aus ZAP 2024, 1147
(Ich bedanke mich bei der Schriftleitung von "ZAP" für die freundliche Genehmigung, diesen Beitrag aus "ZAP" auf meiner Homepage einstellen zu dürfen.)
Von Rechtsanwalt Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg
§ 329 StPO erlaubt ggf. die Verwerfung der Berufung des in der Berufungshauptverhandlung nicht erschienenen Angeklagten. Voraussetzung ist, dass der ordnungsgemäß geladene Angeklagte zu Beginn des Berufungshauptverhandlungstermins ausgeblieben ist und auch nicht zulässig durch einen Verteidiger vertreten wird (zu den damit zusammenhängenden Fragen Burhoff, ZAP 2024, 1027 ff.). Die nachfolgenden Ausführungen befassen sich mit der Frage der sog. Wartezeit des Gerichts (vgl. dazu II.), den Entschuldigungsgründen für das Ausbleiben (s. III.) und den im Fall einer Verwerfung der Berufung zulässigen Rechtsmitteln (dazu IV.).
Die Berufung des Angeklagten kann, wenn der Angeklagte ausgeblieben ist, nicht die Zulässigkeit einer Verwerfung unterstellt (dazu Burhoff, ZAP 2024, 951 ff und III. 3) unmittelbar nach Beginn des Berufungshauptverhandlungstermins verworfen werden. Vielmehr muss das Gericht eine angemessene Zeit warten. Für die Wartezeit gelten auf der Grundlage der insoweit nach wie vor anwendbaren Rspr. zur Fassung des § 329 Abs. 1 StPO a.F., also vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungshauptverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe am 25.7.2015 (BGBl I, S. 1332) etwa folgende Grundsätze:
Angemessen dürfte eine Wartezeit von mindestens etwa (zehn bis) 15 Minuten sein (siehe z.B. VerfGH Berlin, Beschl. v. 12.12.2003 36/03, 36 A/03, NJW 2004, 1158; BayObLG, Beschl. v. 11.1.2024 3 StRR 3/24; KG, Beschl. v. 30.4.2013 (4) 161 Ss 89/13 (86/13), StV 2014, 12 [Ls.]; KG, Beschl. v. 10.3.2022 3 Ws (B) 56/22; OLG Bamberg, Beschl. v. 30.3.2012 3 Ss OWi 360/12, VRR 2012, 276; OLG Dresden, Beschl. v. 30.7.2021 3 OLG 22 Ss 246/21; OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 28.2.2012 2 Ss-OWi 21/12, 2 Ss-OWi 21/12, NStZ-RR 2012, 258; OLG Hamm, Beschl. v. 3.3.2009 2 Ss 52/09, NStZ-RR 2009, 251; OLG Jena, Beschl. v. 29.8.2011 1 Ss Rs 86/11 (213), 1 Ss Rs 86/11, VRS 122, 227; OLG Köln, Beschl. v. 8.7.2013 2 Ws 354/13, StV 2014, 209 [Ls.]; Beschl. v. 5.2.2013, III 1 RVs 12/1, StraFo 2013, 251; OLG Koblenz, Beschl. v. 10.6.1980 1 Ss 157/80, DAR 1980, 280; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 24.10.2016 1 OLG 1 Ss 74/16; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 2024, § 329 Rn 13 m.w.N.; s. aber auch VerfGH Berlin, Beschl. v. 8.3.2000 121/98, NJW-RR 2000, 1451 [ggf. auch erheblich darüber hinaus für OWi-Verfahren]; OLG Oldenburg, Beschl. v. 15.11.2021 1 Ws 425/21, StraFo 2022, 28). Die Wartezeit beginnt mit der angesetzten Terminszeit (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 22.1.2001 2b Ss 370/00 99/00 I, NStZ-RR 2001, 303; OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 28.2.2012 2 Ss-OWi 21/12, NStZ-RR 2012, 258, unter Aufgabe von OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 17.10.2000 3 Ws 1049/00, NStZ-RR 2001, 85). In einer (späteren) Rechtsmittelbegründung muss die angesetzte Terminszeit vorgetragen werden (OLG Düsseldorf, a.a.O.).
Hinweis:
Diese Wartezeit kann (und muss) der Verteidiger nutzen, um sich zu erkundigen, wo der Angeklagte bleibt, ob er tatsächlich überhaupt nicht erscheint oder ob er sich nur verspätet.
Das Gericht muss nach den Grundsätzen des fairen Verfahrens, und zwar auch bei unentschuldigtem Fernbleiben, länger warten, wenn die Verspätung angekündigt worden ist und/oder wenn Anhaltspunkte für ein alsbaldiges Erscheinen bestehen (VerfGH Berlin, Beschl. v. 8.3.2000 121/98, NJW-RR 2000, 1451; BayObLG, Beschl. v. 11.1.2024 3 StRR 3/24; KG, Beschl. v. 10.3.2022 3 Ws (B) 56/22; OLG Brandenburg, Beschl. v. 15.5.2012 (2) 53 Ss 60/12 (22/12), StraFo 2012, 270; Beschl. v. 7.3.2011 (1) 53 Ss 19/11 (5/11), 1 Ws 19/11, StRR 2011, 345 [75 Minuten Verspätung]; OLG Hamm, Beschl. v. 16.5.1997 2 Ws 165/97, NStZ-RR 1997, 368; OLG Köln, Beschl. v. 2.9.1997 Ss 485/97 (B) 270 B, NZV 1997, 494; Beschl. v. 8.7.2013 2 Ws 354/13, StV 2014, 209 [Ls.]; Beschl. v. 5.2.2013, III-1 RVs 12/13, StraFo 2013, 251; OLG München, Beschl. v. 5.7.2007 4St RR 122/07, zfs 2007, 588; OLG Oldenburg, Beschl. v. 15.11.2021 1 Ws 425/21, StraFo 2022, 28; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 18.1.2007 1 Ss 188/06, VRS 112, 122). Das gilt auch, wenn es die anderen Verfahrensbeteiligten eilig haben (KG, Beschl. v. 21.7.2016 3 Ws (B) 382/16, VRR 2/2017, 18 [für Bußgeldverfahren]). Ein Fall angekündigter Verspätung ist auch dann gegeben, wenn die Ankündigung nur die Geschäftsstelle, nicht aber den Richter erreicht. Dieser muss sich dort erkundigen (OLG Köln, Beschl. v. 5.2.2013 III-1 RVs 12/13, StraFo 2013, 251 [für Verwerfungsurteil]). Der Verteidiger sollte daher auf jeden Fall das Gericht über eine Verspätung informieren. Das Gericht muss sich aber nicht auch noch bei der allgemeinen gerichtlichen Eingangsstelle erkundigen (OLG Bamberg, Beschl. v. 27.1.2009 2 Ss OWi 1613/2008, NStZ-RR 2009, 149; s. aber OLG Bamberg, Beschl. v. 30.10.2007 2 Ss OWi 1409/07, NStZ-RR 2008, 86 [für einen vier Stunden vor der Hauptverhandlung eingegangenen Antrag]).
Hinweis:
Teilt der Verteidiger in der Wartezeit mit, dass der Angeklagte nicht fernbleiben wollte, er sich vielmehr, nachdem ihm der Termin in Erinnerung gebracht worden war, auf den Weg zum Gericht gemacht hat, kann/darf die Berufung nicht verworfen werden, bevor der Angeklagte überhaupt eingetroffen sein kann (OLG Brandenburg, Beschl. v. 7.3.2011 (1) 53 Ss 19/11 (5/11), 1 Ws 19/11, StRR 2011, 345 [75 Minuten Verspätung]; OLG Köln, Beschl. v. 5.2.2013, III-1 RVs 12/13, StraFo 2013, 251; OLG München, a.a.O.).
Längeres Warten ist auch dann erforderlich, wenn den Angeklagten an der Verspätung kein Verschulden trifft (KG, Beschl. v. 30.4.2013 (4) 161 Ss 89/13 (86/13), StV 2014, 12 [Ls.]; Beschl. v. 21.7.2016 3 Ws (B) 382/16, VRR 2/2017, 18 [Stau]; OLG Hamm, Beschl. v. 3.3.2009 2 Ss 52/09, NStZ-RR 2009, 251; OLG Köln, Beschl. v. 8.7.2013 2 Ws 354/13, StV 2014, 209 [Ls., witterungsbedingte Verspätung]) bzw. auch dann, wenn der Vorsitzende dem nicht erschienenen Angeklagten durch den Verteidiger hat ausrichten lassen, er solle auf jeden Fall noch zum Gericht kommen. Dann muss zumindest so lange gewartet werden, wie mit dem Eintreffen des Angeklagten noch gerechnet werden kann (OLG Köln, Beschl. v. 13.1.2004 Ss 547/03, StraFo 2004, 143). Die Verwerfung der Berufung kann in diesen Fällen auch nicht allein mit dem Hinweis auf die enge zeitliche Folgeterminierung am Verhandlungstag begründet werden (OLG München, Beschl. v. 26.8.2008 5St RR 167/08, wistra 2008, 480; ähnlich KG, a.a.O.). Auf ein etwaiges späteres Erscheinen eines mit einer völlig unzureichenden Entschuldigung der Verhandlung ferngebliebenen Angeklagten muss das Berufungsgericht aber grds. nicht warten (OLG Oldenburg, Urt. v. 26.1.2009 Ss 472/08, NJW 2009, 1762).
Für die Verwerfung der Berufung ist außer dem Umstand, dass für den ausgebliebenen, aber ordnungsgemäß geladenen Angeklagten (Burhoff, ZAP 2024, 1027, 1028) auch ein Verteidiger mit Vertretungsvollmacht (Burhoff, a.a.O.) nicht erschienen ist, außerdem erforderlich, dass das Ausbleiben des Angeklagten im Hauptverhandlungstermin nicht genügend entschuldigt ist.
Zur Frage der genügenden Entschuldigung lassen sich nachfolgende Grundsätze aufstellen (wegen der Einzelheiten Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 329 StPO Rn 21 ff.; Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 11. Aufl. 2025, Rn 837 ff. [im Folgenden: Burhoff, HV]; Kotz/Niehaus, in: Burhoff, Handbuch für die strafverfahrensrechtlichen Rechtsmittel und Rechtsbehelfe, 3. Aufl. 2024, Teil A Rn 108 ff. [im Folgenden kurz: Burhoff/Bearbeiter, Rechtsmittel]; s. auch Burhoff, ZAP 2024, 443, 449 f. m.w.N.).
Maßgebend ist, ob dem Angeklagten wegen seines Ausbleibens nach den Umständen des Einzelfalls billigerweise ein Vorwurf zu machen ist (st. Rspr., u.a. BayObLG, Beschl. v. 24.2.1999 5 St RR 237/98, NJW 1999, 3424; OLG Bamberg, Beschl. v. 6.3.2013 3 Ss 20/13, StRR 2013, 386; KG, Beschl. v. 25.8.2004 (3) 1 Ss 112/04 (56/04), VRS 108, 110; Beschl. v. 28.7.2009 (3) 1 Ss 87/09 (96/09), VRR 2009, 433; OLG Brandenburg, Beschl. v. 28.6.2018 (2) 53 Ss 61/18 (26/18), StraFo 2018, 481; Beschl. v. 15.3.2023 1 ORs 5/23; OLG Dresden, Beschl. v. 13.12.2016 1 OLG 13 Ss 802/16, StV 2018, 152 [Ls.]; OLG Hamburg, Beschl. v. 2.9.2020 5 Rev 3/20, StV 2020, 858 [Ls.]; OLG München, Beschl. v. 22.1.2013 3 Ws 54/13, StraFo 2013, 208; wegen der Einzelheiten Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 329 StPO Rn 21 ff.). Es muss vor allem auch in subjektiver Hinsicht eine Pflichtverletzung gegeben sein (OLG Brandenburg, a.a.O.; OLG Dresden, a.a.O.). Das hat der VerfGH Sachsen verneint, wenn das Gericht selbst den Zugang des Gerichts zum Gerichtsgebäude und damit auch die Teilnahme des Angeklagten/Betroffenen an der Hauptverhandlung in rechtswidriger Weise (Verstoß gegen die DSGVO) von der Preisgabe personenbezogener Daten abhängig gemacht hat (VerfGH Sachsen, Beschl. v. 23.4.2021 Vf. 137-IV-20, zfs 2021, 173). Bleibt es zweifelhaft, ob der Angeklagte genügend entschuldigt ist, liegen die Voraussetzungen für die Berufungsverwerfung nicht vor (KG, Beschl. v. 25.8.2004 (3) 1 Ss 112/04 (56/04), VRS 108, 110; OLG Bamberg, Urt. v. 26.2.2008 3 Ss 118/07, StRR 2008, 305; OLG Hamburg, Beschl. v. 7.1.2016 2 Rev 87/15; OLG Hamm, Beschl. v. 6.3.2012 III-2 RVs 16/12, StraFo 2012, 193; OLG Köln, Beschl. v. 14.3.2006 82 Ss 23/06, StraFo 2006, 205 m.w.N.; OLG München a.a.O.; OLG Schleswig, Beschl. v. 20.8.2007 2 Ws 343/07, NStZ-RR 2008, 252).
Hinweis:
Der Angeklagte ist im Wiedereinsetzungsverfahren mit bereits bekannten Entschuldigungsgründen präkludiert. Der Verteidiger muss sich daher in der Hauptverhandlung, wenn er nicht sichere Kenntnis von den Gründen für das Ausbleiben seines Mandanten hat, gut überlegen, ob er Halbwissen vorträgt. Denn setzt sich das Gericht dann damit auseinander, kann später im Wiedereinsetzungsverfahren dazu nichts mehr (neu) vorgetragen werden.
Entscheidend für die Frage, ob der Angeklagte genügend entschuldigt ist, ist nicht, ob sich der Angeklagte entschuldigt hat, sondern, ob er entschuldigt ist (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 329 StPO Rn 18 m.w.N. aus der st. Rspr.; Burhoff/Kotz/Niehaus, Rechtsmittel, Teil A Rn 108 ff.; vgl. u.a. BayObLG, Beschl. v. 6.11.2002 5 St RR 279/02, NStZ-RR 2003, 87; BayObLG, Beschl. v. 25.10.2022 206 StRR 286/22; KG, Beschl. v. 2.12.2021 3 Ws (B) 323/21, NStZ-RR 2022, 125; OLG Bamberg, Urt. v. 26.2.2008 3 Ss 118/07, StRR 2008, 305; ähnl. OLG Bamberg, Beschl. v. 14.1.2019 2 Ss OWi 1538/08, 2 Ss OWi 1538/2008, VRR 2009, 231 [für das Bußgeldverfahren]; OLG Bamberg, Beschl. v. 28.11.2011 3 Ss OWi 1514/11, zfs 2012, 230; OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 2.11.2015 1 Ss 322/15; OLG Hamm, Beschl. v. 8.4.1998 2 Ss 394/98, StraFo 1998, 233; OLG Hamm, Beschl. v. 25.5.2005 2 Ss 210/05, zfs 2005, 515; OLG Köln, Beschl. v. 21.7.2006 81 Ss 91/06, StraFo 2006, 413; OLG München, Beschl. v. 27.6.2017 5 OLG 15 Ss 173/17, StV 2018, 151 [Ls.]; OLG Nürnberg, Beschl. v. 19.1.2009 2 St OLG Ss 259/08, NJW 2009, 1761; OLG Schleswig, Beschl. v. 20.8.2007 2 Ws 343/07, NStZ-RR 2008, 252; LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 5.2.2024 12 Qs 3/24, StraFo 2024, 148 [für das Strafbefehlsverfahren]). Genügend entschuldigt ist das Ausbleiben, wenn es glaubhaft erscheint, dass den Angeklagten daran kein Verschulden trifft; dabei ist eine weite Auslegung zugunsten des Angeklagten geboten (OLG Bamberg, Beschl. v. 6.3.2013 3 Ss 20/13, StRR 2013, 386; OLG Hamm, Beschl. v. 6.3.2012 III-2 RVs 16/12, StraFo 2012, 193, 194; OLG Koblenz, Beschl. v. 27.7.2009 1 Ss 102/09, StV 2010, 477).
Das Berufungsgericht hat nach allgemeiner Meinung hinsichtlich der genügenden Entschuldigung eine im Freibeweisverfahren zu erfüllende Aufklärungspflicht (vgl. nur BayObLG, Beschl. v. 31.3.2020 202 StRR 29/20, StV 2020, 855 [Ls.; ärztliche Atteste]; Beschl. v. 25.10.2022 206 StRR 286/22 [Corona]; KG, Beschl. v. 2.12.2021 3 Ws (B) 323/21, NStZ-RR 2022, 125; OLG Bamberg, Urt. v. 26.2.2008 3 Ss 118/07, StRR 2008, 305 [Vorlage eines ärztlichen Attests]; Beschl. v. 6.3.2013 3 Ss 20/13, StRR 2013, 386; OLG Brandenburg, Beschl. v. 28.6.2019 (2) 53 Ss 61/18 (26/18), StraFo 2018, 481; Beschl. v. 10.1.2022 1 OLG 53 Ss-OWi 586/21, NJ 2022, 586; Beschl. v. 15.3.2023 1 ORs 5/23; OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 2.11.2015 1 Ss 322/15; OLG Hamburg, Beschl. v. 7.1.2016 2 Rev 87/15; OLG Hamm, Beschl. v. 8.4.1998 2 Ss 394/98, StraFo 1998, 233; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 25.6.1998 3 Ss 77/98, StraFo 1999, 25; OLG Köln, Beschl. v. 10.12.2008 2 Ws 613/08, NStZ-RR 2009, 112; OLG München, Beschl. v. 27.10.2008 5St RR 200/08, NJW 2008, 3797 [zwei unterschiedliche Ladungen an einen geistig Behinderten]; OLG München, Beschl. v. 27.6.2017 5 OLG 15 Ss 173/17, StV 2018, 151 [Ls.]; Beschl. v. 17.1.2014 4 OLG 13 Ss 11/14, StraFo 2014, 79 [privatärztliches Attest]; OLG Nürnberg, Beschl. v. 19.1.2009 2 St OLG Ss 259/08, NJW 2009, 1761; OLG Schleswig, Beschl. v. 1.9.2005 2 Ss OWi 149/05 (103/05), zfs 2006, 53 [OWi-Verfahren]; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 7.4.2005 1 Ss 40/05, zfs 2006, 233; s.a. zum Bußgeldverfahren OLG Naumburg, Beschl. v. 7.5.2024 1 ORbs 98/24; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 19.1.2018 1 OWi 2 SsBs 84/17; zum Freibeweisverfahren Burhoff, HV, Rn 1997 ff.). Ein entsprechender Beweisantrag ist nur eine Anregung an das Gericht (OLG Zweibrücken, Beschl. v. 24.11.2000 1 Ss 165/00, StV 2001, 336 [Ls.]). Bei der Beurteilung der Frage, ob der verspätete Angeklagte genügend entschuldigt ist, ist darauf abzustellen, ob es dem Angeklagten zugemutet werden konnte, pünktlich vor Gericht zu erscheinen (OLG Köln, Beschl. v. 8.7.2008 2 Ws 326/08).
Hinweis:
Voraussetzung für eine Nachforschungspflicht des Gerichts ist, dass der Angeklagte vor der Hauptverhandlung einen Sachverhalt vorträgt, der geeignet ist, sein Ausbleiben genügend zu entschuldigen (BayObLG, Beschl. v. 25.10.2022 206 StRR 286/22; KG, Beschl. v. 28.7.2009 (3) 1 Ss 87/09 (96/09), VRR 2009, 433 [Vorlage eines Attests]; Beschl. v. 7.2.2022 3 Ws (B) 328/21; OLG Bamberg, Beschl. v. 14.1.2009 2 Ss OWi 1623/08, NStZ-RR 2009, 150; Beschl. v. 28.11.2011 3 Ss OWi 1514/11, zfs 2012, 230; OLG Hamm, Beschl. v. 31.7.2009 2 Ss 291/08; OLG München, Beschl. v. 17.1.2014 4 OLG 13 Ss 11/14, StraFo 2014, 79 [privatärztliches Attest]). Das Berufungsgericht ist aber nur zu solchen Maßnahmen verpflichtet, die sich kurzfristig durchführen lassen und nicht zu einer Aussetzung der Hauptverhandlung führen (vgl. u.a. BayObLG, Beschl. v. 6.11.2002 5 St RR 279/02, NStZ-RR 2003, 87; OLG Hamm, Beschl. v. 21.4.2009 3 Ss 84/09). Die Nachforschungspflicht ist nicht grenzenlos (KG, Beschl. v. 28.10.2013 161 Ss 198/13). Andererseits ist der Angeklagte nicht zur Glaubhaftmachung der geltend gemachten Entschuldigungsgründe verpflichtet (OLG Hamburg, Beschl. v. 7.1.2016 2 Rev 87/15; Beschl. v. 19.1.2018 1 OWi 2 SsBs 84/17). Sein Ausbleiben ist auch nicht schon deshalb als nicht genügend entschuldigt anzusehen, weil er sei es auch entgegen einer gerichtlichen Aufforderung keine Belege für sein Entschuldigungsvorbringen beigebracht hat (OLG Hamburg, a.a.O.).
Zu den potenziellen Entschuldigungsgründen, bei deren Vorliegen ein Vorwurf/Verschulden hinsichtlich des Ausbleibens in der Berufungshauptverhandlung zu verneinen ist, gibt es umfangreiche Rechtsprechungsbeispiele. Die OLG-Rspr. zu diesem Bereich ist unüberschaubar. Die nachfolgenden Fallgruppen geben eine erste Hilfestellung (entnommen Burhoff, HV, Rn 843 ff.; Burhoff/Kotz/Niehaus, Rechtsmittel, Teil A Rn 108 ff. m.w.N.).
Hinweis:
Die bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungshauptverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe am 25.7.2015 (BGBl I, S. 1332) ergangene frühere Rspr. der OLG zum Begriff der genügenden Entschuldigung i.S.d. § 329 StPO a.F. ist auch nach der Neuregelung weiter anwendbar. Insoweit haben sich durch die Neuregelung keine Änderungen in der StPO ergeben.
Verschulden verneint:
Hinweis:
Eine genügende Entschuldigung wird man m.E. nach der Neuregelung des § 329 StPO auch dann annehmen können/müssen, wenn der Angeklagte alles dafür getan hat, dass er im Berufungshauptverhandlungstermin von (s)einem Verteidiger vertreten wird, dieser aber aus Gründen, die der Angeklagte nicht zu vertreten hat, in der Hauptverhandlung nicht erscheint (vgl. auch § 329 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StPO; vgl. Burhoff, ZAP 2024, 1027, 1029; auch BayObLG, Beschl. v. 1.2.1956 RevReg 1 St 508/55, NJW 1956, 838).
Verschulden bejaht:
Große Bedeutung haben in der Praxis die mit dem Entschuldigungsgrund Krankheit zusammenhängenden Fragen. Insoweit gilt: Grundsätzlich kann eine Erkrankung des Angeklagten einen Entschuldigungsgrund für das Ausbleiben in der Berufungshauptverhandlung darstellen (vgl. Burhoff/Kotz/Niehaus, Rechtsmittel, Teil A Rn 154). Die Krankheit entschuldigt das Ausbleiben des Angeklagten, wenn sie nach Art und Auswirkungen eine Beteiligung in der Berufungshauptverhandlung unzumutbar macht (KG, Beschl. v. 2.12.2021 3 Ws (B) 323/21, NStZ-RR 2022, 125 [Gastroenteritis]; OLG Brandenburg, Beschl. v. 10.1.2022 1 OLG 53 Ss-OWi 586/21; OLG Hamm, Beschl. v. 8.4.1998 2 Ss 394/98, StraFo 1998, 233 [eiternde Entzündungen]; Beschl. v. 6.1.2022 III-5 RVs 131/21, NStZ-RR 2022, 121; OLG Köln, Beschl. v. 24.10.2008 83 Ss 76/08, NStZ-RR 2009, 86; Beschl. v. 8.12.2009 81 Ss 77/09, StraFo 2010, 73 [paranoide Psychose mit der Gefahr psychophysischer Dekompensation]; OLG Oldenburg, Urt. v. 4.11.2019 1 Ss 136/19, StraFo 2020, 71; OLG Schleswig, Beschl. v. 20.8.2007 2 Ws 343/07, NStZ-RR 2008, 252 [schmerzhafte und die Beweglichkeit beeinträchtigende Blockade der Lendenwirbelsäule]). Verhandlungsunfähigkeit ist nicht erforderlich (u.a. OLG Brandenburg, Beschl. v. 28.6.2018 (2) 53 Ss 61/18 (26/18), StraFo 2018, 481; OLG Saarbrücken, Beschl. v. 8.3.2023 1 Ws 51/23; Burhoff, HV, Rn 846, 3479). Der Angeklagte kann auch dann entschuldigt sein, wenn er infolge eines Querulantenwahns von Krankheitswert nur glaubt, der Hauptverhandlung fernbleiben zu dürfen (OLG Brandenburg, Beschl. v. 13.2.1997 2 Ss 10/97, NJW 1998, 842; s. auch BayObLG, Beschl. v. 24.2.1999 5St RR 237/98, StV 2001, 336 [zum Unterlassen einer Therapie]).
Wenn der Angeklagte und der Verteidiger aufgrund eines Kontaktes zu einem Covid-19-Erkrankten unter häusliche Quarantäne gestellt wurden, sind beide genügend entschuldigt (OLG Brandenburg, Beschl. v. 28.10.2020 (2) 53 Ss 98/20 (42/20), StV 2021, 79 [Ls.]). Im Übrigen ist der Angeklagte, auch wenn bei ihm aufgrund von Symptomen zunächst nur ein Coronaabstrich entnommen worden ist, für sein Ausbleiben im Hauptverhandlungstermin entschuldigt, da bis zur Mitteilung des Testergebnisses für den Angeklagten eine Quarantänepflicht besteht (LG München I, Beschl. v. 4.1.2021 15 Qs 46/20, StV-S 2021, 4 [Ls.]; zum positiven Selbsttest OLG Zweibrücken, Beschl. v. 16.2.2023 1 ORs 2 Ss 44/22; ähnlich BayObLG, Beschl. v. 25.10.2022 206 StRR 286/22; s. aber BayObLG, Beschl. v. 28.6.2023 206 StRR 174/23 [Bescheinigung über das Vorliegen eines positiven SARS-CoV-2 Antigentests nach Beendigung der Quarantänepflicht reicht nicht]).
Im Fall einer stationären Krankenhausbehandlung sind an den Nachweis der Unzumutbarkeit des persönlichen Erscheinens des Angeklagten weniger strenge Anforderungen zu stellen. Besteht aus Sicht der Klinikärzte Anlass, einen Patienten mehrtägig stationär aufzunehmen und sei es nur zur Überwachung und Abklärung des Krankheitsbildes , ist es ihm grds. nicht zumutbar, das Krankenhaus zu verlassen, um einen Gerichtstermin wahrzunehmen (OLG Köln, Beschl. v. 12.1.2016 III-1 RVs 251/15, StraFo 2016, 112). In diesen Fällen kann als Nachweis des Klinikaufenthalts des Angeklagten eine eidesstattliche Versicherung einer Mitarbeiterin des Verteidigers ausreichen, dass diese bei einem Telefonat mit einem Mitarbeiter im Klinikum in Erfahrung gebracht hat, dass sich der Angeklagte im maßgeblichen Zeitraum durchgängig in stationärer Behandlung befunden hat (OLG Köln, a.a.O., zum medizinisch nicht indizierten OP-Termin KG, Beschl. v. 16.9.2020 3 Ss 56/20, NStZ-RR 2020, 58 [Ls.]).
Zur Glaubhaftmachung der Krankheit/Erkrankung genügt i.d.R. ein (zeitnahes) privatärztliches Attest (KG, Beschl. v. 6.2.2007 1 AR 152/07 2 Ws 99/07, 1 AR 152/07, 2 Ws 99/07, StraFo 2007, 244; KG, Beschl. v. 7.2.2022 3 Ws (B) 328/21; OLG Bamberg, Beschl. v. 14.1.2009 2 Ss OWi 1623/08, NStZ-RR 2009, 150; Beschl. v. 28.11.2011 3 Ss OWi 1514/11, zfs 2012, 230; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 7.9.1994 3 Ss 44/94, NJW 1995, 2571; OLG Köln, Beschl. v. 24.10.2008 83 Ss 76/08, NStZ-RR 2009, 86; OLG München, Beschl. v. 27.6.2017 5 OLG 15 Ss 173/17 [Ls.]; Beschl. v. 22.1.2013 3 Ws 54/13, StraFo 2013, 208; OLG Nürnberg, Beschl. v. 19.1.2009 2 St OLG Ss 259/08, NJW 2009, 1761; Beschl. v. 19.1.2018 1 OWi 2 SsBs 84/17; LG Potsdam, Urt. v. 25.5.2009 27 Ns 3/09), nach welchem der Angeklagte wegen einer näher bezeichneten Erkrankung nicht reisefähig ist (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 18.12.1992 5 Ss 384/92 123/92 I, StV 1994, 364) bzw. das konkrete Angaben über die Erkrankung enthalten muss/sollte (KG 2007, a.a.O.; OLG Brandenburg, Beschl. v. 10.1.2022 1 OLG 53 Ss-OWi 586/21, NJ 2022, 465; OLG Hamm, Beschl. v. 27.3.2008 2 Ws 80/08, NZV 2009, 158; Beschl. v. 23.8.2012 III-3 RBs 170/12, NStZ-RR 2013, 188; s. aber KG, Beschl. v. 28.7.2009 (3) 1 Ss 87/09 (96/09), VRR 2009, 433; OLG Bamberg, Beschl. v. 6.3.2013 3 Ss 20/13, StRR 2013, 386 [Attest ohne Angabe der Erkrankung ausreichend]). Gegebenenfalls muss das Berufungsgericht von Amts wegen Ermittlungen durchführen, ob der Angeklagte durch die einer Arbeitsunfähigkeit zugrunde liegende Erkrankung am Erscheinen im Hauptverhandlungstermin gehindert ist (KG, a.a.O.; OLG Bamberg, a.a.O.; OLG Celle, Beschl. v. 21.11.1996 1 Ss 312/96, StraFo 1997, 79; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 1.6.1993 5 Ss 204/94 56/94 I, VRS 87, 439; OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 2.11.2015 1 Ss 322/15; OLG München a.a.O.; OLG Nürnberg, Beschl. v. 19.1.2009 2 St OLG Ss 259/08, NJW 2009, 1761; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 16.2.2023 1 ORs 2 Ss 44/22). Das OLG Hamm hat allerdings ein Attest, in dem nur pauschal wegen Alkoholabhängigkeit Verhandlungsunfähigkeit attestiert worden ist, nicht ausreichen lassen (OLG Hamm, Beschl. v. 2.11.2010 5 RVs 91/10).
Hinweis:
Auch wenn die OLG-Rspr. teilweise ein Attest ohne nähere Angaben zur Art der Erkrankung zur Glaubhaftmachung ausreichen lässt, solange keine Gründe für die Annahme vorliegen, dass die Bescheinigung falsch oder offensichtlich unrichtig ist (vgl. z.B. BayObLG, Beschl. v. 31.3.2020 202 StRR 29/20, StV 2020, 855 [Ls.]; OLG München, Beschl. v. 27.6.2017 5 OLG 15 Ss 173/17, StV 2018, 151 [Ls.]; Beschl. v. 22.1.2013 3 Ws 54/13, StraFo 2013, 208), sollte der Verteidiger, da andere OLG in dieser Frage strenger sind (vgl. u.a. OLG Hamm, Beschl. v. 23.8.2012 III-3 RBs 170/12, NStZ-RR 2013, 188), nach Möglichkeit ein Attest vorlegen, dem sich inhaltlich jedenfalls die nach allgemeinem Sprachgebrauch zu benennende Art der Erkrankung, die aktuell bestehende Symptomatik und die Darlegung der daraus zur Terminszeit resultierenden konkreten körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen entnehmen lassen (OLG Brandenburg, Beschl. v. 10.1.2022 1 OLG 53 Ss-OWi 586/21, NJ 2022, 465; OLG Hamm, Beschl. v. 6.1.2022 III-5 RVs 131/21, NStZ-RR 2022, 121).
In der Regel wird eine bloße Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht ausreichend sein (OLG Brandenburg, Beschl. v. 10.1.2022 1 OLG 53 Ss-OWi 586/21, NJ 2022, 465; aber a.A. KG, Beschl. v. 2.12.2021 3 Ws (B) 323/21, NStZ-RR 2022, 125 [Gastroenteritis]; OLG München, Beschl. v. 27.6.2017 5 OLG 15 Ss 173/17, StV 2018, 151 [Ls.]; LG Essen, Beschl. v. 5.8.2005 28 Qs 117/05, StraFo 2005, 466). Der Verteidiger muss daher darauf achten, dass sich aus dem Attest ergibt, dass der Mandant verhandlungsunfähig ist. Der Angeklagte darf aber grds. auf die entschuldigende Wirkung eines ärztlichen Attests vertrauen (OLG Dresden, Beschl. v. 13.12.2016 1 OLG 13 Ss 802/16, StV 2018, 152 [Ls.]; OLG Hamm, Beschl. v. 25.5.2005 2 Ss 210/05, VRR 2005, 270; ähnlich LG Nürnberg, Beschl. v. 12.3.2018 3 OWi Qs 62/17 [attestierte mehrtägige Bettlägerigkeit]).
Allein aus dem Fehlen eines ärztlichen Attests kann nicht geschlossen werden, dass der Entschuldigungsgrund nicht der Wahrheit entspricht (OLG Hamburg, Beschl. v. 7.1.2016 2 Rev 87/15; OLG Hamm, Beschl. v. 18.3.1997 2 Ss 142/97, NStZ-RR 1997, 240). Gegebenenfalls muss das Gericht, wenn es Zweifel an der Richtigkeit des Attests hat, beim Arzt nachfragen (BayObLG, Beschl. v. 30.10.1998 3 St RR 114/98, StraFo 1999, 201; OLG Bamberg, Beschl. v. 6.3.2013 3 Ss 20/13, StRR 2013, 386; OLG Nürnberg, Beschl. v. 19.1.2009 2 St OLG Ss 259/08, NJW 2009, 1761) oder eine amtsärztliche Untersuchung veranlassen (LG Heilbronn, Beschl. v. 28.8.2006 4 Qs 11/06, zfs 2006, 707 [für Terminsaufhebung im OWi-Verfahren]). Bescheinigt ein Arzt die Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten für den Verhandlungstag, muss in Ermangelung gegenteiliger Anzeichen von dessen Verhandlungsunfähigkeit ausgegangen werden (ähnl. OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 2.11.2015 1 Ss 322/15). Es gibt keine Befugnis des Gerichts, gegen den Willen des nicht eigenmächtig ferngebliebenen Angeklagten in dessen Abwesenheit zu verhandeln (LG Potsdam, Urt. v. 25.5.2009 27 Ns 3/09; s. aber OLG Hamm, Beschl. v. 2.11.2010 5 RVs 91/10).
Hinweis:
Die Voraussetzungen für die Nachfrage beim Arzt liegen mit der Vorlage des Attests durch den Angeklagten i.d.R. vor, weil der ausstellende Arzt damit konkludent von seiner Schweigepflicht entbunden wird (OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 19.5.2005 3 Ws 405/05, NStZ-RR 2005, 237; OLG München, Beschl. v. 27.6.2017 5 OLG 15 Ss 173/17, StV 2018, 151 [Ls.]; OLG Nürnberg, Beschl. v. 19.1.2009 2 St OLG Ss 259/08, NJW 2009, 1761; s. aber OLG Hamm, Beschl. v. 21.4.2009 3 Ss 84/09).
Auch die Regelung privater oder beruflicher Angelegenheiten kann das Ausbleiben in der Berufungshauptverhandlung genügend entschuldigen. Der Angeklagte kann sich unter Umständen damit entschuldigen, wenn diese Angelegenheiten unaufschiebbar und von solcher Bedeutung sind, dass dem Angeklagten das Erscheinen nicht zugemutet werden kann (s. OLG Karlsruhe, Beschl. v. 23.2.1995 3 Ss 117/94, VRS 89, 130 [Auslandsaufenthalt zur Durchführung von Fliesenlegearbeiten aus Gefälligkeit verneint]; OLG Hamburg, Beschl. v. 2.9.2020 5 Rev 3/20, StV 2020, 858 [Ls.]; OLG Oldenburg, Beschl. v. 2.8.1996 SS 274/96, zfs 1996, 434 [beruflich bedingter Einsatz eines Berufskraftfahrers im Ausland für OWi-Verfahren bejaht]; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 10.7.2020 1 OWi 2 SsBs 57/20, zfs 2020, 652 [Studienaufenthalt im Ausland]; LG Koblenz, Beschl. v. 31.7.2012 1 Qs 166/12 [vom Arbeitgeber angesetztes Treffen, an dem der Arbeitnehmer teilnehmen muss bejaht]. Dabei sind im Einzelfall jeweils die Bedeutung der zu erledigenden Geschäfte nach Wichtigkeit und Dringlichkeit einerseits und die öffentlich-rechtliche Pflicht zum Erscheinen andererseits abzuwägen, wobei die Bedeutung der jeweiligen Strafsache nicht außer Acht gelassen werden darf (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 25.5.2005 2 Ss 210/05, zfs 2005, 515 [für Urlaubsreise]; Beschl. v. 20.1.2003 2 Ss OWi 1135/02 (3), StraFo 2003, 174; OLG Bamberg, Beschl. v. 12.9.2006 3 Ss OWi 1140/06, VRR 2007, 74 [für zuvor zugegangene Ladung zum Schlusstermin im Insolvenzverfahren; OWi-Verfahren]; LG München I, Beschl. v. 29.11.2010 16 Qs 69/10, StraFo 2011, 95 [Flugreise nach Mekka aus religiösen Gründen]).
Will der Angeklagte sich mit einer Urlaubsreise entschuldigen, gilt: In der Regel soll die Verschiebung oder Unterbrechung einer Urlaubsreise auch ins Ausland zumutbar sein (OLG Brandenburg, Beschl. v. 27.3.2008 1 Ss 19/08, StRR 2008, 307; OLG Bamberg, Beschl. v. 7.9.2012 2 Ss OWi 834/12 [Bußgeldverfahren]; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 8.3.1983 1 Ws 1049/82, VRS 64, 438; OLG Schleswig, Beschl. v. 16.1.1986 2 Ws 610/85, SchlHA 1987, 120 [Ls.]; s. auch OLG Dresden, Beschl. v. 24.2.2015 2 Ws 82/15, NStZ-RR 2015, 191 [für Zeugen; zum mehrmonatigen Auslandsaufenthalt s.o.]). Das ist aber bei einer vor Erhalt der Ladung gebuchten, nicht mehr stornierbaren Urlaubsreise in einer Bagatellsache nicht anzunehmen (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 26.10.1972 1 Ss 663/72, NJW 1973, 109; OLG Hamm, Beschl. v. 25.5.2005 2 Ss 210/05, zfs 2005, 515). Etwas anderes gilt, wenn der Angeklagte zum Zeitpunkt der Ladung den Urlaub erst plant (OLG Hamm, Beschl. v. 6.10.1978 2 Ws 206/78) oder sogar erst danach gebucht hat (OLG Brandenburg, a.a.O.; OLG Hamm a.a.O.; LG Berlin, Beschl. v. 19.12.2006 536 Qs 373/06, VRS 112, 276). Erscheint er in diesen Fällen nicht, ist er nicht genügend entschuldigt (zum Urlaub s. auch noch OLG Oldenburg, Beschl. v. 22.10.2003 1 Ws 471/03, Nds.Rpfl. 2004, 47 [wenn der Angeklagte nach Berufungseinlegung mehr als ein halbes Jahr ohne Nachricht vom Gericht geblieben ist]).
Hinweis:
Einen Verlegungsantrag aus privaten/beruflichen Gründen muss der Angeklagte eingehend begründen (BayObLG, Beschl. v. 27.6.2002 2 ObOWi 268/02, NJW 2003, 1961; OLG Bamberg, Urt. v. 26.2.2008 3 Ss 118/07, StRR 2008, 305; OLG Hamm a.a.O.; Beschl. v. 31.7.2008 2 Ss 291/08). Vage Angaben, wie z.B. unabkömmlich zu sein, reichen nicht aus (OLG Bamberg, a.a.O.).
Schließlich können auch Verkehrsprobleme und -störungen (bei der Anreise) zum Termin das Ausbleiben entschuldigen. Dann darf aber die Reisezeit nicht zu knapp bemessen werden (OLG Köln, JMBl. NW 1972, 63 [erkennbar zu spät ankommender Zug]). Der Angeklagte muss bei Benutzung eines Kfz eine ausreichende Zeitreserve einkalkulieren (OLG Bamberg, Beschl. v. 14.10.1994 Ws 581/94, NJW 1995, 740 [für 100 km auf der BAB A 9 mindestens 30 Minuten]; OLG Hamm, Beschl. v. 7.8.1997 2 Ws 270/97, NZV 1997, 493). Durch ein solches Gebot wird der Angeklagte auch nicht in seinem Grundrecht auf rechtliches Gehör verletzt (BVerfG, Beschl. v. 13.9.1993 2 BvR 1366/93, StV 1994, 113 [zu niedriger Sicherheitszuschlag bei der Anreise mit dem Pkw im Großraum Frankfurt]).
Das gilt grds. auch bei anderen Verkehrsproblemen, wie z.B. bei einer Kraftfahrzeugpanne (OLG Hamm, VRS 7, 311; Beschl. v. 26.2.1999 2 Ss 121/99; 2 Ws 51/99, DAR 1999, 277 [Ls.]; Beschl. v. 23.7.2002 2 Ss 550/02, NZV 2003, 49 [Verkehrsstau und Behinderung durch Einlasskontrollen beim Gericht]; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 4.1.1973 1 Ss 300/72, NJW 1973, 1515; LG Berlin, Beschl. v. 9.9.2010 515 Qs 114/10, NZV 2010, 585), die es auch nicht erforderlich macht, dass der Angeklagte sich bei Gericht erkundigt, bis wann sein Erscheinen sinnvoll ist, um dann ggf. noch mit dem Taxi zu fahren. Die Verspätung darf allerdings nicht darauf zurückzuführen sein, dass der Angeklagte zu spät abgefahren ist bzw. nicht genügend Zeit eingeplant hat (KG, Beschl. v. 19.7.2006 2 Ss 152/06 5 Ws (B) 384/06, VRS 111, 432; Beschl. v. 15.1.2021 3 Ws 5/21; OLG Celle, Urt. v. 24.6.2004 11 U 57/04, NJW 2004, 2534; OLG Jena, Beschl. v. 5.7.2005 1 Ss 178/05, 1 Ws 241/05, NJW 2006, 1894 [Ls.]; OLG Köln, Beschl. v. 8.7.2013 2 Ws 354/13, StV 2014, 209 [Ls.; Witterungsprobleme]). Allerdings dürfen insoweit die Anforderungen nicht überspannt werden. Der Angeklagte muss nicht so früh losfahren, dass er Gefahr läuft, viel zu früh anzukommen und zu lange warten zu müssen (VerfGH Berlin, Beschl. v. 12.12.2003 36/03, 36 A/03, NJW 2004, 1158). Berechnet der Angeklagte die Fahrzeit mit einem Routenplaner, muss er ggf. zu erwartendes hohes Verkehrsaufkommen berücksichtigen (OLG Jena, a.a.O.). Von Bedeutung ist auch, ob es sich um ein kurzfristiges Verkehrsproblem gehandelt hat und/oder, ob der Gerichtsort nicht mit anderen Verkehrsmitteln oder auf anderer Strecke ggf. noch rechtzeitig erreichbar gewesen wäre (vgl. BGH, Beschl. v. 8.3.2017 III ZR 39/17, VRR 5/2017, 2 [Ls.; für das Zivilverfahren; Streckensperrung]; zum Schienenersatzverkehr OLG Köln, Beschl. v. 9.7.2021 1 RVs 121/21, NStZ 2024, 248).
Hinweis:
Parkschwierigkeiten am Gericht sollen das Ausbleiben des Angeklagten allerdings nicht entschuldigen (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 329 StPO Rn 27; a.A. OLG Nürnberg, Beschl. v. 29.7.1982 Ws 606/82, OLGSt § 44 Nr. 2).
Ist gegen den Angeklagten ein Verwerfungsurteil ergangen, sollte stets sowohl der nach § 329 Abs. 7 StPO zulässige Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt als auch Revision eingelegt werden (zu den Rechtsmitteln auch Burhoff/Kotz/Niehaus, Rechtsmittel, Teil A Rn 371 ff.). Es gilt § 342 Abs. 2 StPO (zur Entscheidungszuständigkeit OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 28.3.2006 3 Ws 321/06, NStZ-RR 2006, 215); die Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag ist vorrangig (OLG Bamberg, Beschl. v. 28.12.2015 3 Ss OWi 1476/15, zfs 2016, 350 [für Rechtsbeschwerde gegen ein Verwerfungsurteil nach § 74 Abs. 2 OWiG]). Die Einlegung der Revision ohne Verbindung mit dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gilt als Verzicht auf das Wiedereinsetzungsverfahren (§ 342 Abs. 3 StPO); das ist nicht von einer vorherigen Rechtsmittelbelehrung abhängig (OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 23.9.2010 3 Ws 892/10, NStZ-RR 2011, 21). Für die Rechtzeitigkeit eines Wiedereinsetzungsantrags des Angeklagten ist das Datum der (letzten) Zustellung des die Berufung verwerfenden Urteils entscheidend; ob der Angeklagte schon früher Kenntnis von der Berufungsverwerfung hatte, ist unerheblich (OLG Oldenburg, Beschl. v. 4.4.2011 1 Ws 165/11, StraFo 2011, 280).
Hinweis:
Über den Wiedereinsetzungsantrag entscheidet das LG, und zwar auch, wenn die Antragsfrist für den Wiedereinsetzungsantrag versäumt sein sollte. Das OLG kann die Entscheidung nicht an sich ziehen (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 9.4.2018 2 Ws 151/18; OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 28.3.2006 3 Ws 321/06, NStZ-RR 2006, 215; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 46 StPO Rn 2 m.w.N.).
Der Verteidiger muss bei der Begründung seiner Rechtsbehelfe den unterschiedlichen Prüfungsumfang für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand einerseits und für die Revision andererseits berücksichtigen. Mit der Revision kann nur die Verletzung des § 329 StPO geltend gemacht werden, also z.B., dass das Gericht nicht alle erkennbaren Entschuldigungsgründe zugrunde gelegt oder dass es den Rechtsbegriff der genügenden Entschuldigung verkannt hat (zu Einzelheiten Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 329 StPO Rn 48 m.w.N.; OLG Hamm, Beschl. v. 22.1.1997 2 Ws 9/97, StV 1997, 346; LG Potsdam, Beschl. v. 22.6.2016 24 Qs 62/16, VRS 130, 122). Mit seinem Wiedereinsetzungsantrag richtet sich der Verteidiger gegen die Versäumung der Berufungshauptverhandlung oder die Versäumung des Berufungshauptverhandlungstermins.
Hinweis:
Nur mit dem Antrag kann der Verteidiger daher nachträglich neue (!) Entschuldigungsgründe geltend machen (KG, Beschl. v. 13.5.2005 2 AR 67/05 5 Ws 240/05, NStZ-RR 2006, 183 m.w.N.; Beschl. v. 14.2.2019 4 Ws 12/19, StV 2020, 855; KG, Beschl. v. 6.7.2020 3 Ws 160/20, zfs 2020, 588; OLG Brandenburg, Beschl. v. 15.3.2023 1 ORs 5/23; OLG Frankfurt a.M., Urt. v. 13.2.1974 1 Ss 532/73, NJW 1974, 1151; OLG Saarbrücken, Beschl. v. 8.3.2023 1 Ws 51/23; zum Umfang der erforderlichen Darlegungen s. obige Rspr.-Nachweise).
Der Verteidiger kann daher zur Begründung seines Wiedereinsetzungsgesuchs keine Gründe, die dem Berufungsgericht bereits bekannt waren, wiederholen (OLG Hamm, a.a.O.; OLG München, Beschl. v. 21.4.1988 2 Ws 191/88, NStZ 1988, 377; LG Dresden, Beschl. v. 11.9.2015 5 Qs 89/15, StRR 2015, 443 [Ls.]; LG Potsdam, Beschl. v. 22.6.2016 24 Qs 62/16, VRS 130, 122 [für Bußgeldverfahren]). Etwas anderes gilt, wenn das Berufungsgericht im Verwerfungsurteil lediglich Vermutungen über die Entschuldigungsgründe angestellt hat (KG, Beschl. v. 6.7.2020 3 Ws 160/20, zfs 2020, 588). Diese Grundsätze gelten auch dann, wenn mit dem Wiedereinsetzungsantrag weitere Tatsachen vorgetragen werden, die den bisherigen vom Tatgericht bereits gewürdigten Entschuldigungsgrund ergänzen, verdeutlichen und glaubhaft machen sollen (LG Potsdam, a.a.O.).
Hinweis:
Der Verteidiger muss die Wiedereinsetzung ausdrücklich beantragen. Eine Wiedereinsetzung von Amts wegen scheidet bei der Versäumung der Hauptverhandlung aus (OLG Hamm, Beschl. v. 15.7.2009 3 Ws 231/09, NStZ-RR 2009, 314).
In der Revision ist die Verfahrensrüge zu erheben (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 329 StPO Rn 48 f. m.w.N. aus der Rspr.; u.a. BayObLG, Beschl. v. 9.10.2020 202 StRR 94/20; Beschl. v. 5.4.2023 203 StRR 95/23, StraFo 2023, 358; Beschl. v. 28.12.2023 204 StRR 548/23; KG, Beschl. v. 15.5.2014 (4) 161 Ss 71/14 (106/14), StRR 2015, 64 m. Anm. Hanschke; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 23.2.2021 III 2 RVs 5/21 [Ladungsmangel]; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.12.2021 2 RV 35 Ss 670/21 [Ladungsmangel]; OLG Nürnberg, Beschl. v. 19.1.2009 2 St OLG Ss 259/08, NJW 2009, 1761 [zugleich zu den Begründungsanforderungen]; a.A. OLG Dresden, Beschl. v. 12.7.2000 1 Ss 166/00, NJW 2000, 3295; s. auch BGH, Beschl. v. 13.12.2000 2 StR 56/00, BGHSt 46, 230; zur Verfahrens- und Sachrüge im Fall des § 329 Abs. 1 StPO eingehend Weidemann, Verfahrens- und Sachrüge gegen Prozeßurteile, in: Gedächtnisschrift für Ellen Schlüchter, 2002, S. 653 ff.; Burhoff/Kotz/Niehaus, Rechtsmittel, Teil A Rn 71 ff.; zu den Anforderungen an die Revision in den Vertretungsfällen s. OLG Hamm, Beschl. v. 6.9.2016 III-4 RVs 96/16, StV 2018, 150; OLG Jena, Beschl. v. 28.7.2016 1 Ss 42/16, StraFo 2016, 417; OLG Oldenburg, Beschl. v. 20.12.2016 1 Ss 178/16, StV 2018, 148). Diese unterliegt den strengen Begründungsanforderungen des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO (s. z.B. BayObLG, Beschl. v. 5.4.2023 203 StRR 95/23, StraFo 2023, 358 betreffend Entschuldigungsgrund und Verletzung der Aufklärungspflicht; Burhoff, HV, Rn 2836).
Hinweis:
Die Frist für die Begründung der Revision ist nicht während des Wiedereinsetzungsverfahrens gehemmt.
Und: Neben der Verfahrensrüge sollte der Verteidiger auf jeden Fall wie immer aber auch die Sachrüge erheben.
Welche Rügen in Revision mit der Verfahrensrüge erhoben werden können und in welcher Form dies zu geschehen hat, richtet sich danach, worüber das Revisionsgericht rechtlich zu urteilen in der Lage ist. Dieser Prüfungsumfang ist bei der Anfechtung von Verwerfungsurteilen beschränkt darauf,
Hinweis:
Hat sich das Gericht in den Urteilsgründen mit den Entschuldigungsgründen auseinandergesetzt, ist das Revisionsgericht an die insoweit festgestellten Tatsachen gebunden. Es kann sie nicht ergänzen oder im Wege des Freibeweises korrigieren (BayObLG, Beschl. v. 12.9.2000 5St RR 259/00, StV 2001, 338; OLG München, Beschl. v. 8.5.2006 4St RR 66/06).
Ist nach § 329 Abs. 2 StPO ohne den Angeklagten verhandelt worden, kann er nach § 340 StPO seine Revision/Verfahrensrüge nicht damit begründen, dass seine Anwesenheit in der Berufungshauptverhandlung erforderlich gewesen wäre. Darin würde ein selbstwidersprüchliches Verhalten des nicht zur Verhandlung erschienenen Angeklagten liegen (BT-Drucks 18/3562, S. 76).
Ist die Berufung verspätet eingelegt worden, muss das AG sie nach § 319 Abs. 1 StPO als unzulässig verwerfen. Die Vorschrift, die dem für die Revision geltenden § 346 StPO entspricht, will Rechtmittel, deren Unzulässigkeit leicht festgestellt werden kann, vom Berufungsgericht fernhalten (KK/Paul, § 319 Rn 1; eingehend zur Verwerfung durch das AG Burhoff/Kotz/Niehaus, RM, Teil A Rn 354 ff.).
Hinweis:
In den Fällen, in denen der Verteidiger nicht sicher beurteilen kann, ob die Berufungsfrist tatsächlich versäumt ist oder nicht, sollte er i.V.m. dem Antrag auf Entscheidung des Berufungsgerichts nach § 319 Abs. 2 StPO sofort auch die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach §§ 44 ff. StPO beantragen. Das ist zulässig (Meyer-Goßner/Schmitt, § 319 Rn 7 i.V.m. § 346 Rn 16).
§ 319 Abs. 1 StPO ist nur anwendbar, wenn die Berufungsfrist versäumt ist. Führen andere Gründe zur Unzulässigkeit der Berufung, z.B. mangelnde Beschwer oder ein Rechtsmittelverzicht ist die Vorschrift nach allgemeiner Meinung nicht anwendbar (u.a. Meyer-Goßner/Schmitt, § 319 Rn 1 u. § 346 Rn 2 m.w.N.; KK/Paul, § 319 Rn 2 m.w.N. zur n.v. Rspr. des BGH; unzutreffend a.A. AG Köln, Beschl. v. 15.3.2022 582 Ls 6/22 für nicht den Formerfordernissen entsprechende Berufung). § 319 Abs. 1 StPO gilt auch nicht, wenn (nur) zweifelhaft ist, ob die Berufung rechtzeitig eingelegt ist. Über die Zweifel hat dann das Berufungsgericht selbst zu entscheiden (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O.).
Hinweis:
Verwirft der Amtsrichter die (rechtzeitig eingelegte) Berufung als unzulässig, weil sie nach seiner Auffassung nicht rechtzeitig eingelegt ist, obwohl sie tatsächlich nicht verspätet ist, ist dieser Beschluss aber nicht unwirksam. Der Verteidiger muss/kann dagegen vielmehr mit der einfachen Beschwerde, nach § 304 StPO vorgehen (KK/Paul, § 319 Rn 2; Bloy JuS 1986, 585, 591).
Gegen die Entscheidung des AG steht dem Verteidiger nach § 319 Abs. 2 StPO als Rechtsbehelf eigener Art der Antrag auf Entscheidung des Berufungsgerichts zu. Durch diesen ist die Beschwerde nach § 304 StPO ausgeschlossen. Für diesen Antrag gilt: Der Antrag ist nach h.M. beim AG anzubringen (Meyer-Goßner/Schmitt, § 319 Rn 3); Antragstellung unmittelbar beim Berufungsgericht reicht nicht. Der Amtsrichter kann dem Antrag nicht abhelfen, er muss die Akten nach § 319 Abs. 2 S. 2 StPO an das Berufungsgericht senden. Die Antragsfrist beträgt nach § 319 Abs. 2 S. 1 StPO eine Woche. Sie beginnt mit der Zustellung des Beschlusses, mit dem das AG die Berufung als unzulässig verworfen hat. Wird diese Frist versäumt, ist dagegen der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§§ 44 ff. StPO) zulässig.
Hinweis:
Der Antrag muss schriftlich gestellt werden. I.Ü. bedarf er aber keiner besonderen Form. Es empfiehlt sich jedoch, den Antrag zu begründen.
Über den Antrag entscheidet das Berufungsgericht. Gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts steht grds. kein Rechtsmittel zur Verfügung (Meyer-Goßner/Schmitt, § 319 Rn 5 m.w.N.). Nur wenn das AG die Berufung nicht hätte verwerfen dürfen, weil sie nicht verspätet war, ist eine Anfechtung des Beschlusses mit der sofortigen Beschwerde möglich. Dann handelt es sich nämlich tatsächlich um einen nach § 322 Abs. 1 StPO ergangenen Beschluss, der nach § 322 Abs. 2 StPO anfechtbar ist (OLG Düsseldorf VRS 86, 129; OLG Frankfurt am Main NStZ-RR 2011, 49; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O.; zur sofortigen Beschwerde Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 10. Aufl. 2025, Rn 4289).
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