(Ich bedanke mich bei der Schriftleitung von "StRR" für die freundliche Genehmigung, diesen Beitrag aus "StRR" auf meiner Homepage einstellen zu dürfen.)
von Rechtsanwalt Detlef Burhoff, Richter am OLG a.D., Münster/Augsburg
Untersuchungshaftmandate sind für den Verteidiger schwierige Mandate. Gerade in diesem bereich muss er aber vor allem die aktuelle(re) Rechtsprechung kennen. Der nachfolgende Beitrag will daher die neuere Rechtsprechung zur Untersuchungshaft zusammenstellen. Sie beschränkt sich wegen der Vielzahl der Entscheidungen der (Ober)Gerichte zu Untersuchungshaftfragen auf die für die Praxis bedeutsamsten Fragen. Stand der Zusammenstellung ist Januar 2009.
I. Akteneinsicht und Untersuchungshaft
II. Allgemeine Voraussetzungen der U-Haft
a) Flucht/Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 1 Nr. 2 StPO)
b) Wiederholungsgefahr (§ 112 a Abs. 1 StPO)
III. Beschleunigungsgrundsatz/Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
IV. Besondere Haftprüfung durch das Oberlandesgericht (§§ 121, 122 StPO)
2. Beginn der Sechs-Monats-Frist
3. Dieselbe Tat im Sinn des § 121 StPO
4. Wichtiger Grund für Fortdauer der U-Haft
1. Außervollzugsetzung des Haftbefehls
2. Invollzugsetzung des Haftbefehls
VI. Einstweilige Unterbringung
In der Praxis spielen die Auswirkungen einer ggf. nicht oder nicht ausreichend gewährten Akteneinsicht auf die Untersuchungshaft eine erhebliche Rolle (vgl. dazu Herrmann, Untersuchungshaft, Rn. 360 ff. m.w.N. aus der Rspr.). Wird nicht oder ausreichend Akteneinsicht gewährt, ist der Haftbefehl ggf. aufzuheben (Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 4. Aufl., 2006, Rn. 99 f.). So geht z.B. auch das LG Leipzig (StRR 2008, 387) davon aus, dass dann, wenn die StA dem Gericht und dem Verteidiger wichtige Teile der Ermittlungsakte vorenthält, dies einen tiefgreifenden Verstoß gegen staatsanwaltliche Verfahrenspflichten und somit zugleich einen schwerwiegenden Verstoß gegen den Anspruch des Angeklagten auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren bedeutet. Es kann dann nicht ausgeschlossen werden, dass ein Angeklagter bei Kenntnis nachträglich von der StA vorgelegter Ermittlungsergebnisse seine Verteidigung anders gestaltet hätte. Ein ergangener Haftbefehl ist in so einem Fall grundsätzlich aufzuheben (vgl. dazu auch Stephan StRR 2008, 387 in der Anm. zu LG Leipzig, a.a.O.). Das OLG Hamm hat allerdings vor kurzem darauf hingewiesne, dass auch unter Berücksichtigung der Art. 5 und 6 EMRK das OLG bei der Prüfung (jedenfalls) der besonderen Haftvoraussetzung des § 121 Abs. 1 StPO Aktenteile, in die die Verteidigung bisher noch keine Akteneinsicht gehabt hat, jedenfalls dann verwerten darf, wenn der nicht auf freiem Fuße befindliche Beschuldigte keinen Rechtsbehelf nach § 147 Abs. 5 S. 2 StPO gegen die Versagung der Akteneinsicht ergriffen hat (OLG Hamm wistra 2008, 195; s. aber a.A. OLG Hamm NStZ 2003, 386, 388).
Praxistipp:
Nach Auffassung des EGMR gebietet der Grundsatz des fairen Verfahrens den Beschuldigten über die Gründe der Inhaftierung umfassend und sachgerecht zu informieren. Nur so kann er sich angemessen verteidigen (EGMR StRR 2008, 98 = StV 2008, 475).
Der für den Erlass eines Haftbefehl nach §§ 112 Abs. 1 Satz 1 StPO erforderliche dringende Tatverdacht ist gegeben, wenn die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass der Beschuldigte Täter oder Teilnehmer einer Straftat ist (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 51 Aufl., 2008, § 112 Rn. 5 m.w.N.; s. auch Burhoff, a.a.O., Rn. 924 ff ). Besteht allerdings ein Verfahrenshindernis ist das zu beachten. So ist ein Haftbefehl z.B. dann rechtswidrig, wenn das Verbot der Doppelbestrafung nicht beachtet worden ist (vgl. dazu OLG Stuttgart StV 2008, 402).
Flucht i.S. des § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO wird in der Rechtsprechung verneint, wenn sich der Beschuldigte ordnungsgemäß beim Einwohnermeldeamt abgemeldet hat. Das spreche eher für eine Verlagerung seines Lebensmittelpunktes aus verfahrensunabhängigen Gründen (OLG Jena, Beschl. v. 4. 9. 2008 - 1 Ws 381108).
Fluchtgefahr ist nur dann zu bejahen, wenn die gebotene Abwägung ergibt, dass eine höhere Wahrscheinlichkeit für die Annahme spricht, der Beschuldigte werden sich dem Verfahren entziehen, als für die Erwartung, er werde sich der Verfahren stellen (Burhoff, a.a.O., Rn. 1699 ff. m.w.N.; Herrmann, a.a.O.; Rn. 683 ff.). Der Haftgrund der Fluchtgefahr kann auch auf Angaben einer V-Person gestützt werden; deren Angaben müssen jedoch einer kritischen Beurteilung standhalten (KG StRR 2007, 197).
Praxistipp:
Ob Fluchtgefahr vorliegt oder nicht, erfordert die Berücksichtigung und Abwägung aller Umstände des Falles (OLG Hamm, Beschl. v. 23. 6. 2008, 2 Ws 170/08). Das wird in der Praxis häufig übersehen, wenn meist z.B. nur auf die hohe Straferwartung abgestellt wird.
Zur Fluchtgefahr i.S. des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO ist auf folgende Entscheidungen hinzuweisen:
Umstritten ist, welche Taten zur Begründung des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr herangezogen werden dürfen. Nach Auffassung des OLG Frankfurt müssen die Taten, deren wiederholter Begehung der Beschuldigte zur Erfüllung der Voraussetzungen des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr dringend verdächtig sein muss, Gegenstand desselben Ermittlungsverfahrens sein. Vorverurteilungen des Beschuldigten dürfen daher zur Begründung der tatbestandlichen Voraussetzungen der Wiederholungsgefahr nicht herangezogen werden (zuletzt OLG Frankfurt StRR 2008, 395 m.w.N.). Die wohl h.M. der Obergerichte ist insoweit anderer Auffassung (vgl. (vgl. OLG Karlsruhe NJW 2006, 2424 (Ls.) = NStZ-RR 2006, 210; OLG Hamm StV 1997, 210; OLG Stuttgart NStZ 1988, 326; OLG Hamburg NJW 1980, 2367; zu allem auch Herrmann, a.a.O., Rn. 817).
Die Wiederholungsgefahr als Haftgrund muss durch bestimmte Tatsachen begründet werden, die eine so starke innere Neigung des Angeklagten zu einschlägigen Taten erkennen lassen, dass die Besorgnis begründet ist, er werde die Serie gleichartiger Taten noch vor einer Verurteilung wegen der Anlasstat fortsetzen (OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 08.08.2007, 1 Ws 89/07). Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr i.S. von § 112 a StPO setzt voraus, dass jede einzelne Tat ihrem konkreten Erscheinungsbild nach die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigt (OLG Hamm, Beschl. v. 15. 8. 2006, 3 Ws 390/06).
Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der besonderen Form des haftrechtlichen Beschleunigungsgrundsatz (Art. 5 Abs. 3 Satz 2 MRK) spielt seit einiger Zeit in der Rechtsprechung des BVerfG eine erhebliche Rolle (vgl. z.B. BVerfG NJW 2006, 668; 2006, 672; s. dazu auch Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 4. Aufl., 2006, Rn. 1712a; Herrmann, Untersuchungshaft, Rn. 881 ff. sowie Pieroth/Hartmann StV 2008, 276). Das BVerfG weist auf diesen und seine Bedeutung immer wieder hin (vgl. u.a. BVerfG StRR 2008, 355 = StV 2008, 421 m.w.N.).
Es steht auch jede Haftsache unter dem Gebot der besonderen Beschleunigung des Verfahrens. Das gilt auch dann, wenn der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt ist bzw. nicht vollzogen wird bzw. Überhaft notiert ist (zuletzt u.a. BVerfG, a.a.O.; OLG Naumburg, Beschluss vom 18.07.2008, 1 Ws 420/08 [5 Monate], LNR 2008, 20625). Zu achten ist darauf, dass die U-Haft nur weitervollzogen werden darf, wegen derjenigen Taten, die im Haftbefehl bezeichnet sind (vgl. BVerfG NStZ 2002, 100). Es ist nicht zulässig, wegen weiterer Ermittlungen in Bezug auf andere Taten und/oder andere Täter eine andere Haftsache zu verzögern (OLG Oldenburg NdsRpfl. 2002, 334; Beschl. v. 8. 8. 2008, 1 Ws 487/08). Schließlich nimmt die Bedeutung des Beschleunigungsgrundsatzes mit zunehmender Verfahrensdauer zu (vgl. BVerfG StRR 2007, 196 = StV 2007, 644 [für neunmonatige U-Haft]).
Praxistipp:
Darauf muss auch die Staatsanwaltschaft achten und aktiv auf einen Abschluss der Ermittlungen drängen (OLG Oldenburg NJW 2006, 2646).
Die Obergerichte haben in der letzten Zeit häufiger die Verletzung des Beschleunigungsgebots festgestellt (vgl. auch unten IV.). So ist es z.B. als Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes angesehen worden, wenn nicht -sofern nicht besondere Umstände vorliegen - innerhalb von wenigen Monaten nach Eröffnung des Hauptverfahrens mit der Hauptverhandlung begonnen wird (vgl. dazu BVerfG StraFo 2007, 152 = StV 2007, 366 = StRR 2007, 36; StRR 2008, 355 = StV 2008, 421 und OLG Düsseldorf, Beschl. v. 2. 7. 2008, 1 Ws 200/08, [jeweils für 3 Monate]; OLG Hamm, Beschl. v. 14. 6. 2006, 4 Ws 413/06 (4 OBL 83/06); OLG Köln, Beschl. v. 18. 3. 2008, 43 HEs 8/08, LNR 2008, 13044; OLG Naumburg, Beschl, v. 18. 7. 2008, 1 Ws 420/08 [jeweils für 5 Monate], StRR 2008, 476). Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft gewinnt der Freiheitsanspruch des Beschuldigten stetig an Gewicht gewinnt (OLG Celle, Beschl. v. 20. 2. 2008, 2 Ws 77/08; Beschl. v. 7. 1. 2008, 2 Ws 403/07; vgl. auch BVerfG StRR 2008, 155 = StV 2008, 198; OLG Hamm StV 2006, 191, 193). Das (BVerfG a. a. O.) geht daher davon aus, dass der Vollzug von Untersuchungshaft von mehr als einem Jahr vor Erlass eines Urteils nur in besonderen Ausnahmefällen seine Rechtfertigung finden kann. Das setzt aber jedenfalls voraus, dass das Verfahren mit der gebotenen Beschleunigung betrieben worden ist und dass alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen durch die Justizbehörden ergriffen worden sind, um eine schnelle Erledigung sicherzustellen (vgl. BVerfG, a.a.O.; OLG Celle, a.a.O.).
Das Beschleunigungsgebot gilt während des gesamten Verfahrens (OLG Hamm StV 2007, 363 = StRR 2007, 238), also auch noch nach Erlass eines Urteils (vgl. BVerfG NJW 2006, 1336 m.w.N.). Kommt es deshalb nach Verkündung des mit einer Revision angefochtenen Urteils zu schwerwiegenden Verzögerungen, die im gerichtlichen Bereich ihre Ursache haben und insgesamt dazu führen, dass die Akten mehrere Monate nach der Urteilsverkündung noch nicht dem Revisionsgericht zugeleitet wurden, so ist der Haftbefehl wegen Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot in Haftsachen aufzuheben (OLG Oldenburg, Beschl. v. 1. 2. 2008, 1 Ws 62/08 für 8 Monate; OLG Saarbrücken StV 2007, 365 für 7 Monate). Eine Urteilsaufhebung in der Revisionsinstanz wegen eines Verfahrensfehlers mit Zurückverweisung der Sache an das Tatgericht steht der Fortdauer der Untersuchungshaft jedenfalls dann entgegen, wenn die Haft schon mehrere Jahre andauert und es nach der Entscheidung des Revisionsgerichts zu weiteren der Justiz zuzurechnenden Verzögerungen kommt (OLG Koblenz StV 2006, 645). Eine solche Verzögerung liegt vor, wenn die zuständige Strafkammer zwar formell ordnungsgemäß besetzt ist, ihr infolge Quotelung die Arbeitskraft der Richter aber nur zu einem geringen Bruchteil zur Verfügung steht und sie deshalb über längere Zeit zu einer dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen Rechnung tragenden Verfahrensförderung nicht in der Lage gewesen ist (OLG Koblenz, a.a.O.).
Praxistipp:
Nach Auffassung des KG gibt es aber keinen Rechtssatz, dass die Untersuchungshaft nicht bis zur Höhe der erkannten Freiheitsstrafe vollzogen werden darf, wenn das notwendig ist, um die drohende Vollstreckung der Strafe zu sichern (KG NStZ 2008, 157). Das ist m.E. zweifelhaft.
Der Haftbefehl und die ihn später bestätigenden gerichtlichen Entscheidungen, auch die des Haftprüfungsverfahrens nach §§ 121, 122 StPO, dürfen nur auf solche Tatsachen und Beweismittel gestützt werden dürfen, die dem Beschuldigten vorher bekannt waren und zu denen er sich äußern konnte. Das führt im Haftprüfungsverfahren dazu, dass diesem nur der Haftbefehl zugrunde gelegt werden darf, der dem Beschuldigten ordnungsgemäß im Sinn des § 115 StPO bekannt gemacht worden ist (OLG Hamm, Beschl. v. 30. 10. 2007, 2 Ws 342/07; OLG Oldenburg, Nds.Rpfl. 2006, 329; OLG Stuttgart StraFo 2005, 377 = NStZ 2006, 588). Bei der Erweiterung eines Haftbefehls reicht die bloße Übersendung des Erweiterungsbeschlusses nicht aus; der Haftbefehl muss vielmehr verkündet worden sein (OLG Oldenburg, a.a.O.). Nach Auffassung des OLG Köln ist die Verkündung des Haftbefehls durch einen von der Kammer beauftragten Richter möglich (OLG Köln NStZ 2008, 175 [Ls.]).
Praxistipp:
Ein Ermittlungsrichter muss bei der Verkündung eines Haftbefehls das um fünfzehn Minuten verspätete Eintreffen des Verteidigers abwarten, wenn dieser seine Verspätung zuvor der Geschäftsstelle mitgeteilt hat und entgegenstehende Belange nicht ersichtlich sind (VerfGH Rheinland-Pfalz NJW 2006, 3341).
Nach Auffassung des OLG Hamm ist die Frist des § 121 Abs. 1 StPO eine Monatsfrist im Sinne von § 43 Abs. 1 StPO, die mit dem Ablauf des Tages des sechsten Monats endet, der durch seine Zahl dem Tag entspricht, an dem die Frist begonnen hat. Wie bei allen Tages-, Wochen- und Monatsfristen gemäß §§ 42, 43 StPO zählt daher der Anfangstag nicht mit, so dass der erste Tag der Untersuchungshaft nicht mitgerechnet wird (OLG Hamm, Beschl. v. 8. 8. 2007, 3 OBL 73/07; a.A. Meyer-Goßner, a.a.O., § 121 Rn. 4; Boujong in Karlsruher Kommentar zur StPO, 5. Auflage, § 121 Rn. 6).
Der Begriff dieselbe Tat im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO wird von der h. M. in der Rechtsprechung erweiternd ausgelegt und umfasst danach alle Taten von dem Zeitpunkt an, in sie als tatsächlich bekannt in den Haftbefehl hätten aufgenommen werden können (vgl. u.a. OLG Düsseldorf StV 2004, 496 = NStZ-RR 2004, 125 m.w.N.; OLG Hamm 2 Ws 264/07/2 OBL 93/07). Nach Auffassung des OLG Zweibrücken verschiebt aber die Erweiterung eines bestehenden Haftbefehls um Taten, hinsichtlich derer sich erst nach der Verhaftung dringender Tatverdacht ergeben hat, die 6-Monatsfrist für den Haftprüfungstermin nicht nach hinten (vgl. Beschl. v. 21. 8. 2007, 1 HPL 33 u. 34/07).
Grundlage der Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO ist einzig und allein die zuletzt erlassene und prozessordnungsgemäß bekanntgegebene Haftentscheidung. Zu einer Nachbesserung, Anpassung oder Erweiterung eines bestehenden oder gar zum Erlass eines neuen Haftbefehls auf neuer Tatsachengrundlage ist nur das nach §§ 125, 126 StPO zuständige Gericht befugt. Eine andere Verfahrensweise liefe nämlich faktisch auf die Schaffung einer unanfechtbaren (§ 304 Abs. 4 Satz 2 StPO) neuen Haftgrundlage durch ein Gericht hinaus, dem das Gesetz insoweit überhaupt keine Zuständigkeit zuweist. Ein Haftbefehl ist im Verfahren nach §§ 121, 122 StPO daher aufzuheben, wenn der Anklagevorwurf auf eine abweichende neue Tatsachengrundlage gestützt wird, es insoweit aber an einer Haftentscheidung des nach §§ 125, 126 StPO zuständigen Gerichts fehlt (OLG Koblenz StRR 2008, 2 [Ls.] = NStZ-RR 2008, 92 [Ls.]).
Eine Verletzung des Beschleunigungsgebots kann auch schon vor Ablauf der Sechs-Monats-Frist die Aufhebung des Haftbefehls gebieten, wenn es aufgrund vermeidbarer Fehler der Justizorgane zu einer erheblichen Verfahrensverzögerung kommt (vgl. BVerfG StRR 2007, 196 = StV 2007, 644; OLG Koblenz StraFo 2006, 496 = StV 2007, 91).
Praxistipp:
Bei der Geltendmachung einer Verletzung des Beschleunigungsgebots mit der Verfassungsbeschwerde muss der Beschwerdeführer im Einzelnen die nach dem jeweiligen Verfahrensstand gebotene Maßnahme und die damit mutmaßlich zu erzielende Beschleunigung des Verfahrens konkret darlegen, sofern sich dies nicht ausnahmsweise aus den sonstigen Umständen des Falles erschließt (BVerfG EuGRZ 2007, 591).
Allgemein ist darauf hinzuweisen, dass die obergerichtliche Rechtsprechung (vgl. vor allem a. BVerfG StraFo 2007, 152 = StV 2007, 366 = StRR 2007, 36) davon ausgeht, dass es verfehlt ist, bei der Terminierung jede Verhinderung eines Verteidigers zu berücksichtigen (so auch OLG Köln StV 2006, 145, 146). Vielmehr muss zwischen dem Recht des Angeklagten, in der Hauptverhandlung von einem Verteidiger seines Vertrauens vertreten zu werden, und seinem Recht, dass der Vollzug von Untersuchungshaft nicht länger als unbedingt nötig andauert, sorgsam abgewogen werden (so OLG Hamm StV 2006, 482, 484). Die Terminslage des Verteidigers kann danach angesichts der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) nur insoweit berücksichtigt werden, wie dies nicht zu einer erheblichen Verzögerung des Verfahrens führt (vgl. OLG Köln, a.a.O.). Die Alternative, den Beginn der Hauptverhandlung so weit hinauszuschieben, bis auch der zuletzt benannte Verteidiger uneingeschränkt zur Verfügung steht, sei mit dem Beschleunigungsgebot ersichtlich nicht vereinbar (BVerfG, OLG Hamm, OLG Köln, jew. a.a.O.).
§ 121 Abs. 1 StPO erfordert seinem Wortlaut nach eine doppelte Prüfung (StraFo 2007, 152 = StV 2007, 366 = StRR 2007, 36; StRR 2007, 117 = StV 2007, 369): Zum einen müssen Feststellungen darüber getroffen werden, ob die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder andere wichtige Gründe ein Urteil bislang noch nicht zugelassen haben (erste Stufe). Liegen derartige Gründe vor, ist zum anderen erforderlich, dass sie die Fortdauer der Untersuchungshaft rechtfertigen (zweite Stufe).
Auf folgende Entscheidungen ist hinzuweisen:
Praxistipp:
Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung bzw. die erkannte Strafe vermögen bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft zu dienen (vgl. BVerfG StRR 2007, 196 = StV 2007, 644; KG StV 2007, 644).
Das OLG muss sich in seiner Entscheidung mit den Verfahrensumständen und den Einwänden des Beschuldigten gegen die Fortdauer der Untersuchungshaft auseinandersetzen (vgl. BVerfG StRR 2007, 196 = StV 2007, 644 m.w.N. aus der Rspr. des BVerfG). Erforderlich ist eine Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen der U-Haft. I.d.R. sind in jedem Beschluss über die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft aktuelle Ausführungen zu dem weiteren Vorliegen ihrer Voraussetzungen, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten (st. Rspr. des BVerfG, vgl. zuletzt u.a. StraFo 2007, 18 = StV 2007, 254 m.w.N.).
Unabhängig vom Wortlaut des § 116 StPO, der die Vollzugsaussetzung im Falle des § 112 Abs. 3 StPO nicht vorsieht, gehen die Obergerichte aufgrund der Rechtsprechung des BVerfG (BVerfG NJW 1966, 243) davon aus, dass auch bei dem Haftgrund der Schwerkriminalität i.S. des § 112 Abs. 3 StPO eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls zulässig ist (Meyer-Goßner, a.a.O., § 116, Rn. 18 m.w.N.; zuletzt OLG Oldenburg StraFo 2008, 27 = StV 2008, 84).
Nach § 116 Abs. 4 StPO wird der Vollzug des Haftbefehls wieder angeordnet, wenn der Beschuldigte den ihm auferlegten Pflichten oder Beschränkungen gröblich zuwiderhandelt, er Anstalten zur Flucht trifft oder neu hervorgetretene Umstände die Verhaftung erforderlich machen. Jede neue haftrechtliche Entscheidung, die den Wegfall der Haftverschonung zur Folge hat, ist nur unter den einschränkenden Voraussetzungen von StPO § 116 Abs 4 möglich (BVerfG StV 2006, 26). Ein neu hervorgetretener, die Verhaftung erforderlich machender Umstand i.S.d. § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO ist nur gegeben, wenn er die Begründung der Haftverschonung in einem wesentlichen Punkt erschüttert und der Richter, sofern ihm dieser Umstand bei seiner Entscheidung schon bekannt gewesen wäre, keine Haftverschonung gewährt hätte. Konnte der Angeklagte zum Zeitpunkt der Außervollzugsetzung des gegen ihn erwirkten Haftbefehls aber mit der späteren Strafe rechnen und hat er ihm erteilte Auflagen korrekt erfüllt und sich dem Verfahren gestellt, darf die Haftverschonung nach erfolgter Verurteilung nicht widerrufen werden (OLG Hamm StV 2008, 29; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 23. 8. 2006, 1 Ws 321 u. 322/06; zur Invollzugsetzung s. auch LG Hamburg StV 2006, 643).
Nach Auffassung des OLG Köln soll es nicht gegen die Annahme von Fluchtgefahr sprechen, dass sich ein während des Verfahrens ganz überwiegend von der Untersuchungshaft verschonter mutmaßlicher Sexualstraftäter dem Verfahren gestellt hat, wenn er die Tatvorwürfe abgestritten und bis zuletzt auf einen Freispruch gehofft hat. Eine im Urteil verhängte langjährige Freiheitsstrafe stelle sich als neuer Umstand dar, der die Fluchtmotivation des - nicht rechtskräftig - Verurteilten deutlich erhöht haben dürfte (OLG Köln vom 28.08.2007, 2 Ws 412/07). Es handelt sich z.B. auch um einen neuen Umstand, wenn nicht nur der Angeklagte, sondern auch die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt hat und sie damit einen in der Hauptverhandlung gestellten Antrag auf Anordnung der Sicherungsverwahrung weiter verfolgt (OLG Hamm, Beschl. v. 30. 4. 2008, 2 Ws 121/08). Wird ein Haftbefehl gegen Auflagen, die einen persönlichen und telekommunikativen Kontakt des Angeklagten mit dem Geschädigten vermeiden sollen, außer Vollzug gesetzt und verstößt der Angeklagte gegen eine der Auflagen, indem er erneut Kontakt zum Geschädigten aufnimmt, so bestehen gegen einen Widerruf der Außervollzugsetzung des Haftbefehls keine rechtlichen Bedenken (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 14. 5. 2008, 2 Ws 142/08, StRR 2008, 243 [LS]).
Nach Aufhebung eines früheren, bereits außer Vollzug gesetzten Haftbefehls liegt im Erlass eines neuen Haftbefehls wegen desselben Tatvorwurfs sachlich eine Anordnung nach § 116 Abs. 4 StPO, die nur unter den dort bezeichneten Voraussetzungen zulässig ist (BVerfG StraFo 2007, 19 = StV 2007, 84; OLG Hamm StV 2008, 29; OLG Köln StV 2008, 258 = StraFo 2008, 241). Die Verurteilung auch zu einer empfindlichen Freiheitsstrafe, von z.B. von 3 Jahren 6 Monaten, stellt aber keinen neu hervorgetretenen Umstand nach § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO dar, der denn Erlass des neuen Haftbefehl rechtfertigt , wenn bei Aufhebung des früheren Haftbefehls eine bestimmte Straferwartung nicht im Raum stand (OLG Köln, a.a.O.; ähnlich OLG Hamm, a.a.O.).
Die Frist des § 118 Abs. 3 StPO wird auch durch die Verkündung eines abgeänderten Haftbefehls neu in Gang gesetzt (OLG Köln NStZ 2007, 608).
Ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse für eine prozessual überholte Haftbeschwerde kommt nur dann in Betracht, wenn die Untersuchungshaft beendet ist und der Untersuchungsgefangene ohne Zuerkennung eines solchen Interesses mangels Beschwer eine gerichtliche Überprüfung der freiheitsentziehenden Maßnahme nicht mehr erreichen könnte. Das ist nicht der Fall, wenn die Untersuchungshaft weiter auf neuer Grundlage vollzogen wird, die der Angeklagte wiederum vollumfänglich angreifen kann (OLG Koblenz StV 2007, 589). Eine Überprüfung der Haftfrage auf der Grundlage eines nicht mehr dem Verfahrensstand entsprechenden Haftbefehls, der weniger als die Hälfte der zwischenzeitlich - nicht rechtskräftig - abgeurteilten Taten aufführt, ist im Beschwerdeverfahren nicht möglich, so dass die Beschwerde zur Zurückverweisung zwecks Erweiterung oder Neuerlass und Eröffnung des angepassten Haftbefehls gegenüber dem Inhaftierten führt (OLG Stuttgart StRR 2007, 38).
Praxistipp
Zwar ist grundsätzlich immer nur die zuletzt ergangene, den Bestand des Haftbefehls betreffende Haftentscheidung anfechtbar (zu vgl. Meyer-Goßner, a.a.O.., § 117 Rn. 8 m.w.N.). Etwas anderes gilt aber dann, wenn dies lediglich zu einer sachlich nicht gebotenen kurzfristigen erneuten Haftentscheidung desselben Spruchkörpers führen und die erstrebte Anrufung des Beschwerdegerichts dadurch ohne sachlich zwingende Gründe verzögert würde, weil derselbe Spruchkörper erst kurz zuvor eine ausreichend begründete Haftentscheidung als Beschwerdegericht getroffen hat (OLG Hamm, Beschl. v. 24. 10. 2007, 2 Ws 322/07).
Bei einer während der laufenden Hauptverhandlung eingelegten Haftbeschwerde unterliegt die Beurteilung des dringenden Tatverdachtes durch das erkennende Gericht nur einer erheblich eingeschränkten Überprüfung (BGH StV 2004, 143; BGH, Beschl. v. 7. 8. 2007, StB 17/07; OLG Celle, Beschl. v. 20. 2. 2008, 2 Ws 77/08, LNR 2008, 12870; OLG Hamm StV 2006, 191, 192; Beschl. v. 08. 05. 2008, 2 Ws 124/08; Beschl. v. 15. 5. 2008, 3 Ws 220/08). Denn allein das die Beweisaufnahme durchführende Gericht ist in der Lage, die Ergebnisse der nicht dokumentierten Beweisaufnahme umfassend zu würdigen und auf dieser Grundlage die Frage nach dem Fortbestand des dringenden Tatverdachtes zu beantworten. Dem Beschwerdegericht fehlen die dafür erforderlichen Erkenntnisse (OLG Celle, a.a.O.). Die Nachprüfung durch dass Beschwerdegericht ist darauf beschränkt, ob das vom Haftgericht gewonnene Ergebnis auf Tatsachen gestützt ist, die im Zeitpunkt der Entscheidung zur Verfügung standen, sowie darauf, ob das mitgeteilte Ergebnis auf einer vertretbaren Bewertung dieser für und gegen den dringenden Tatverdacht sprechenden Umstände beruht (OLG Hamm, a.a.O.).
Praxistipp:
Im Haftbeschwerdeverfahren bedarf es vor einer Entscheidung des Beschwerdegerichts keiner vorherigen Anhörung des Nebenklägers, da durch die zu erlassene Haftentscheidung betreffend den Angeklagten seine Rechtsstellung als Nebenkläger nicht verletzt wird und er in seinen rechtlichen Interessen keinen Nachteil erleidet (OLG Hamm NStZ-RR 2008, 219).
Nach der Einfügung des § 126a Abs. 2 Satz 2 StPO (vgl. BGBl I, S. 1327) hat nunmehr auch im Fall der einstweiligen Unterbringung eine Haftprüfung durch das OLG stattzufinden. Bei der Prüfung der Unterbringungsfrist durch das OLG gemäß §§ 126a Abs. 2 Satz 2, 121, 122 StPO wird die Zeit einer vorangegangenen Untersuchungshaft in gleicher Sache bei der Fristberechnung der Dauer der Unterbringung hinzugerechnet. Eine andere Auffassung würde nach Auffassung der OLG der aktuellen Gesetzeslage zuwiderlaufen (OLG Düsseldorf NJW 2008, 867; OLG Hamm StRR 2008, 282, 322).
Im Prüfungsverfahren nach §§ 126a Abs. 2 S. 2, 121 f. StPO ist aber (nur) zu überprüfen, ob die Voraussetzungen der einstweiligen Unterbringung nach § 126a StPO weiterhin vorliegen. Zweck der einstweiligen Unterbringung ist im Gegensatz zur Untersuchungshaft der Schutz der Allgemeinheit vor gemeingefährlichen Rechtsbrechern. Dementsprechend ist die Frage der Verhältnismäßigkeit auch bezogen auf diesen Zweck zu beurteilen. Deshalb ist die Verfahrensdauer von erheblich geringerer Bedeutung als dies bei der Untersuchungshaft der Fall ist (OLG Celle StraFo 2007, 372; OLG Hamm StRR 2007, 318 = NJW 2007, 3220; OLG Köln NJW 2007, 3570).
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