem Umstand, dass der Antrag erst am Sitzungstag kurz vor dem anberaumten Hauptverhandlungstermin beim AG eingeht, nicht auf eine Gehörsrügenfalle geschlossen werden mit der Folge, dass über den Antrag nicht (mehr) entschieden werden müsste (OLG Bamberg StraFo 2017, 510).
Hat das Gericht den Betroffenen von der Pflicht zum Erscheinen entbunden, kann er sich gem. § 73 Abs. 3 OWiG in der Hauptverhandlung durch einen schriftlich zur Vertretung bevollmächtigten Verteidiger vertreten lassen (zur Vertretung des Betroffenen durch den Verteidiger Burhoff, HV, Rn 3539 und Rn 3574; zur Vertretungsvollmacht oben II. 4.). Erscheint der Betroffene nicht und ist er auch nicht durch einen Verteidiger vertreten, kann das Gericht entweder die Hauptverhandlung vertagen oder aber auch das Verfahren nach § 74 Abs. 1 OWiG in Abwesenheit des Betroffenen durchführen.
Hinweis:
Eine Verwerfung des Einspruchs kommt nicht in Betracht, auch nicht, wenn der Verteidiger nicht erschienen ist (OLG Frankfurt zfs 2000, 272; OLG Hamm NZV 2001, 491; zfs 2011, 411; VA 2016, 176; OLG Jena StraFo 2004, 176; OLG Köln StRR 2009, 316; OLG Naumburg, Beschl. v. 12.1.2016 2 Ws 5/16).
Eine Abwesenheitsverhandlung ist nach § 74 Abs. 1 OWiG nur zulässig, wenn der Betroffene aufgrund eines Entbindungsantrags von der Anwesenheitspflicht entbunden worden ist (OLG Jena zfs 2006, 348; vgl. auch noch OLG Hamm zfs 2011, 411). Für die Abwesenheitsverhandlung gelten folgende Besonderheiten:
Nach § 74 Abs. 1 S. 2 OWiG sind frühere Vernehmungen des Betroffenen und seine schriftlichen oder protokollierten Erklärungen durch Mitteilung ihres wesentlichen Inhalts oder durch Verlesung in die Hauptverhandlung einzuführen. Nicht ausreichend ist die Einführung des Inhalts einer dienstlichen Äußerung eines Polizeibeamten, da es sich dabei nicht um eine schriftliche Erklärung des Betroffenen handelt. Entscheidend für die Einführung in die Hauptverhandlung ist, dass es sich um vom Betroffenen genehmigte Äußerungen handelt (so wohl auch Göhler/Seitz/Bauer, § 74 Rn 12). Auch die in einem Schriftsatz des Verteidigers vorgetragenen Angaben des Betroffenen können bekannt gegeben werden (OLG Frankfurt NJW 1993, 2129 [Ls.]; OLG Zweibrücken NZV 1994, 372).
Eine schriftliche, ggf. durch die Verteidigung weitergeleitete, Sacheinlassung des von der Erscheinenspflicht in der Hauptverhandlung entbundenen (abwesenden) Betroffenen ist auch dann zu berücksichtigen, wenn sie dem AG erst am Sitzungstag unmittelbar vor dem anberaumten Termin übermittelt wird. Darauf, ob die Sacheinlassung bis zum Erlass der angefochtenen Entscheidung dem Gericht vorgelegt wird oder ihr Inhalt tatsächlich zur Kenntnis des Gerichts gelangt ist, kommt es nicht an. Wird die Einlassung nicht berücksichtigt, liegt ein Gehörsverstoß vor (OLG Bamberg VRR 8/2018, 3 [Ls.]).
Vor der Hauptverhandlung schriftlich gestellte Beweisanträge sind nur Beweisanregungen, über die nicht gem. § 244 Abs. 3, 4, 6 StPO, sondern im Rahmen der Aufklärungspflicht zu befinden ist (Göhler/Seitz/Bauer, § 74 Rn 17a). Vor der Hauptverhandlung schriftsätzlich gestellte Anträge des Betroffenen müssen aber in einer Abwesenheitsverhandlung zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht werden (OLG Celle VRR 3/2017, 21). Dem Betroffenen unbekannte Beweismittel dürfen in seiner Abwesenheit nicht verwendet/verwertet werden (OLG Bamberg zfs 2014, 229 m. Anm. Krenberger; OLG Jena NStZ-RR 2010, 352; OLG Stuttgart zfs 2010, 48).
Das gilt z.B. für einen Computerberechnungsbogen (OLG Hamm NJW 1996, 534; VRS 93, 3599), für Lichtbilder (OLG Bamberg zfs 2014, 229 m. Anm. Krenberger), für eine Meldeauskunft (OLG Stuttgart DAR 2010, 590; zfs 2010, 48), für das Messprotokoll beim Vorwurf einer Geschwindigkeitsüberschreitung (OLG Köln NJW 1996, 535), für eine PTB-Auskunft (OLG Düsseldorf zfs 2008, 535), für Zeugenaussagen, die weder dem Betroffenen noch seinem Verteidiger bekannt sind, auch wenn das Beweismittel im Bußgeldbescheid aufgeführt war (OLG Bamberg DAR 2011, 401; ähnlich OLG Stuttgart zfs 2010, 48).
Hinweis:
Beabsichtigt der Richter die Einführung und Verwertung von Beweismitteln, zu denen sich der Betroffene bisher noch nicht äußern konnte, muss er die Hauptverhandlung unterbrechen oder aussetzen und den Betroffenen und dessen Verteidiger entsprechend unterrichten (OLG Stuttgart a.a.O.).
Für die Vertretung des Betroffenen durch den Verteidiger gelten die Grundsätze, die zu den §§ 234, 411 Abs. 2 StPO entwickelt worden sind; es wird insoweit auf Burhoff, HV, Rn 3593, verwiesen. § 74 Abs. 1 S. 3 OWiG bestimmt ausdrücklich, dass ein nach § 265 Abs. 1 oder Abs. 2 StPO erforderlicher Hinweis dem Verteidiger erteilt werden kann (zur Aussetzung der Hauptverhandlung u.a. OLG Naumburg VA 2016, 85). Hat der Verteidiger keine Vertretungsvollmacht i.S.d. § 73 Abs. 3 OWiG kann er den Betroffenen in der Abwesenheitsverhandlung nicht vertreten, d.h. er kann für diesen keine Erklärungen abgeben und entgegennehmen. Der mit der Verteidigung beauftragte Rechtsanwalt hat aber sämtliche ihm als Verteidiger zustehenden Befugnisse (vgl. KG, Beschl. v. 2.9.2015 3 Ws (B) 447/15; v. 2.3.2018 3 Ws (B) 71/18 unter Hinw. auf. BayObLG VRS 61, 39). Dazu gehört auch das Recht, in der Hauptverhandlung im eigenen Namen Anträge zu stellen (KG a.a.O.).
Bleibt der Betroffene in der Hauptverhandlung entschuldigt aus, darf die Hauptverhandlung nicht durchgeführt werden (Göhler/Seitz/Bauer, § 73 Rn 19 m.w.N. aus der früheren Rspr.; zur a.A. in der Lit. vgl. z.B. Krumm DAR 2008, 413, der sich zu Unrecht auf den Wortlaut des § 74 Abs. 1 OWiG bezieht). Das gilt auch, wenn der Betroffene durch einen Verteidiger vertreten ist (OLG Hamm NJW 1976, 303), es sei denn, dieser erklärt, er sei mit der Verhandlung in Abwesenheit des Betroffenen einverstanden (OLG Hamm VRS 39, 359). Voraussetzung dürfte es dann aber sein, dass der Verteidiger eine (besondere) Vertretungsvollmacht für den Angeklagten hat (BayObLG NStZ 2001, 585 [Ls.]).
Hat das Gericht den Betroffenen nicht vom Erscheinen in der Hauptverhandlung entbunden, erscheint der Betroffene aber dennoch in der Hauptverhandlung ohne genügende Entschuldigung nicht, ist das Gericht nach § 74 Abs. 2 OWiG verpflichtet/gezwungen, den Einspruch durch Urteil zu verwerfen (OLG Dresden zfs 2014, 590; OLG Hamm NZV 2012, 354). Die nach altem Recht mögliche Vorführung des Betroffenen oder die Verhandlung nach § 74 Abs. 1 OWiG in seiner Abwesenheit sind nicht (mehr) möglich (OLG Hamm VRS 121, 335; Göhler/Seitz/Bauer, § 74 Rn 34).
Hinweis:
Der Einspruch darf auch (noch) verworfen werden, wenn der Betroffene in der Hauptverhandlung ausbleibt, die nach Zurückverweisung durch das OLG anberaumt worden ist, nachdem ein vom AG zunächst erlassenes Sachurteil (nur) im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben worden ist (BGHSt 57, 282; vgl. dazu einerseits OLG Celle [Vorlagebeschluss] NZV 2012, 44 m.w.N.; andererseits OLG Hamm VRR 2007, 155).
Inzwischen wird die Frage diskutiert, ob und welche Auswirkungen das Urteil des EGMR vom 8.11.2012 in Sachen Neziraj im Bußgeldverfahren hat (EGMR NStZ 2013, 350 m. Anm. Püschel; StraFo 2012, 490). Dieses ist zwar für das Verfahren nach § 329 Abs. 1 StPO ergangen (vgl. dazu eingehende Burhoff, HV, Rn 822 m.w.N.). Es stellt sich aber auch im Bußgeldverfahren die Frage, ob der Einspruch des Betroffenen nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen werden kann/muss, wenn für den Betroffenen ein vertretungsberechtigter und -williger Verteidiger in der Hauptverhandlung anwesend ist. Die OLG-Rspr. hat die Übertragung der Grundsätze des Urteils des EGMR auf das Bußgeldverfahren und die Zulässigkeit der Verwerfung des Einspruchs nach § 74 Abs. 2 OWiG abgelehnt (vgl. OLG Brandenburg NStZ 2014, 672; zfs 2014, 590 m. zust. Anm. Krenberger; OLG Dresden zfs 2014, 591; VRR 2014, 272 m. Anm. Deutscher; s. dazu auch Sitzer StraFo 2014, 1).
Hinweis:
Anders als bei § 329 Abs. 1 StPO hat das Gesetz zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungsverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe (vgl. BGBl I, S. 1382; BT-Drucks 18/3562 u. 18/5254) im OWiG Änderungen bzw. Anpassungen an die Rspr. des EGMR nicht vorgenommen. Insbesondere ist § 74 Abs. 2 OWiG nicht geändert worden. Der Streit um die Umsetzung der Rechtsprechung des EGMR wird sich also fortsetzen.
Für die (zwingende) Verwerfung des Einspruchs (vgl. wegen der Einzelheiten Göhler/Seitz/Bauer, § 74 Rn 19 ff. m.w.N.; Burhoff, HV, Rn 1389 ff.) gelten folgende Voraussetzungen:
Der Betroffene muss ordnungsgemäß unter Hinweis auf die Folgen des unentschuldigten Ausbleibens (§ 74 Abs. 3 OWiG; zur Belehrung s. Göhler/Seitz/Bauer, § 74 Rn 21 ff.) geladen worden sein (vgl. dazu BVerfG NStZ-RR 2004, 372; s. OLG Zweibrücken NStZ 1996, 239 [bei kurzfristiger Vorverlegung der Terminsstunde kann der Hinweis unterbleiben]; OLG Hamburg NStZ-RR 1998, 183 [Sache, in der verhandelt werden soll, muss angegeben werden]; zur [verneinten] Frage, ob die Belehrung in einer früheren Ladung ausreicht s. BayObLG NZV 1999, 306 und Göhler/Seitz/Bauer, § 74 Rn 22 m.w.N.), wobei Zweifel am Vorliegen einer ordnungsgemäßen Ladung ausnahmsweise nicht zulasten des Betroffenen gehen (OLG Jena StraFo 2004, 357; zur ordnungsgemäßen Ladung s. auch Burhoff ZAP F 22. S. 940).
Hinweis:
Ist der gewählte Verteidiger nicht ordnungsgemäß oder überhaupt nicht geladen worden, kann der Einspruch nicht verworfen werden (BayObLG DAR 2001, 37; NStZ-RR 2001, 377; VRR 2012, 430).
Der Betroffene muss bei Beginn der Hauptverhandlung (s. Burhoff ZAP F 22, S. 944; Burhoff, HV, Rn 1789 1803), auch bei Beginn einer Fortsetzungsverhandlung (OLG Jena NStZ-RR 2003, 212 [Ls.]; s. aber LG Kiel VRR 2008, 38), ohne genügende Entschuldigung ausgeblieben sein. Insoweit gelten grundsätzlich die zum Ausbleiben des Angeklagten, vor allem zu den §§ 329, 412 StPO für die Berufungsverwerfung wegen Ausbleibens des Angeklagten entwickelten Grundsätze (Göhler/Seitz/Bauer, § 74 Rn 29, 30 ff. m.w.N.; vgl. zur genügenden Entschuldigung auch Burhoff ZAP F. 22, S. 944; s. auch noch OLG Bamberg VRR 2012, 276 [kurzfristiges Überschreiten der bei einer Unterbrechung der Hauptverhandlung vorgesehenen Unterbrechungszeit]). Genügend entschuldigt ist der Betroffene z.B. auch, wenn ihm in der Ladung mitgeteilt worden ist, er sei zum Erscheinen in der Hauptverhandlung nicht verpflichtet (OLG Hamm NZV 1999, 307). Gegebenenfalls besteht eine Wartepflicht der Gerichts (vgl. Burhoff ZAP F 22, S. 949 und aus neuerer Zeit KG VRR 2/2017, 18; JurBüro 2015, 604). Allerdings ist die Nichtbescheidung eines Akteneinsichtsgesuchs alleine kein Grund, der Hauptverhandlung fernzubleiben (OLG Karlsruhe NStZ-RR 2010, 287; s. aber OLG Koblenz StV 2009, 477).
Hinweis:
Ist die Hauptverhandlung ohne ausdrückliche Befristung unterbrochen worden, um z.B. dem Betroffenen die Möglichkeit zu geben, ein gerichtliches Hinweisschreiben mit seinem Verteidiger zu erörtern, darf der Einspruch ohne Hinzutreten weiterer Umstände auch dann nicht verworfen werden, wenn der Betroffene und sein Verteidiger bei Wiederaufruf der Sache nicht erscheinen und die Unterbrechung bis zum Wiederaufruf nur kurze Zeit gedauert hat (KG NStZ-RR 2015, 55).
Die genügende Entschuldigung des Betroffenen prüft das Gericht im Wege des Freibeweisverfahrens (OLG Oldenburg VRS 88, 295). Hat es Zweifel an der genügenden Entschuldigung, sind die Voraussetzungen für die Einspruchsverwerfung nicht gegeben (s. u.a. OLG Düsseldorf StraFo 1996, 156; 1997, 82; zu allem auch Göhler/Seitz/Bauer, § 74 Rn 31 ff. m.w.N.; zur genügenden Entschuldigung bei verspäteter Ablehnung eines Terminsverlegungsantrags OLG Düsseldorf VRS 88, 137). Das Gericht hat ggf. eine Aufklärungspflicht (s. IV. 2 b) bb). Ob der Betroffene entschuldigt ist, richtet sich i.Ü. nicht danach, was er selbst zur Entschuldigung vorgetragen hat, maßgebend ist, ob sich aus den Umständen, die dem Gericht zum Zeitpunkt der Entscheidung bekannt und im Wege des Freibeweises feststellbar waren, eine ausreichende Entschuldigung ergibt (KG VRS 129, 15 m.w.N.).
Das Gericht hat eine Aufklärungspflicht über die Gründe für das Ausbleiben des Betroffenen (vgl. u.a. KG StraFo 2015, 255; DAR 2011, 146; OLG Koblenz, Beschl. v. 23.10.2013 2 SsRs 90/13 [Vorlage eines Attestes]; OLG Schleswig zfs 2006, 53; OLG Zweibrücken zfs 2006, 233; LG Bielefeld VA 2016, 86); auch insoweit gelten die für das Ausbleiben des Angeklagten in der Hauptverhandlung des Strafverfahrens entwickelten Grundsätze entsprechend (vgl. dazu u.a. Burhoff ZAP F. 22, S. 940 ff.). Über die Gründe muss sich das Gericht vor der Verwerfung des Einspruchs erkundigen, und zwar auf der Geschäftsstelle (KG StraFo 2014, 467; 2014, 468; NZV 2009, 518; DAR 2012, 394; OLG Köln NStZ-RR 2003, 54; OLG Rostock VRS 126, 208), aber nicht auch noch bei der allgemeinen gerichtlichen Eingangsstelle (OLG Bamberg NStZ-RR 2009, 149; KG a.a.O.).
Der Betroffene ist nicht zur Glaubhaftmachung oder gar zum Nachweis der vorgebrachten Entschuldigungsgründe verpflichtet. Vielmehr muss der Amtsrichter konkreten Anhaltspunkten für mögliche Entschuldigungsgründe von Amts wegen nachgehen (KG StraFo 2015, 256; OLG Brandenburg, Beschl. v. 30.8.2016 (2 B) 53 Ss-OWi 491/16). Ein konkreter Anhaltspunkt für einen möglichen Entschuldigungsgrund liegt z.B. vor, wenn dem Betroffenen in einem eingereichten ärztlichen Attest Verhandlungsunfähigkeit bescheinigt wird (KG, Beschl. v. 16.11.2015 3 Ws (B) 541/15; OLG Brandenburg a.a.O.; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 19.1.2018 1 OWi 2 SsBs 84/17). Ein möglicher Entschuldigungsgrund ist auch die bevorstehende Niederkunft der Ehefrau (KG VA 2016, 14; zum Urlaub s. OLG Hamm, Beschl. v. 4.11.2015 1 RBs 162/15).
Erscheint der Verteidiger des persönlich geladenen Betroffenen im Termin, kann der Einspruch vom AG dennoch verworfen werden, da anders als im Fall des § 412 StPO der Betroffene, dessen Entbindungsantrag abgelehnt worden ist, sich nicht vertreten lassen kann (§ 73 Abs. 3 OWiG; Göhler/Seitz/Bauer, § 74 Rn 33). Der Verteidiger kann aber noch zu Beginn der Hauptverhandlung den Antrag stellen, den Betroffenen jetzt noch vom persönlichen Erscheinen zu entbinden, etwa weil die Ablehnung des Antrags im Vorverfahren unzulässig war (st. Rspr. aller OLG: KG NZV 2017, 290; zfs 2015, 468 m. Anm. Krenberger; VRR 2007, 116; 2014, 435; VA 2017, 50; OLG Bamberg StraFo 2014, 467; zfs 2015, 50; OLG Brandenburg zfs 2004, 235; OLG Celle StraFo 2009, 340; OLG Düsseldorf VRR 2012, 82 [Ls.]; OLG Hamm StraFo 2006, 425; OLG Jena, Beschl. v. 30.6.2009 1 Ss 78/09; OLG Naumburg zfs 2002, 251 [Vorlage an den BGH]; zfs 2002, 595; OLG Köln NStZ-RR 2002, 114; NStZ 2002, 268; OLG Zweibrücken zfs 2011, 708; Burhoff/Stephan/Niehaus, OWi, Rn 2422 m.w.N.; Burhoff, HV, Rn 1389 ff.; Burhoff VRR 2007, 250, 252; a.A. immer noch Göhler/Seitz/Bauer, § 73 Rn 4; offengelassen vom BGH NStZ 2004, 21 [Ls.], der die Vorlage des OLG Naumburg [a.a.O.] als unzulässig angesehen hat). Denn wenn kurzfristig eingegangene Entschuldigungen bei der Verwerfung zu berücksichtigen sind (vgl. dazu Göhler/Seitz/Bauer, § 74 Rn 31) und der Verteidiger bei unentschuldigtem Ausbleiben des Betroffenen auf dessen Anwesenheit verzichten können soll (so Göhler/Seitz/Bauer, § 73 Rn 4), besteht kein Grund, die für einen (kurzfristigen) Entbindungsantrag noch in der Hauptverhandlung vorgetragenen Umstände jetzt ebenfalls nicht noch im Rahmen der Entscheidung über einen Entbindungsantrag zu berücksichtigen. Dieser empfiehlt sich besonders, wenn der Betroffene ausbleibt und der Verteidiger damit rechnet, dass er sein Ausbleiben ggf. nicht genügend entschuldigen kann. Lehnt das Gericht den Antrag durch Beschluss ab, kann es anschließend aber sogleich den Einspruch verwerfen (OLG Hamm VRS 49, 207).
Der Verteidiger kann den Entbindungsantrag in der Hauptverhandlung aber nur stellen, wenn er eine über die Verteidigervollmacht hinausgehende (schriftliche) Vertretungsvollmacht hat (u.a. KG VRR 2014, 435; OLG Bamberg DAR 2011, 401; StraFo 2014, 467; OLG Köln NJW 2002, 3791; NStZ 2002, 268; OLG Hamm zfs 2004, 42; 2015, 52; OLG Zweibrücken zfs 2011, 708; weiterer Nachweise aus der Rspr. s. oben unter II. 4.). Allerdings umfasst die (allgemeine) Vollmacht, den Betroffenen vertreten zu dürfen, auch die Ermächtigung zur Stellung eines Entbindungsantrags (OLG Köln a.a.O.). Es reicht aus, wenn die Vollmacht in Form einer Telefaxkopie vorliegt (OLG Hamm a.a.O.). Die Erteilung der umfassenden Vertretungsvollmacht bedarf i.Ü. keiner besonderen Form und kann auch mündlich erteilt werden. In ihr kann nach der früheren Rspr. zugleich die Ermächtigung enthalten sein, eine etwa erforderliche Vollmachtsurkunde im Namen des Vollmachtgebers zu unterzeichnen (vgl. BayObLG NStZ 2002, 277; KG StRR 2014, 38; OLG Brandenburg, Beschl. v. 18.2.2015 (1 Z) 53 Ss-OWi 619/14 (351/14); OLG Celle, Beschl. v. 20.1.2014 322 SsRs 24/13; OLG Dresden StRR 2013, 261 m. Anm. Reichling). Die Erteilung der umfassenden Vertretungsvollmacht bedarf keiner besonderen Form und kann auch mündlich erteilt werden. Ist der (Wahl-)Verteidiger vertretungsberechtigt und erteilt er einem anderen Rechtsanwalt Untervollmacht, bedarf diese nicht der Schriftform (s. BayObLG VRS 81, 34 m.w.N.; für das Bußgeldverfahren OLG Celle VRR 2011, 116 m. Anm. Burhoff).
Hinweis:
Da an diesen Grundsätzen nach der Neuregelung in § 329 StPO für das strafrechtliche Berufungsverfahren nicht mehr festgehalten wird (vgl. Burhoff, HV, Rn 825), sollte der Verteidiger auch im Bußgeldverfahren nach Möglichkeit eine vom Betroffenen unterzeichnete Vertretungsvollmacht vorlegen (können).
Auf die Formulierung der Vertretungsvollmacht ist besondere Sorgfalt zu verwenden. Insbesondere ist darauf zu achten, dass ggf. nicht nur eine Vertretungsvollmacht für das Strafverfahren, sondern auch für das Bußgeldverfahren erteilt wird (vgl. dazu OLG Bamberg NJW 2007, 1477 [Ls.]; VRR 2011, 472; OLG Hamm StraFo 2006, 425; Burhoff, EV, Rn 4048 4070; Spitzer StV 2016, 48 f.). Nach Auffassung einiger OLG gilt eine ausdrücklich für das Strafverfahren erteilte Vollmacht auch nicht ohne Weiteres in einem nachfolgenden Bußgeldverfahren (OLG Brandenburg StRR 2009, 261, OLG Zweibrücken NStZ-RR 2016, 183).
Gegen das in Abwesenheit des Betroffenen ergangene Urteil ist Rechtsbeschwerde nach den allgemeinen Regeln der §§ 79 ff. OWiG zu erheben (vgl. dazu Burhoff/Junker, OWi, Rn 2929; Junker in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtlichen Rechtsmittel und Rechtsbehelfe, 2. Aufl. 2016, Teil A Rn 1053 ff.).
Ist ein Entbindungsantrag nicht oder nicht richtig beschieden, kann das ebenfalls mit der Rechtsbeschwerde gerügt werden. Entsprechendes gilt, wenn das AG den Einspruch des Betroffenen nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen hat, obwohl dieser genügend entschuldigt war.
Hinweis:
Der Verteidiger muss in diesen Fällen grundsätzlich immer die Verfahrensrüge erheben (vgl. BayObLG DAR 2000, 578; Göhler/Seitz/Bauer, § 80 Rn 16b). Bei den sog. geringen Geldbußen (vgl. § 80 Abs. 2 Nr. 1 OWiG), bei denen eine Zulassung der Rechtsbeschwerde wegen Verletzung des formellen Rechts nicht in Betracht kommt, ist eine Versagung/Verletzung des rechtlichen Gehörs nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG geltend zu machen.
Das bedeutet, dass nach §§ 79 Abs. 3, 80 Abs. 3 OWiG i.V.m. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO der Tatsachenvortrag so vollständig sein muss, dass das Rechtsbeschwerdegericht allein aufgrund der Begründungsschrift prüfen kann, ob ein Verfahrensfehler vorliegt, wenn das tatsächliche Vorbringen des Betroffenen zutrifft (vgl. dazu u.a. OLG Hamm StraFo 2004, 281 = VRS 107, 120 = zfs 2004, 584; Göhler/Seitz/Bauer, § 79 Rn 27d; Burhoff/Junker, OWi, Rn 3069 ff.). Es muss also in der Begründungsschrift durch entsprechenden Tatsachenvortrag schlüssig dargelegt werden, dass ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG vorliegt. Soll geltend gemacht werden, dass die Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen unzulässigerweise unterblieben ist, muss dargelegt werden, aus welchen Gründen das AG dem Entbindungsantrag nach § 73 Abs. 2 OWiG hätte stattgeben müssen.
Im Einzelnen muss der Verteidiger