aus StRR 2012, 4
(Ich bedanke mich bei der Schriftleitung von "StRR" für die freundliche Genehmigung, diesen Beitrag aus "StRR" auf meiner Homepage einstellen zu dürfen.)
von Rechtsanwalt Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Münster/Augsburg
Der EGMR hat in der Vergangenheit immer wieder die (zu) lange Dauer von (Straf)Verfahren gerügt (vgl. Z.B. StV 2009, 519) und eine innerstaatliche Entschädigungsregelung angemahnt. In diese Richtung geht auch die Rechtsprechung des BGH, der in seiner Grundsatzentscheidung zur sog. Vollstreckungslösung (vgl. BGHSt 52, 124 = StRR 2008, 107 = StV 2008, 133) im Grunde auch eine Art (Schadens)Wiedergutmachung für zu lange Strafverfahren eingeführt hat. Die damit zusammenhängenden Fragen sind vom Gesetzgeber im Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (vgl. BT-Drs. 17/3802) geregelt, das am 29. 9. 2011 vom Bundestag beschlossen worden ist. Der Bundesrat hat der Neuregelung am 14.10.2011 zugestimmt. Sie ist am 03.12.2011 in Kraft getreten (vgl. BGBL I. S. 2302). Die Auswirkungen auf das Straf- und Bußgeldverfahren sollen nachfolgend in einem Überblick vorgestellt werden.
Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 6 Abs. 1 MRK geben einen Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit. Kommt es zu Gefährdungen oder Verletzungen dieses Anspruchs, gab es dafür nach bislang nach geltendem Recht außer Dienstaufsichts- und Verfassungsbeschwerde keinen speziellen Rechtsbehelf. Die Rechtslage entsprach nicht (mehr) der Rechtsprechung des BVerfG und des EGMR. Das BVerfG hat in seiner Rechtsprechung Rechtsbehelfsklarheit gefordert, die nur dann gegeben ist, wenn ein Rechtsbehelf im geschriebenen Recht steht und in seinen Voraussetzungen für den Bürger klar erkennbar ist (BVerfG E 107, 395, 416 = NJW 2003, 1924). Diese Rechtslage genügte nach der Rechtsprechung des EGMR (vgl. NJW 2006, 2389) auch nicht den Anforderungen von Art. 6 Ab. 1 und Art. 13 MRK. Zudem hatte der EGMR bereits im Jahr 2000 (vgl. NJW 2001, 2694) darauf hingewiesen, dass bei überlanger Dauer gerichtlicher Verfahren neben dem in Art. 6 Abs. 1 MRK garantierten Recht auf ein faires und zügiges Verfahren auch das in Art. 13 MRK verbürgte Recht auf wirksame Beschwerde verletzt sein kann. Art. 13 MRK garantiere einen Rechtsbehelf bei einer innerstaatlichen Instanz, mit dem ein Betroffener sich gegen Gefährdungen und Verletzungen seines Rechts auf angemessene Verfahrensdauer wehren könne. Ein innerstaatlicher Rechtsbehelf sei aber nur dann wirksam, wenn er geeignet sei, entweder die befassten Gerichte zu einer schnelleren Entscheidungsfindung zu veranlassen (präventive Wirkung) oder dem Rechtsuchenden für die bereits entstandenen Verzögerungen eine angemessene Entschädigung insbesondere auch für immaterielle Nachteile zu gewähren (kompensatorische Wirkung) (vgl. BT-Drs. 17/3802, S. 15). In Betracht kam im deutschen Recht insoweit bislang nur der Amtshaftungsanspruch nach § 839 BGB i.V.m. Art 34 GG. Der erfasst zwar auch Fälle pflichtwidriger Verzögerung eines Rechtsstreits und gewährt insofern Schadensersatz. Er ist aber insbesondere auf schuldhafte Verzögerung beschränkt und erfasst keine Nichtvermögensschäden. U.a. aus dem Grund ist eine eigenständige Regelung als erforderlich angesehen worden.
Die Neuregelung gilt für Verfahrensarten. Sie ist deshalb in den §§ 198 ff. GVG angesiedelt worden. Allgemein hat sie zu folgenden Neuerungen geführt (vgl. BT-Drs. 17/3802 und auch noch die Beschlussempfehlung BT-Drs. 17/7217):
Nach § 198 Abs. 1 GVG wird entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet. Diese allgemeine Regelung gilt grds. so auch im Strafverfahren. Im Einzelnen gilt:
Unter Gerichtsverfahren ist nach § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG jedes Verfahren von der Einleitung bis zum rechtskräftigen Abschluss zu verstehen. Für Verfahren vor dem BVerfG gelten die Sonderregelungen in §§ 97a ff. BVerfG. Vorlageverfahren vor dem EGMR werden nicht miteingerechnet (BT-Drs. 17/3802, S. 22). Die Regelung der §§ 198, 199 GVG gilt über § 46 OWiG auch für das Bußgeldverfahren, soweit Staatsanwaltschaft und Ge richte tätig werden. Erfasst sind damit das Zwischenverfahren nach Einspruch gegen einen Bußgeldbescheid gem. § 69 Abs. 4 OWiG. Nicht unter die Regelung fällt hingegen das Verfahren vor der Verwaltungsbehörde, da dieses nicht von gleicher Eingriffsintensität ist wie das strafrechtliche Ermittlungsverfahren und nur nach Selbstunterwerfung des Betroffenen zu einer Ahndung führt (BT-Drs. 17, 3802, S. 23; zum Zwischenverfahren Gieg in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 3. Aufl., 2011, Rn. 2906 ff.).
Mit Einleitung in § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG sind alle Art und Formen gemeint, mit denen ein Verfahren in Gang gesetzt werden kann. Das ist im Strafverfahren nicht etwa erst die Anklageerhebung. Das folgt schon aus der Sonderregelung in § 199 Abs. 1 GVG und zudem aus der Rechtsprechung des EGMR zur Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK. Danach wird ein Strafverfahren eingeleitet und beginnt die Frist für die Berechnung der Verfahrensdauer schon zu laufen, wenn der Beschuldigte von der Einleitung des Ermittlungsverfahrens in Kenntnis gesetzt worden ist (vgl. die Nachw. bei Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 6. Aufl., 2010, Rn. 953f). Die Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drs. 17/3802, S. 24) setzt den Anfangspunkt für den Beschuldigten, sobald einer Person offiziell mitgeteilt wird, dass ihr die Begehung einer Zuwiderhandlung vorgeworfen wird oder ihre Rechtsposition durch Ermittlungsmaßnahmen ernsthaft beeinträchtigt ist davon.
Hinweis:
Unter Gerichtsverfahren ist im Strafverfahren nach der Modifizierung des § 198 Abs. 1 GVG durch die besondere Regelung für Strafverfahren in § 199 Abs. 1 GVG ggf. auch (nur) das Ermittlungsverfahren Verfahren auf Vorbereitung der öffentlichen Klage - zu verstehen.
Die Regelung gilt für alle Verfahrensbeteiligten. Gemeint sind damit die Personen und Stellen, die nach der StPO im Strafverfahren eine Prozessrolle ausüben, d.h. durch eigene Erklärungen im prozessualen Sinn gestaltend als Prozesssubjekt mitwirken müssen oder dürfen (vgl. § 198 Abs. 6 Nr. 2 GVG; zum Begriff des Verfahrensbeteiligten bei der Verständigungsregelung Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 5. Aufl., 2010, Rn. 48 m.w.N.; Burhoff, HV, 6. Aufl., 2010, Rn. 64d ff.). Verfahrensbeteiligter ist also der Beschuldigte/Angeklagte, aber auch der Nebenkläger. Nicht verfahrensbeteiligt sind Zeugen, Sachverständige und Verletzte. Nicht Verfahrensbeteiligter ist der Privatkläger (§ 199 Abs. 4 GVG).
Nach Art. 19 Abs. 4 GG, 20 Abs.3 GG und Art. 6 Abs. 1 MRK haben die Verfahrensbeteiligten einen Anspruch auf Entscheidung seines gerichtlichen Verfahrens in angemessener Zeit. Ist die angemessene Verfahrensdauer überschritten, kommt ein Entschädigungsanspruch in Betracht. Die Neuregelung hat abgesehen, generell fest zu legen, wann ein (Straf)Verfahren unverhältnismäßig lange dauert. Für die Frage der Angemessenheit der Verfahrensdauer ist in § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG vielmehr (nur) auf die Umstände des Einzelfalls abgestellt. In Abs. 1 Satz 2 sind dann beispielhaft und ohne abschließenden Charakter (vgl. BT-Drs. 17/3802, S. 18) Umstände, die für die Beurteilung der Angemessenheit besonders bedeutsam sind, aufgezählt. Dabei wird an die Maßstäbe angeknüpft, die sowohl das BVerfG als auch der EGMR im Zusammenhang mit der Frage überlanger gerichtlicher Verfahren entwickelt haben (vgl. dazu Burhoff, HV, Rn. 953h ff.). Maßgebend bei der Beurteilung der Verfahrensdauer ist danach unter dem Aspekt einer möglichen Mitverursachung zunächst die Frage, wie sich der Angeklagte selbst im Ausgangsverfahren verhalten hat. Außerdem sind insbesondere zu berücksichtigen Schwierigkeit, Umfang und Komplexität des Falles sowie die Bedeutung des Verfahrens, wobei nicht nur die Bedeutung für den eine Entschädigung geltend machenden Angeklagten aus der Sicht eines verständigen Angeklagten von Belang ist, sondern auch die Bedeutung für die Allgemeinheit.
Relevant ist ferner das Verhalten sonstiger Verfahrensbeteiligter sowie das Verhalten Dritter. Wird eine Verzögerung durch das Verhalten Dritter ausgelöst, kommt es darauf an, inwieweit dies dem Gericht zugerechnet werden kann. Ein Verzögerungen auslösendes Verhalten Dritter, auf das das Gericht keinen Einfluss hat, kann keine Unangemessenheit der Verfahrensdauer begründen (BT-Drs. 17/3802, S. 18). Die Frage kann bei der Einholung von Sachverständigengutachten von Bedeutung sein, wenn es darum geht, ob durch die Einholung von Sachverständigengutachten entstandene Verzögerungen dem Gericht zuzurechnen sind. Die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 17/3802, a.a.O.) geht davon aus, dass das aus einer Ex-post-Betrachtung durch das Entschädigungsgericht unter Berücksichtigung der richterlichen Unabhängigkeit anhand der Einzelfallumstände beurteilt werden müsse. Dabei könne eine Rolle spielen, inwieweit das Gericht Möglichkeiten, auf eine zügige Gutachtenerstattung hinzuwirken, ungenutzt gelassen habe Zum Tragen kommen könne auch, ob es im konkreten Fall Handlungsalternativen insbesondere hinsichtlich Gutachterauswahl und -wechsel gegeben habe. Insoweit wird man m.E. die Rechtsprechung zu § 121 StPO entsprechend anwenden können (vgl. dazu Burhoff, EV, Rn. 939 m.w.N.).
Für die Frage, ob die Verfahrensdauer angemessen ist, kommt es nicht darauf an, ob sich der zuständige Spruchkörper pflichtwidrig verhalten hat (BT-Drs. 17/3802, S. 19). Der Staat kann sich aber zur Rechtfertigung der überlangen Dauer eines Verfahrens nicht auf Umstände innerhalb des staatlichen Verantwortungsbereichs berufen. Viel- mehr muss er alle notwendigen Maßnahmen treffen, damit Gerichtsverfahren innerhalb angemessener Frist beendet werden. Deshalb kann bei der Frage der angemessenen Verfahrensdauer nicht auf die chronische Überlastung eines Gerichts, länger bestehende Rückstände oder eine allgemein angespannte Personalsituation abgestellt werden (BT-Drs. 17/3802, a.a.O.). Auch insoweit wird man die im Haftrecht, insbesondere bei der Haftprüfung durch das OLG, geltenden Grundsätze, entsprechend anwenden können (vgl. auch dazu Burhoff, EV, Rn. 941 ff. m.w.N.).
Eine wesentliche Neuerung ist, dass nach § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG der Entschädigungsanspruch davon abhängt, dass im Verfahren die sog. Verzögerungsrüge erhoben worden ist. Durch die Verzögerungsrüge wird allerdings kein eigenständiges (Zwischen)Verfahren eingeleitet. Auch muss die Rüge nicht förmlich beschieden werden (BT-Drs. 17/3802, S. 20).
Hinweis:
Die Verzögerungsrüge ist zwingende Voraussetzung für die spätere Gewährung von Entschädigung. Fehlt eine Verzögerungsrüge ganz, sind Entschädigungsansprüche für den Verfahrensbeteiligten ausgeschlossen, der die Rügeobliegenheit verletzt hat. Die Verspätung der Rüge kann Auswirkungen auf die Höhe der Entschädigung haben. Beides wird im Entschädigungsverfahren von Amts berücksichtigt.
Sinn und Zweck der Verzögerungsrüge ist es zunächst, dass dem bearbeitenden Richter soweit erforderlich die Möglichkeit zu einer beschleunigten Verfahrensförderung eröffnet und insofern eine Vorwarnung gegeben werden soll. Zum zweiten bewirkt die Obliegenheit der Verzögerungsrüge im Ausgangsverfahren gegenüber dem Betroffenen einen Ausschluss der Möglichkeit zum Dulde und Liquidiere (BT-Drs., a.a.O.). Das Hinnehmen der Verfahrensverzögerung im Hinblick darauf, dass dafür später dann Entschädigung gewährt werden soll, ist also ausgeschlossen.
Besondere Formvorschriften sind in der Neuregelung nicht vorgesehen. Im Zweifel wird die Verzögerungsrüge aber schriftlich erhoben. Wegen ihrer Warnfunktion ist sie bei dem Gericht zu erheben, bei dem das Verfahren anhängig ist. Im vorbereitenden Verfahren ist die Verzögerungsrüge nach § 199 Abs. 2 GVG bei der StA in den Fällen des § 386 Abs. 2 AO an die Finanzbehörde zu richten. Sie sollte, damit eindeutig ist, worum es sich handelt und die Warnfunktion nach außen zu Tage tritt, auch als solche bezeichnet werden. Der Verteidiger kann für den Beschuldigten/Angeklagten die Verzögerungsrüge erheben.
Der Zeitpunkt für die Verzögerungsrüge ist in § 198 Abs. 3 Satz 2 GVG geregelt. Sie kann frühestens erhoben werden, wenn der Betroffene erstmals Anhaltspunkte dafür hat, dass das Verfahren keinen angemessen zügigen Fortgang nimmt. Maßgeblich ist deshalb die Besorgnis der Gefährdung, dass das Verfahren nicht in angemessener Zeit abgeschlossen werden kann, d. h. die konkrete Möglichkeit einer Verzögerung (BT-Drs. 17/3802 S. 20 f.). Ein bloß allgemeine Gefahr für eine Verfahrensverzögerung, die grds. jedem Verfahren immanent ist, reicht nicht aus. Andererseits kann die Rüge aber auch nicht erst dann erhoben werden, wenn sich im Verfahren die Möglichkeit der Verzögerung zur Gewissheit verdichtet hat und feststeht, dass ein Verfahrensabschluss in angemessener Zeit nicht mehr möglich ist. Eine solche Verzögerungsrüge käme zu spät und könnte ihre Warnfunktion nicht voll entfalten (BT-Drs. 17/3802, S. 20).
Hinweis
Eine vor diesem Zeitpunkt erhobene Rüge geht grds. ins Leere (vgl. aber § 198 Abs. 4 Satz 3 Hs. 2 GVG). Wird die Rüge nach diesem Zeitpunkt eingelegt, ist dies grds. unschädlich, kann aber, wenn sich das Verhalten des Betroffenen bei Würdigung der Gesamtumstände eher als ein Dulde und Liquidiere darstellt, vom Entschädigungsgericht sowohl bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer gem. § 198 Abs. 1 GVG berücksichtiget werden als auch bei der Frage, ob Wiedergutmachung auf andere Weise durch Feststellung der Überlänge gem. § 198 Abs. 4 ausreicht.
Die inhaltlichen Anforderungen an eine Substantiierung der Verzögerungsrüge sind in § 198 Abs. 3 Satz 3 GVG geregelt (vgl. dazu BT-Drs. 17/3802, S. 21). Diese Anforderungen orientieren sich daran, dass die Rüge keinen eigenständigen Rechtsbehelf darstellt, sondern nur eine Obliegenheit als Voraussetzung für den Entschädigungsanspruch aus § 198 Abs. 1 GVG ist. Der Betroffene muss deshalb zwar zum Ausdruck bringen, dass er mit der Verfahrensdauer nicht einverstanden ist. Er muss aber nicht begründen, aus welchen Umständen sich die Unangemessenheit der Verfahrensdauer ergibt und welche Alternativen zur Verfahrensgestaltung in Betracht kommen. Die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 17/3802, a.a.O.) verweist dazu auf den Widerspruch im Verwaltungsverfahren, an dessen Inhalt ebenfalls keine hohen Anforderungen gestellt werden. Ausreichend ist es also grds., wenn sich aus der Verzögerungsrüge ergibt, dass der Beschuldigte/Angeklagte mit der Verfahrensdauer nicht einverstanden ist. Übersehen werden darf aber nicht, dass die Verzögerungsrüge auch eine präventive Warnfunktion gegenüber dem Gericht hat und auch zu einer Beschleunigung des Verfahrens führen soll. Deshalb muss der Beschuldigte/Angeklagte neben dem Verlangen nach Beschleunigung auf solche Umstände hinweisen, die für das Maß der gebotenen Zügigkeit wichtig, aber noch nicht in das Verfahren eingeführt sind. Dies können beispielsweise besondere Nachteile wie drohender Wohnungs-/Arbeitsplatzverlust oder bevorstehende Insolvenz sein. Diese Nachteile müssen im Ausgangsverfahren nicht nachgewiesen werden. Es reicht aus, wenn die Rüge die drohenden Nachteile/Umstände benennt. Auch eine Glaubhaftmachung dieser Tatsachen ist unter dem Blickwinkel der Warnfunktion im Ausgangsverfahren nicht erforderlich (BT-Drs. 17/3802, S. 21; zur Beweislast und zu den Folgen im Entschädigungsprozess s. unten).
Hinweis:
In § 198 Abs. 4 Satz 4 GVG ist bestimmt, dass Umstände, die noch nicht in das Verfahren eingeführt sind und auch nicht im Rahmen der Begründung benannt werden, vom Entschädigungsgericht im Entschädigungsverfahren unberücksichtigt bleiben. Konnte beispielsweise das Gericht von einem drohenden Arbeitsplatz-/Wohnungsverlust keine Kenntnis haben, so kann das Entschädigungsgericht die Verfahrensdauer anders als bei Berücksichtigung dieser Tatsache aufgrund Hinweises in der Verzögerungsrüge noch als angemessen einstufen (BT-Drs. 17/3802, a.a.O.). Das erfordert vom Verteidiger, dass solche Umstände in der Verzögerungsrüge nicht übersehen werden dürfen.
Grds. muss die Verzögerungsrüge, um die Warnfunktion gegenüber dem Gericht zu erfüllen, nur einmal erhoben werden (BT-Drs. 17/3802, S. 21), auch wenn später weitere Verzögerungen eintreten (BT-Drs. 17/3802, S. 21). Eine mehrfache Erhebung der Verzögerungsrüge gegenüber demselben Gericht ist aber nicht ausgeschlossen. Eine Verzögerungsrüge kann allerdings erst nach sechs Monaten erneut erhoben werden. Die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 17/3802, S. 21) geht allerdings davon aus, dass in besonders gelagerten Fällen eine Fristverkürzung in Betracht kommen kann. Das wird z.B. dann der Fall sein, wenn Umstände vor Ablauf der Sechs-Monats-Frist eintreten, die auf die Entschädigung Einfluss haben können und dem Gericht noch nicht bekannt sind (vgl. vorstehend d). Auch ein Wechsel auf der Richterbank nach einer Aussetzung der Hauptverhandlung wird zu einer Fristverkürzung führen. Das gebietet schon die Warnfunktion. Auch nach einer Zurückverweisung des Verfahrens nach einer Revision an einen anderen Spruchkörper des Ausgangsgerichts muss die Verzögerungsrüge wiederholt werden. Und schließlich: Verzögert sich das Verfahren nach einer Rüge gegenüber der Staatsanwaltschaft bei Gericht weiter, so ist die Verzögerungsrüge nach § 199 Abs. 2 Hs. 2 gegenüber dem Gericht erneut zu erheben.
Hinweis:
Hat sich angesichts des Verfahrensgangs wie etwa bei einem Richterwechsel eine weitere Rüge an das Gericht aufgedrängt, kann deren Fehlen ein Abweichen von den Pauschalsätzen nach § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG rechtfertigen (BT-Drs. 17/3802, a.a.O.) .
Die Höhe des späteren Entschädigungsanspruch ist allgemein geregelt in § 198 Abs. 1 und 2 GVG. Danach wird derjenige, der infolge der unangemessen langen Dauer des Verfahrens einen Nachteil erlitten hat, angemessen entschädigt. Der Regierungsentwurf hatte in § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG noch eine einheitliche Anspruchsgrundlage vorgesehen, die für materielle Nachteile vollen Ersatz nach den Grundsätzen der §§ 249 ff. BGB vorsah und für immaterielle Nachteile einen angemessenen Ausgleich, für den in § 198 Abs. 3 Satz 3 GVG eine Pauschale normiert wurde. Das GVG spricht jetzt nur noch von einer angemessenen Entschädigung, was zur Folge hat, dass nach den allgemeinen Regeln des Schadensersatzrecht entgangener Gewinn nicht zu ersetzen ist (zur Begründung dieser Einschränkung s. BT-Drs. 17/3208, S. 34 und BT-Drs. 17/7217, S. 39). Bei der Bemessung der angemessenen Entschädigung kann neben der Höhe des entstandenen Schaden im Zweifel auch berücksichtigt werden, wie schwerwiegend die Verzögerung war und ob die Schäden unmittelbar oder lediglich mittelbar entstanden sind (vgl. BT-Drs. 17/3802, S. 34).
Hinweis:
Voller Schadensersatz nach den Grundsätzen der schuldhaften Amtspflichtverletzung ist aber neben der Regelung in § 198 GVG nicht ausgeschlossen.
In § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG wird vermutet, dass im Fall einer unangemessenen Verfahrensdauer von einem Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, ausgegangen werden muss. Die Entschädigung beträgt in diesem Fall 1.200 für jedes Jahr der Verzögerung. Angeknüpft worden ist hier an die Rechtsprechung des EGMR. Für Zeiträume unter einem Jahr erfolgt eine zeitanteilige Berechnung (vgl. BT-Drs. 17/3802, S. 20).
Hinweis:
Diese Vermutung ist widerlegbar (vgl. BT-Drs. 17/3802, S. 19).
§ 198 Abs. 2 Satz 2 StPO bestimmt, dass eine Entschädigung für immaterielle Nachteile ausgeschlossen ist, soweit nach den Einzelfallumständen eine Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend ist. Diese Regelung ist in § 198 Abs. 4 allgemein und in § 199 Abs. 3 GVG für das Strafverfahren besonders modifiziert.
Hinweis:
Der Anspruch auf Ersatz eines Vermögensnachteils wird von dieser Ausschlussregelung nicht berührt. Für den Anspruch eines Beschuldigten eines Strafverfahrens auf Entschädigung wegen Vermögensnachteilen sieht § 199 GVG keine Besonderheiten vor. Insoweit gilt § 198 GVG ohne Modifikationen; insbesondere ist hier auch eine Verzögerungsrüge erforderlich.
Ausdrücklich benannt sind zwei Wiedergutmachungsformen: Zum einen regelt § 198 Abs. 4 GVG in Anlehnung an die Rechtsprechung des EGMR - die Möglichkeit einer Feststellung der überlangen Verfahrensdauer durch das Entschädigungsgericht bei gleichzeitiger Freistellung des Klägers von den Kosten des Entschädigungsrechtsstreits. Zum anderen knüpft § 199 Abs. 3 GVG an die im Strafverfahren von der Rechtsprechung praktizierte Kompensation an (grundlegend BGHSt 52, 124 = StRR 2008, 107 = StV 2008, 133 ff.; vgl. auch Burhoff, HV, Rn. 953a ff. m.w.N.). Danach wird eine der Justiz zu zurechnende Verfahrensverzögerung durch Berücksichtigung zugunsten des Beschuldigten durch die sog. Strafvollstreckungslösung ausreichend kompensiert (vgl. § 199 Abs. 3 Satz 1 GVG). Daneben ist dann ein bestehender Anspruch nach § 198 GVG wegen immaterieller Nachteile ausgeschlossen, was die Bedeutung der Neuregelung für das Strafverfahren ein wenig reduziert. Größerer Bedeutung könnte der Entschädigungslösung allerdings in Jugendstrafverfahren zukommen, sofern der BGH an seiner restriktiven Rechtsprechung zur Ablehnung eines bezifferten Abschlags von der erzieherisch bestimmten Jugendstrafe (vgl. zuletzt BGH StV 2009, 93 m.w.N.) festhält, die der Große Senat in BGHSt 52, 124 auch für das Vollstreckungsmodell nicht ausgeschlossen hat (Burhoff, HV, a.a.O.; vgl. dazu auch Eisenberg, JGG, 14. Aufl., § 18 Rn. 15e).
Hinweis:
Fraglich ist auch, wie die Vollstreckungslösung des BGH im vorbereitenden Verfahren Anwendung finden soll. Die Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drs. 17/3802, S. 24) geht insoweit davon aus, dass auch die Staatsanwaltschaft eine Kompensation feststellen kann. Wie das allerdings in der Praxis geschehen soll, bleibt im Dunklen.
Ein Anspruch aus § 198 GVG auf Entschädigung wegen immaterieller Nachteile kommt aber gleichwohl in bestimmten Konstellationen auch für den Beschuldigten eines Strafverfahrens in Betracht. Dies betrifft insbesondere alle Fälle, in denen die Verfahrensverzögerung unmittelbar durch das Strafgericht oder die Staatsanwaltschaft nicht kompensiert werden kann. Das wichtigste Beispiel dafür sind die Fälle des Freispruchs und der Verhängung einer Jugendstrafe, die aufgrund des Erziehungsgedankens nicht vollstreckt wird. Zu denken ist außerdem an Einstellungen des Verfahrens, die nicht aufgrund einer eingetretenen Verfahrensverzögerung, sondern schon aus anderen Gründen erfolgen.
Hinweis:
Soweit danach Entschädigungsansprüche aus § 198 GVG wegen immaterieller Nachteile infolge eines überlangen Strafverfahrens möglich sind, gelten insoweit auch die Anforderungen des § 198 Abs. 3 GVG. Entschädigung kann folglich in diesen Konstellationen auch nur beansprucht werden, wenn der Beschuldigte im Strafverfahren eine Verzögerungsrüge gemäß § 198 Abs. 3 GVG erhoben hat (BT-Drs. 17/3802, S. 24).
Die Entscheidung des Strafgerichts hat eine sog Feststellungswirkung. Das Entschädigungsgericht ist nach § 199 Abs. 3 Satz 2 GVG, wenn der Beschuldigte später Entschädigung begehrt, hinsichtlich der Beurteilung der Verfahrensdauer an die Entscheidung des Strafgerichts gebunden. Damit sollen widersprüchliche Beurteilungen der Strafgerichte und der Entschädigungsgerichte zu ein- und derselben Frage vermieden werden. Dies gilt auch, sofern das Strafgericht im Verfahren gegen den Beschuldigten die Verfahrensdauer im Ergebnis als angemessen eingestuft und daher keine Kompensation vorgenommen hat (BT-Drs. 17/3802, S. 24).
Seine Entschädigungsforderung muss der Betroffene/Angeklagte ggf. klageweise durchsetzen. Insoweit gilt:
Hinweis:
Es handelt sich insoweit um eine absolute Ausschlussfrist, die unabhängig von der Kenntnis des Beschuldigten/Angeklagten vom Fristbeginn beginnt (vgl. aber BGHZ 43, 235, 237).
5. Inkrafttreten/Übergangsregelung.
Hinweis:
Das Gesetz ist nach Art. 23 am Tag nach der Verkündung in Kraft getreten. Verkündet worden ist es im BGBl. am 2. 12. 2011 (vgl. BGBL. I, S. 2302) und somit am 3. 12. 2011in Kraft getreten.
Art 22 des Gesetzes sieht folgende Übergangsregelung vor:
Auf folgende gebührenrechtlichen Auswirkungen ist hinzuweisen: Für die Tätigkeiten, die der Rechtsanwalt im Straf- oder Bußgeldverfahren im Hinblick auf das überlange Verfahren erbringt, sind besondere Gebühren nicht vorgesehen. Das bedeutet, dass die Tätigkeiten, i.d.R. dürfte es sich um die Verzögerungsrüge nach § 198 Abs. 3 GVG handeln. mit der jeweiligen Verfahrensgebühr abgegolten werden; es handelt sich um Betreiben des Geschäfts (zum Abgeltungsbereich der Verfahrensgebühr allgemein Burhoff in: Burhoff (Hrsg.), RVG Straf- und Bußgeldsachen, 3. Aufl. 2011, Vorbem. 4 VV Rn. 40). Im Entschädigungsprozess gelten die allgemeinen Regeln. D.h., dass die Abrechnung nach Teil 3 VV RVG erfolgt. Abgerechnet wird nach Teil 3 Abschnitt 3 Unterabschnitt 2 VV RVG, also nach den besonderen erstinstanzlichen Verfahren. Damit hat der Gesetzgeber der erstinstanzlichen Zuständigkeit der Verfahren beim OLG oder beim BGH Rechnung getragen. Nach § 3 Abs. 1 Satz 3 RVG werden die Gebühren nach dem Gegenstandswert berechnet.
zurück zu Veröffentlichungen - Überblick
Die Nutzung von Burhoff-Online ist kostenlos. Der Betrieb der Homepage verursacht aber für Wartungs-, Verbesserungsarbeiten und Speicherplatz laufende Kosten.
Wenn Sie daher Burhoff-Online freundlicherweise durch einen kleinen Obolus unterstützen wollen, haben Sie hier eine "Spendenmöglichkeit".