aus ZAP 2023, S. 1129
(Ich bedanke mich bei der Schriftleitung von "ZAP" für die freundliche Genehmigung, diesen Beitrag aus "ZAP" auf meiner Homepage einstellen zu dürfen.)
Von Rechtsanwalt Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Leer/Augsburg
I. Einziehung (§§ 73 ff. StGB)
1. Einziehung eines Erbbaurechts als
Tatmittel
2. Einziehung ersparter
Steuer in den Fällen des § 14c Abs. 2 S. 2 UStG beim
Rechnungsaussteller?
II. Corona und StGB
III. Übersicht zur strafrechtlichen Rechtsprechung
betreffend Klimaaktivisten
IV. Anbau von
Betäubungsmitteln
V. Verkehrsstrafrecht
1. Gefährdung des
Straßenverkehrs (§ 315c StGB)
2. Trunkenheits-/Drogenfahrt
(§ 316 StGB)
a)
Führer eines Fahrzeugs
b)
Fahrtüchtigkeit
c) Entziehung der Fahrerlaubnis
3. Unerlaubtes Entfernen (§ 142
StGB), Entziehung der Fahrerlaubnis
4. Verbotenes Rennen (§ 315d StGB)
a)
Allgemeines
b) Alleinrennen
c)
Strafzumessung/Einziehung
5.
Widerstandshandlung (§ 113 StGB)
6. Entziehung der Fahrerlaubnis (§§ 69, 69a StGB, 111
StPO)
7. Sperrfrist
(§ 69a StGB)
8.
Fahrverbot (§ 44 StGB)
Die mit der Einziehung (§§ 73 ff. StGB) zusammenhängenden Fragen haben nach der 2017 erfolgten Änderung des Rechts der Vermögensabschöpfung an Bedeutung zugenommen. Das zeigt auch die Vielzahl der veröffentlichten Entscheidungen. Kaum eine Entscheidung des BGH zu Vermögens- und/oder Zueignungsdelikten oder wegen Verstößen gegen das BtMG enthält nicht auch Ausführungen zu den §§ 73 ff. StGB. Hier soll auf zwei Entscheidungen hingewiesen werden (zu den gebührenrechtlichen Fragen eingehend die Kommentierung bei Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl. 2021, zu Nr. 4142 VV RVG; Burhoff, RVGreport 2019, 82).
In dem BGH, Beschl. v. 24.11.2022 (4 StR 263/22, NStZ 2023, 371) hat sich der BGH u.a. auch mit der Einziehung eines Erbbaurechts auseinandergesetzt. Das LG hatte den Angeklagten wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und seine Ehefrau wegen Beihilfe verurteilt. Nach den Feststellungen des LG hatte die Ehefrau ein Erbbaurecht an einer unbewohnten Doppelhaushälfte erworben, damit ihr Ehemann dort in Absprache mit ihr eine Cannabisplantage anlegen konnte. Durch zwei Ernten hatte der Ehemann insgesamt 279.000 € eingenommen. Das LG hatte das Erbbaurecht als Tatmittel eingezogen. Die Revision der Angeklagten hatte mit der Verfahrensrüge, diese darauf gestützt worden ist, dass das LG einen Beweisantrag auf Vernehmung eines Auslandszeugen abgelehnt hatte, Erfolg (BGH, a.a.O.). Keinen Erfolg hatten die Angeklagten mit ihren Revisionen, soweit die Einziehung des Erbbaurechts als Tatmittel beanstandet worden war.
Nach Auffassung des BGH (a.a.O.) konnte die Einziehung rechtsfehlerfrei auf § 74 Abs. 1 StGB gestützt werden. Das Erbbaurecht als Recht an einem Grundstück (vgl. näher zu seiner Rechtsnatur OLG München FGPrax 2019, 6; Heinemann in: MüKo-BGB, 8. Aufl., § 1 ErbbauRG Rn 4 f.; Ingenstau/Hustedt, ErbbauRG, 12. Aufl., § 1 Rn 5 ff., § 12 Rn 3 ff.; Nagel, ErbbauRG, 1. Aufl., § 1 Rn 108 ff., § 12 Rn 6 ff.), sei ein taugliches Einziehungsobjekt. Denn als Gegenstände i.S.d. § 74 Abs. 1 StGB können außer Sachen, deren Einziehung Volleigentum des Täters oder Teilnehmers an ihnen voraussetzt (vgl. § 74 Abs. 3 StGB: gehören; bereits zu § 40 Abs. 2 Nr. 1 a.F. BGHSt 24, 222, 225; vgl. auch Lohse in: LK-StGB, 13. Aufl., § 74 Rn 31 ff. m.w.N. auch zur Gegenauffassung), auch Rechte eingezogen werden, wie sich aus dem systematischen Zusammenhang der Vorschrift (vgl. § 74 Abs. 3 StGB: zustehen, § 75 Abs. 1 StGB) und ihrer Entstehungsgeschichte (vgl. BT-Drucks V/1319, S. 53 zu § 40 StGB a.F.; ausführlich Lohse in: LK-StGB, 13. Aufl., vor § 73 Rn 4 ff.) ergebe (st. Rspr.; vgl. zuletzt BGH, Beschl. v. 9.3.2021 6 StR 48/21).
Das Erbbaurecht sei so der BGH (a.a.O.) auch zur Begehung der Tat, an der die angeklagte Ehefrau beteiligt gewesen sei, gebraucht worden und damit Tatmittel i.S.d. § 74 Abs. 1 StGB. Zur Begehung einer Tat gebraucht worden oder bestimmt gewesen sei allerdings nicht jeder Gegenstand, der zu der Tat irgendeine räumliche oder zeitliche Verbindung habe. Die Benutzung eines Gegenstandes nur bei Gelegenheit der Begehung einer Straftat reiche nicht aus. Erforderlich sei darüber hinaus, dass sein Gebrauch gezielt die Verwirklichung des deliktischen Vorhabens fördert bzw. nach der Planung des Täters fördern soll (BGH, Beschl. v. 8.12.2004 2 StR 362/04; Beschl. v. 9.7.2002 3 StR 165/02; vgl. Heine in: SSW-StGB, 5. Aufl., § 74 Rn 79; Burr NStZ 2006, 226, 227). Diese Voraussetzung werde zunächst in tatsächlicher Hinsicht durch das Haus ebenso wie durch das allerdings nicht im Eigentum der Angeklagten stehende Grundstück erfüllt, da es ausschließlich zum Betrieb der Cannabis-Plantage vorgesehen gewesen sei und der Tatplan des Indoor-Anbaus von Cannabis nur in geeigneten Räumen umgesetzt werden konnte (vgl. zur Einziehung von Grundstücken, auf denen Cannabis-Plantagen errichtet worden seien, bereits BGH, Beschl. v. 9.10.2018 4 StR 318/18; Beschl. v. 31.3.2016 2 StR 243/15; anders OLG Köln NStZ 2006, 225 zur Einziehung eines Grundstücks, das zur Veranstaltung unerlaubter Glücksspiele genutzt worden ist). Das LG habe dennoch zutreffend nicht das Haus als Sache eingezogen. Dieses stehe zwar im Eigentum der angeklagten Ehefrau als Erbbauberechtigter an dem Grundstück, und zwar nach der im Schrifttum ganz überwiegend vertretenen Auffassung selbst dann, wenn das Gebäude schon vor der Entstehung des Erbbaurechts errichtet worden sein sollte (vgl. nur Heinemann in: MüKo-BGB, 8. Aufl., § 12 ErbbauRG Rn 7; Rapp in: Staudinger, BGB, Neubearb. 2017, § 12 ErbbauRG Rn 11, jew. m.w.N.). Es unterliege gleichwohl nicht der Sacheinziehung. Denn das Gebäude sei gem. § 12 Abs. 1 ErbbauRG wesentlicher Bestandteil des Erbbaurechts und daher nicht sonderrechtsfähig, sodass eine gesonderte Übertragung des Eigentums an ihm und damit auch ein Übergang desselben auf den Staat nach § 75 Abs. 1 StGB nicht möglich sei (vgl. Heinemann, a.a.O.). Zu Recht habe das LG daher stattdessen das Erbbaurecht der Angeklagten an dem Grundstück eingezogen. Denn das für die Cannabis-Plantage benutzte Haus sei infolge seiner Eigenschaft als wesentlicher Bestandteil des Erbbaurechts so eng mit diesem verknüpft, dass sich der Gebrauch des Hauses zugleich als Gebrauch des Erbbaurechts i.S.v. § 74 Abs. 1 StGB darstelle. Der diesem Ergebnis entgegenstehenden Auffassung, Tatobjekt sei bei tatsächlichem Einsatz einer Sache allein diese selbst und nicht ein an ihr bestehendes Recht (vgl. in diesem Sinn zum Anwartschaftsrecht BGHSt 24, 222; Saliger in: NK-StGB, 5. Aufl., § 74 Rn 25) hier also außer dem rechtlich unselbstständigen Gebäude allenfalls noch das Grundstück, welches aber im Eigentum eines tatunbeteiligten Dritten stehe (§ 74 Abs. 3 StGB) ‒, hat sich der BGH (a.a.O.) nicht angeschlossen. Es entspreche vielmehr der Rechtsprechung des BGH, von der abzuweichen kein Anlass bestehe, dass jedenfalls solche dinglichen Rechte, die an der zur Tatbegehung (körperlich) verwendeten Sache bestehen und dabei dem Volleigentum (§ 903 BGB) rechtlich angenähert seien, statt der Sache als Tatobjekte eingezogen werden können (vgl. zum Anwartschaftsrechts an einer beweglichen Sache BGHSt 25, 10, 11 f. zu § 40 StGB a.F.; BGH NStZ-RR 1999, 11; zum Miteigentumsanteil BGH NStZ 1991, 496; vgl. auch OLG Karlsruhe NJW 1974, 709, 711 zu § 40a StGB a.F.). Das Erbbaurecht der Angeklagten an dem Grundstück, auf welchem das Plantagengebäude stehe, sei ein derartiges Recht.
Hinweis:
Die Entscheidung ist eine konsequente Fortführung der bisherigen Rechtsprechung des BGH zur Einziehung von Rechten und zur Einziehung eines Erbbaurechts (vgl. dazu die o.a. Rechtsprechung).
Dem BGH, Beschl. v. 2.5.2023 (1 StR 77/23, NStZ-RR 2023, 210 [Ls.]) lag ein Steuerstrafverfahren zugrunde. Der Angeklagte war nach den landgerichtlichen Feststellungen im Tatzeitraum von Januar 2017 bis September 2020 faktischer Geschäftsführer von sechs Servicefirmen, deren alleiniger Geschäftszweck darin bestand, Scheinrechnungen über nicht erbrachte Subunternehmerleistungen zu erstellen und diese Rechnungen an Steuerpflichtige zu verkaufen, denen damit Schwarzlohnzahlungen ermöglicht wurden (Abdeckrechnungen). In diesen Rechnungen wies der Angeklagte insgesamt über 2,3 Mio. € Umsatzsteuer aus. Obwohl sich aufgrund dieses unberechtigten Ausweises der Umsatzsteuer nach § 14c Abs. 2 S. 2 UStG ergab, dass dieser Steuerbetrag dem Fiskus geschuldet wurde, kam der Angeklagte seinen sich als faktischer Geschäftsführer aus § 35 AO ergebenden Erklärungspflichten für die Servicefirmen gem. § 18 UStG bezüglich dieser Umsatzsteuer nicht nach, indem er für die Servicefirmen weder Umsatzsteuervoranmeldungen noch Umsatzsteuerjahreserklärungen abgab. Er verkürzte so Steuern i.H.v. insgesamt 2.364.761,43 €. Das LG hatte auch insoweit die Einziehung angeordnet.
Das hat der BGH (a.a.O.) beanstandet. Der Angeklagte habe sich zwar hinsichtlich des nach § 14c Abs. 2 S. 2 UStG geschuldeten Steuerbetrags der mehrfachen Steuerhinterziehung nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO schuldig gemacht, jedoch habe er, was die Einziehung anbelangt, nichts i.S.v. § 73 Abs. 1 StGB aus diesen Taten erlangt. Denn dafür müsste sich aus diesen Taten als ersparte Steuern ein Steuervorteil in seinem Vermögen widerspiegeln. In den Fällen, in denen lediglich aufgrund von Scheinrechnungen mit offenen Steuerausweis für die Umsatzsteuer nach § 14c Abs. 2 S. 2 UStG der Rechnungsaussteller einzustehen habe, sei aber ein solcher Vermögensvorteil gerade nicht gegeben (BGH, Beschl. v. 5.6.2019 1 StR 208/19; Beschl. v. 25.3.2021 1 StR 28/21; Beschl. v. 8.3.2023 1 StR 22/23).
Hinweis:
Hinzuweisen ist darauf, dass derjenige, der für die Umsatzsteuer einzustehen hat, nach § 18 Abs. 4a u. 4b UStG diese Umsatzsteuer anzumelden hat. Verletzt er diese Erklärungspflicht, begeht er eine Steuerhinterziehung (BGH, Beschl. v. 7.9.2016 1 StR 57/16, NStZ-RR 2017, 14; FG Hamburg, Urt. v. 6.9.2012 2 K 232/11, NZWiSt 2014, 226).
Nach Auffassung der Politik soll die Corona-Pandemie zwar vorbei sein, das gilt aber sicherlich nicht für den rechtlichen Bereich. Denn in diesem werden wir noch länger infolge der Abwicklung anhängiger Verfahren damit zu tun haben (vgl. zur Rechtsprechung zu Coronafragen aus der letzten Zeit die Rechtsprechungsübersicht von Deutscher, StRR 3/2023, 6 ff.). Hier soll daher noch einmal auf eine Problematik eingegangen werden, die die Gerichte in der Vergangenheit besonders beschäftigt hat. In der Rechtsprechung war nämlich umstritten, ob die Fälle von gefälschten oder durch falsche Tatsachen erschlichene ärztliche Atteste, Impfzeugnisse und Testnachweise von §§ 277, 279 StGB a.F. erfasst wurden oder nicht. Teilweise war davon ausgegangen worden, dass insoweit eine Strafbarkeitslücke besteht (OLG Bamberg NJW 2022, 556), teilweise ist das verneint worden und man ist davon ausgegangen, dass der Tatbestand der Urkundenfälschung nach § 267 StGB bei der Vorlage eines gefälschten Impfpasses in einer Apotheke zwecks Erlangung eines COVID-19-Impfzertifikats nicht durch die Vorschriften der §§ 277279 StGB a.F. verdrängt wird (BayObLG, Beschl. v. 22.7.2022 202 StRR 71/22; OLG Celle, Urt. v. 31.5.2022 1 Ss 6/22, NJW 2022, 2054 = StraFo 2022, 294; OLG Hamburg, Beschl. v. 27.1.2022 1 Ws 114/21; OLG Stuttgart, Beschl. v. 8.3.2022 1 Ws 33/22, StV 2022, 397; OLG Schleswig, Beschl. v. 31.3.2022 1 Ws 19/22). Das OLG Karlsruhe hatte diese Frage dann dem BGH vorgelegt (vgl. OLG Karlsruhe, Beschl. v. 26.7.2022 2 Rv 21 Ss 262/22).
Der hat über die Vorlage nicht entschieden, sondern die Sache mit Beschl. v. 13.7.2023 (1 StR 286/22) an das OLG zurückgegeben, weil die Vorlegungsvoraussetzungen nicht mehr gegeben seien. Denn der 1. Strafsenat hatte bereits durch Urt. v. 12.7.2023 (1 StR 260/22) entschieden, dass in Sachverhaltsgestaltungen, in denen der gefälschte Impfpass in einer Apotheke zur Erlangung eines digitalen Impfzertifikats vorgelegt wird, eine Sperrwirkung durch eine privilegierende Spezialität des § 279 StGB a.F. gegenüber dem allgemeinen Urkundstatbestand des § 267 Abs. 1 StGB nicht gegeben ist. Der Senat hatte sich hierbei der grundlegenden Entscheidung des 5. Strafsenats des BGH (Urt. v. 10.11.2022 5 StR 283/22, BGHSt 67, 141 m. Anm. Deutscher, StRR 8/2023, 31) angeschlossen, der ebenfalls zur Strafbarkeit durch den Fälscher des Impfausweises Stellung genommen hatte und dabei (auch) davon ausgegangen war, dass das das Fälschen von Gesundheitszeugnissen nach § 277 StGB a.F. zur Urkundenfälschung nach § 267 StGB nicht im Verhältnis sog. privilegierender Spezialität steht.
Hinweis:
Die entschiedene Streitfrage betrifft nur die Behandlung und Abwicklung von Altfällen und hat für Neufälle nach der Änderung des § 279 StGB am 24.11.2021 durch das Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze anlässlich der Aufhebung der Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite v. 22.11.2021 (BGBl I, S. 4906) keine Auswirkung.
Klimaschutz ist derzeit in aller Munde und damit auch die Frage: Tun wir für Klimaschutz genug? Nein, meinen Klimaaktivisten, die dann für ihre Ziele auf die Straße gehen. Dabei geht es nicht immer friedlich zu. Wie diese Protestaktionen ggf. strafrechtlich einzuordnen sind, ist in der Rechtsprechung noch nicht abschließend geklärt. Zu den Fragen liegen bislang weder verfassungsrechtliche noch höchstrichterliche Rechtsprechung vor.
Die nachfolgende Übersicht stellt die zu den Fragen bisher bekannt gewordene Instanzrechtsprechung vor. Sie enthält jeweils eine kurze Sachverhaltsdarstellung und dann die Leitsätze der jeweiligen Entscheidung. Sämtliche Entscheidungen sind im Internet frei zugänglich veröffentlicht.
Hinweis:
In der Tagespresse sind darüber hinaus weitere Entscheidungen veröffentlicht worden. Von denen waren aber teilweise nur die dazu ergangenen Pressemitteilungen bekannt, häufig fehlten die Aktenzeichen, sodass es kaum möglich ist, Näheres zu diesen Entscheidungen zu erfahren.
Sachverhalt |
Entscheidung |
Der Angeklagte hatte sich auf der Fahrbahn einer Straße in München mit Sekundenkleber festgeklebt und dadurch im Zusammenwirken mit weiteren Personen eine unbekannte, größere Anzahl von Autofahrern am Weiterfahren gehindert oder zur Umfahrung der blockierten Straße gezwungen. Das AG hat den Angeklagten wegen Nötigung schuldig gesprochen. Seine Revision dagegen blieb erfolglos. |
Eine Nötigung (§ 240 StGB) durch Festkleben auf einer Straße, um Autofahrer an der Weiterfahrt zu hindern und dadurch auf die Gefahren des Klimawandels aufmerksam zu machen, ist nicht durch Art. 20 Abs. 4 GG, § 34 StGB direkt oder analog oder wegen zivilen Ungehorsams gerechtfertigt. |
2. KG, Beschl. v. 16.8.2023 3 ORs 46/23 161 Ss 61/23, NJW 2023, 2792 = StRR 10/2023, 25 |
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Nach den getroffenen Feststellungen beteiligte sich die Angeklagte am Tattag von 8.00 bis 9.40 Uhr auf einem Autobahnzubringer in Berlin an einer Straßenblockade der Gruppierung Aufstand der letzten Generation, bei der sich sie und drei weitere Personen aufgrund eines zuvor gefassten gemeinsamen Tatplans auf die Fahrbahn der viel befahrenen Straße setzten, um so die auf der Straße befindlichen Fahrzeugführer bis zur Räumung der Blockade durch Polizeibeamte an der Fortsetzung ihrer Fahrt zu hindern. Wie von ihr beabsichtigt, kam es aufgrund der Blockade bis zu deren Auflösung zu einer erheblichen Verkehrsbeeinträchtigung in Form eines ca. 60 Minuten andauernden Rückstaus zahlreicher Fahrzeuge über mehrere hundert Meter. Zur Erschwerung der erwarteten polizeilichen Maßnahmen zur Räumung der Blockade befestigte sie zeitgleich ihre rechte Hand mit Sekundenkleber auf der Fahrbahn, sodass die Polizeibeamten sie erst nach Lösung des Klebstoffs, die eine bis eineinhalb Minuten in Anspruch nahm, von der Straße tragen konnten. Das AG Tiergarten hat wegen gemeinschaftlich begangener Nötigung in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte verurteilt. Das KG hat auf die Revision des Angeklagten wegen unzureichender Beweiswürdigung aufgehoben, dabei aber Ausführungen zur Rechtslage gemacht. |
1. Eine Strafbarkeit wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte nach § 113 Abs. 1 StGB kommt auch dann in Betracht, wenn sich der Täter bereits vor Beginn der Vollstreckungshandlung auf der Fahrbahn mit Sekundenkleber o.ä. festklebt, um die von ihm erwartete alsbaldige polizeiliche Räumung der Fahrbahn nicht nur unwesentlich zu erschweren. 2. Um ein gezieltes Verhalten des Täters vom bloßen Ausnutzen eines bereits vorhandenen Hindernisses abzugrenzen, muss in derartigen Fallgestaltungen der Wille des Täters dahin gehen, durch seine Tätigkeit den Widerstand vorzubereiten. 3. Dass Polizeibeamte das durch Festkleben entstandene physische Hindernis durch Geschicklichkeit hier unter Verwendung eines Lösungsmittels zu beseitigen in der Lage sind, steht dem Merkmal der Gewalt nicht grds. entgegen und nimmt ihm in Bezug auf den dem Vollstreckungsbeamten nicht ohne Weiteres die körperliche Spürbarkeit. |
3. OLG Celle, Beschl. v. 29.7.2022 2 Ss 91/22, NStZ 2023, 113 = StRR 2/2023, 27 |
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Der Angeklagte hat im Sommer 2021 jeweils absichtlich die Fassade des Zentralgebäudes der Leuphana Universität mit Wandfarbe verunstaltet. Außerdem hat er zudem folgende Worte auf die Fassade gesprüht: Leuphana divest: Kohle aus Nord/LB. Hiermit hat der Angeklagte auf den womöglich unumkehrbaren Klimawandel aufmerksam machen und zu sofortigem Handeln appellieren wollen. Der Universität ist dadurch ein Schaden i.H.v. 1.640,25 € bzw. 11.377,89 € für die Beseitigung der Verunstaltungen entstanden. Das AG Lüneburg (vgl. AG Lüneburg, Urt. v. 12.4. 2022 15 Ds 186/21) hat den Angeklagten wegen Sachbeschädigung (§ 303 StGB) verurteilt. Seine Revision hatte beim OLG keinen Erfolg. |
1. Ein tatbestandliches Verhalten (hier: Sachbeschädigung), durch das der Täter bezweckt, auf die Gefahren des Klimawandels aufmerksam zu machen und die Politik zu Maßnahmen zu deren Abwehr zu veranlassen, ist weder vor dem Hintergrund des allgemeinen rechtfertigenden Notstands gem. § 34 StGB, noch als ziviler Ungehorsam gerechtfertigt. 2. Eine strafrechtliche Rechtfertigung der Begehung einer Tat, die allein dazu dient, in einer Angelegenheit von wesentlicher allgemeiner Bedeutung, insb. zur Abwendung schwerer Gefahren für das Allgemeinwesen, auf den öffentlichen Meinungsbildungsprozess einzuwirken oder die Politik zu einem bestimmten Handeln zu veranlassen (ziviler Ungehorsam), ist ausgeschlossen. |
4. OLG Düsseldorf, Urt. v. 21.9.2022 4 RVs 48/22 |
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Der Angeklagte und weitere Personen hatten sich als Aktion Lebenslaute zusammengeschlossen, um gemeinsam u.a. für Klimaschutz und gegen den vor diesem Hintergrund abgelehnten Braunkohletagebau zu demonstrieren. In Ausübung dessen betraten der Angeklagte und seine gesondert verfolgten 52 Mittäter(innen) am frühen Morgen eines Tages im Jahr 2021 ein Braunkohlentagebaugelände, indem sie über die Rampe X den Erdwall, der das Tagebaugelände umgab, überwandten. Auf dem Tagebaugelände musizierten der Angeklagte und seine Mittäter(innen) gemeinsam vor einem mitgeführten Anti-Kohle-Banner. Kurz darauf trafen Polizeibeamte ein. Deren Aufforderung, sich auszuweisen und das Tagebaugelände zu verlassen, entsprachen der Angeklagte und seine Mittäter(innen) widerstandslos. Die Staatsanwaltschaft hat dem Angeklagten einen Hausfriedensbruch (§ 123 StGB) vorgeworfen. Das AG Mönchengladbach-Rheydt hat von dem Vorwurf freigesprochen. Es könne aus den Grundrechten des Täters unmittelbar eine Rechtfertigung oder ein Entschuldigungsgrund hergeleitet werden. Das OLG hat aufgehoben und zurückverwiesen. |
1. Es kann offenbleiben, ob aus den Grundrechten des Täters unmittelbar eine Rechtfertigung oder ein Entschuldigungsgrund hergeleitet werden kann. 2. Ein strafbarkeitsausschließender Vorrang durch die Betätigung von Grundrechten kann jedenfalls nur dann gegeben sein, wenn für den Täter keine andere effektive Möglichkeit bestanden hat, seine Grundrechte straffrei auszuüben. |
5. OLG Köln, Beschl. v. 26.8.2016 1 RVs 186/16 |
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Der Angeklagte hat sich 2014 an einem sog. Aktionstag von Klimaaktivisten beteiligt. Um seinen Unmut gegen die Braunkohleförderung und -verbrennung im Rheinischen Revier zum Ausdruck zu bringen, betrat er unweit eines Kohlebunkers die Gleise der Privatbahnstrecke der S AG, die den von dieser betriebenen Tagebau mit den ebenfalls von ihr betriebenen Kraftwerken und Brikettfabriken im Landkreis verbindet. Von unbekannt gebliebenen Personen aus dieser Gruppe wurde zunächst an zwei Stellen der Gleisschotter auf einem kurzen Gleisstück der Gleisanlagen beseitigt. Nach dieser sog. Ausschotterung kettete sich der Angeklagte derart an ein Gleis an, dass seine Arme innerhalb eines Stahlrohrs gefesselt waren und auch die eingesetzten polizeilichen Kräfte den Angeklagten zunächst von den Gleisen nicht entfernen konnten. Durch die Ankettung des Angeklagten wurde der Schienen- und Bahnverkehr der S wie von dem Angeklagten gewollt behindert. Das AG Jülich und das LG Aachen haben den Angeklagten wegen Störung öffentlicher Betriebe (§ 316b StGB) verurteilt. Die Revision hatte keinen Erfolg. |
1. Private Anlagen genießen den Schutz des § 316b Abs. 1 Nr. 2 StGB, wenn sie der öffentlichen Versorgung dienen, d.h. ein bestimmtes Gebiet regelmäßig beliefern. 2. Ein Verändern i.S.d. § 316b StGB setzt keinen beschädigenden Eingriff in die Sachsubstanz voraus, sondern liegt bereits dann vor, wenn ohne Einwirkung auf die Substanz der Anlage der bisherige Zustand durch einen anderen ersetzt und hierdurch deren Funktionsfähigkeit gemindert wird. Einen solchen Eingriff stellt auch das Anketten an eine Gleisstrecke dar. |
6. LG Berlin, Beschl. v. 21.11.2022 534 Qs 80/22, StRR 4/2023, 27 |
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Der Angeschuldigten wird vorgeworfen, sich am in der Zeit von ca. 8.00 Uhr bis 09.16 Uhr i.R.d. Straßenblockade der Gruppierung Aufstand der letzten Generation auf die Fahrbahn einer Straßenkreuzung in Berlin gesetzt zu haben, um die auf der betreffenden Straße befindlichen Fahrzeugführenden bis zur Räumung der Blockade durch Polizeivollzugsbeamte an der Fortsetzung ihrer Fahrt zu hindern. Zudem soll die Angeschuldigte ihre rechte Hand mit Sekundenkleber auf die Fahrbahn geklebt und dadurch die von ihr erwarteten polizeilichen Maßnahmen zur Räumung der Blockade erschwert haben. Das AG Tiergarten, Beschl. v. 5.10.2022 (303 Cs) 237 Js 2450/22 (202/22) hat die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt. Das LG hat die Anklage wegen Nötigung (§ 240 StGB) und Widerstand (§ 113 StGB) zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. |
Beim Festkleben mit der Hand auf einer Fahrbahn, ihm Rahmen einer Straßenblockade, um Fahrzeugführer an ihrer Weiterfahrt zu hindern, bis die Blockade durch Polizeieinsatzkräfte geräumt wird, besteht hinreichender Tatverdacht hinsichtlich Nötigung und Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte. |
7. LG Berlin, Urt. v. 18.1.2023 518 Ns 31/22 |
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Der Angeklagte hat sich im Februar 2022 mit elf weiteren Aktivisten der Gruppe Letzte Generation im Bereich einer Zufahrt zur Stadtautobahn A 100 in Berlin-Moabit nur auf die Fahrbahn gesetzt, während zwei andere Demonstranten sich auf der Fahrbahn mit Sekundenkleber festgeklebt hatten. Das AG Tiergarten hat ihn wegen Nötigung verurteilt. Die Berufung dagegen ist ohne Erfolg geblieben |
Die Sitzblockade eines sog. Klimaaktivisten ist grundsätzlich als verwerflich i.S.d. § 240 Abs. 2 StGB anzusehen und insb. nicht durch die in Art. 8 Abs. 1 GG geschützte Versammlungsfreiheit, deren Prüfungsmaßstab allein maßgeblich ist, gerechtfertigt. Es ist eine Prüfung der Zweck-Mittel-Relation vorzunehmen. Entscheidend zu berücksichtigen ist i.R.d. vorzunehmenden Abwägung v.a. das Gewicht des gewaltsamen Eingriffs in die Rechte Dritter, die von den Tätern zu Objekten ihrer Selbstdarstellung gemacht werden. |
8. LG Berlin, Beschl. v. 20.4.2023 503 Qs 2/23 |
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Die Beschuldigte soll am 19.5.2022 mit elf weiteren Personen an einer nicht angemeldeten Versammlung mit dem Themenbezug Muttis gegen den Klimawandel teilgenommen und sich um zusätzliche Aufmerksamkeit zu erzeugen ebenso wie vier weitere Personen mit einer Handfläche an die Scheibe der Eingangstür einer Deutschen Bank Filiale in Berlin festgeklebt haben. Der Aufforderung der Polizei, sich an einen anderen zugewiesenen Versammlungsort zu begeben, sei sie nicht nachgekommen, weswegen ihre Hand mit Hilfe einer Aceton-Lösung habe von der Scheibe gelöst werden müssen. Dies habe etwa drei Minuten in Anspruch genommen. Durch ihr Vorgehen sei es der Angeschuldigten darauf angekommen, die polizeiliche Maßnahme nicht unerheblich zu erschweren. Das AG Tiergarten hat den Erlass eines Strafbefehls abgelehnt. Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft hatte keinen Erfolg. |
Ein Protest durch Ankleben stellt keine Gewalt i.S.v. § 113 StGB dar, wenn sich die Verbindung ohne Gewaltanwendung wieder lösen lässt. Denn der Widerstand müsste durch den Amtsträger nur mit nicht ganz unerheblicher Gewaltanstrengung überwunden werden können (dazu BGH, Beschl. v. 11.6.2020 5 StR 157/20). Ein bloßer Zeitaufwand bei der Überwindung des Widerstandes, selbst wenn dieser erheblich ist, und die damit verbundene Lästigkeit für die Vollstreckungsbeamten (hier: Lösung mittels Aceton) sind danach nicht ausreichend (entgegen LG Berlin, Beschl. v. 21.11.2022 534 Qs 80/22, StRR 4/2023, 27). |
9. LG Berlin, Beschl. v. 31.5.2023 502 Qs 138/22 |
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Dem Angeschuldigten wird zur Last gelegt, sich am 30.6.2022 zwischen 8.50 Uhr und 9.05 Uhr mit fünf weiteren Mittätern an einer Straßenblockade der Gruppierung Aufstand der letzten Generation beteiligt und sich aufgrund eines zuvor gefassten gemeinsamen Tatplans auf die Fahrbahn einer vielbefahrenen Straße gesetzt zu haben, um so die auf der betreffenden Straße befindlichen Fahrzeugführer bis zur Räumung der Blockade durch die Polizeivollzugsbeamten an der Fortsetzung ihrer Fahrt zu hindern. Es sei wie von dem Angeschuldigten beabsichtigt aufgrund der Blockade bis zu deren Auflösung zu einer erheblichen Verkehrsbeeinträchtigung in Form eines Rückstaus zahlreicher Fahrzeuge gekommen. Dabei habe sich der Angeschuldigte zur Erschwerung der erwarteten polizeilichen Maßnahmen zur Räumung der Blockade mittels Klebstoffs auf der Straße befestigt, sodass die Polizeivollzugsbeamten den Angeschuldigten erst nach Lösung des Klebstoffs, die jeweils nicht nur ganz unerhebliche Zeit in Anspruch genommen habe, von der Straße tragen konnten. Das Ablösen habe zwei Minuten gedauert. Das AG Tiergarten hatte den Erlass eines Strafbefehls abgelehnt. Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft hatte Erfolg. |
Eine Straßenblockade durch Klimaaktivisten stellt nach der sog. Zweite-Reihe-Rechtsprechung des BGH Gewalt i.S.d. § 240 Abs. 1 StGB dar. Denn die Fahrer in der zweiten Reihe und den nachfolgenden Reihen werden durch unüberwindbare physische Hindernisse, nämlich den Fahrzeugen vor und hinter ihnen, an der Weiterfahrt gehindert, womit auch der erstrebte Nötigungserfolg eingetreten ist. Die darin liegende Nötigung anderer Verkehrsteilnehmer kann jedoch nach Abwägung aller Umstände gem. § 240 Abs. 2 StGB gerechtfertigt sein. |
10. LG Bremen, Beschl. v. 22.6.2021 2 Qs 213/21 |
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Im April 2021 führten mehrere Klimaaktivisten der Gruppierung Extinction Rebellion in Bremen und im Umland koordinierte Protestaktionen durch, mit denen sie auf die Notwendigkeit eines zeitnahen Handelns gegen den Klimawandel, hier insb. mit Blick auf die sog. Verkehrswende, aufmerksam machen wollten. Diese Aktionen richteten sich allesamt gegen den Individualverkehr. Von den Aktivisten wurde der Verkehr im Bereich zweier Autobahnabfahrten gestört, indem sich die Aktivisten dort mit Transparenten über mehrere Stunden auf der Fahrbahn aufhielten und Schilderbrücken besetzten, an denen sie (wie auch an einigen anderen Straßenschildern) Transparente anbrachten. Bei dieser Aktion soll auch der Beschuldigte zugegen und an dem Versuch beteiligt gewesen sein, einen Fahrzeugführer an der Weiterfahrt zu hindern. Gegen den Beschuldigten wurde ein Strafverfahren wegen Nötigung (§ 240 StGB) eingeleitet, in dem eine Durchsuchung beim Beschuldigten beantragt wurde. Das AG Bremen hat den Antrag mit dem AG Bremen, Beschl. v. 18.5.2021 92b Gs 448/21 (225 Js 25762/21) abgelehnt. Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft hatte keinen Erfolg. |
1. Bei der Prüfung, ob in den Fällen der Verkehrsstörung aus Klimaschutzgründen eine verwerfliche Mittel-Zweck-Relation gem. § 240 Abs. 2 StGB vorliegt, kommt dem Anliegen der Klimaaktivisten, auf die Notwendigkeit des Klimaschutzes gerade auch mit Bezugnahme auf den Individualverkehr hinzuweisen ein erhebliches Gewicht in der zu treffenden Abwägung zu. 2. Es ist eine Abwägungsentscheidung zwischen den Rechtsgütern der Betroffenen, der Fortbewegungsfreiheit der Autofahrer und der Versammlungsfreiheit der Aktivisten unter Bezugnahme auf die soziale Gewichtigkeit des verfolgten Anliegens sowie dem Grad der festzustellenden Einschränkungen der Verkehrsteilnehmer vorzunehmen. Dabei ist die Schwere des Eingriffs in die Rechte der betroffenen Fahrzeugführer und die Gefährlichkeit des Eingriffs für Dritte zu bewerten. |
11. AG Eschweiler, Urt. v. 4.12.2019 32 Ls 49/18 |
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Der Angeklagte und Mitangeklagte haben sich im November 2017 mit einem Dreibein auf zwei Förderbändern, mit denen Braunkohle einem Braunkohlekraftwerk zugeführt werden konnte, verankert. Nachdem Mitarbeiter des Kraftwerks die Personen auf den Förderbändern entdeckten, wurden die Förderbänder abgeschaltet, um sowohl Verletzungen der Personen als auch an der Anlage zu verhindern. Die Mitarbeiter des Kraftwerks benachrichtigten die Polizei. Im Rahmen des folgenden Einsatzes wurden die Angeklagten jeweils durch Polizeibeamte aufgefordert, das Werksgelände zu verlassen. Dieser Aufforderung sind sie nicht nachgekommen. Das AG hat die Angeklagten wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 StGB) verurteilt. |
1. Die Angeklagten können sich nicht auf Notwehr bzw. Nothilfe i.S.d. § 32 StGB bzw. § 227 BGB berufen, da lediglich eine Sachgefahr in Betracht kommt und kein gegenwärtiger Angriff eines Menschen auf Rechtsgüter der Angeklagten oder Dritter vorliegt. Auch wenn das Kraftwerk von Menschen betrieben und geleitet wird, handelt es sich vorliegend um eine Sachgefahr, die von den Schadstoffen i.R.d. Verbrennung von Braunkohle zu Tage tritt. 2. Die Angeklagten können sich auch nicht auf einen rechtfertigenden Notstand gem. § 34 StGB bzw. § 228 BGB berufen. Zwar hat der Klimawandel schon jetzt konkrete Auswirkungen auf die Menschheit. Es fehlt allerdings an der Geeignetheit der Kraftwerksbesetzung, denn es handelt sich um eine rein politisch motivierte Symboltat, weshalb sich die Angeklagten bei einer zeitlichen Behinderung des Betriebs des Kraftwerks nicht auf eine dauerhafte Verhinderung einer Gefahrenlage berufen können. |
12. AG Flensburg, Urt. v. 7.11.2022 440 Cs 107 Js 7252/22 |
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Dem Eigentümer eines Grundstücks ist für die Bebauung eines Waldabschnitts mit einem Hotel eine Baugenehmigung erteilt worden. Für die Bebauung war die Rodung von weiten Teilen des Baumbestandes vorgesehen. Anfang Januar 2020 begaben sich erstmals ungefähr 20 Menschen auf das Privatgrundstück der Immobilienfirma und errichteten in dem zugehörigen Waldabschnitt mehrere Baumhäuser. Im Februar 2021 wurden wesentliche Teile des Grundstücks vollständig mit Bauzäunen umstellt, um mit der Rodung zu beginnen. Unter den Anwesenden war an diesem Morgen auch der Angeklagte, der nach der Umzäunung des Gebiets noch drei Tage lang auf einem Baum verweilte, um die Fällung zu verhindern. Das AG hat den Angeklagten vom Vorwurf des Hausfriedensbruchs (§ 123 StGB) freigesprochen. |
1. Die Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstands gem. § 34 StGB sind im Licht der sich sowohl aus der Staatszielbestimmung des Art. 20a GG ergebenden als auch auf die Grundrechte des Grundgesetzes stützende und damit wechselseitig normativ verstärkten Bedeutung der verfassungsrechtlichen Verpflichtung zum Klimaschutz auszulegen. 2. Die mit den Folgen des Klimawandels verbundenen Risiken bilden aktuell eine gegenwärtige Gefahr i.S.d. § 34 StGB. 3. Unter verfassungsrechtlich gebotener Berücksichtigung der hohen Wertigkeit des Klimaschutzes sind i.R.d. Prüfung der Erforderlichkeit der Handlung i.S.d. § 34 StGB sowohl hohe Anforderungen an die objektiv gleiche Eignung von Handlungsalternativen zu stellen als auch dem Täter ein begrenzter Einschätzungsspielraum bei seiner ex ante erfolgenden Beurteilung einer gleichen Eignung einzuräumen. |
13. AG Heilbronn, Urt. v. 6.3.2023 26 Ds 16 Js 4813/23 |
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Die Angeklagten haben an einer bundesweiten Protestaktion in Form einer Straßenblockade der Letzten Generation teilgenommen. In Ausführung dieses Planes blockierten die Angeklagten gegen 8 Uhr eine mehrspurige Straße und setzten sich mit jeweils rund einem bis eineinhalb Meter Abstand zueinander in einer Reihe auf die drei Richtungsfahrbahnen. Zwei Angeklagte befestigten jeweils eine Hand mittels Kleber auf dem Asphalt, sodass die Angeklagten beim Heranfahren von Kraftfahrzeugen nicht ausweichen konnten, und um hierdurch zugleich die Einsatzkräfte für eine nicht unerhebliche Zeit daran zu hindern, die Fahrbahn zu räumen, und die auf der Neckarsulmer Straße stadteinwärts am Verkehr teilnehmenden Kraftfahrzeugfahrer während der Dauer der Blockadeaktion von der Weiterfahrt abzuhalten. Durch dieses Vorgehen wurden mind. drei Verkehrsteilnehmer an der Weiterfahrt gehindert. Das AG hat wegen Nötigung (§ 240 StGB) verurteilt. |
1. Keine Gewalt i.S.d. § 240 StGB ist die bloße Anwesenheit von Demonstranten auf der Fahrbahn, soweit sie sich nur als psychische Hemmung auf die anhaltenden Fahrer auswirkt, die Demonstranten nicht zu überfahren. Ab der zweiten Reihe der anhaltenden Fahrer wirkt aber nicht nur die psychische Hemmung, sondern auch die in erster Reihe bzw. davorstehenden Fahrzeuge als physische Sperre. 2. Zur Verwerflichkeit einer Straßenblockade i.S.v. § 240 Abs. 2 StGB. 3. Auch wenn man den Klimawandel als eine gegenwärtige Gefahr einstuft, ist eine Straßenblockade dennoch weder ein erforderliches noch angemessenes Mittel zur Gefahrenabwehr i.S.d. § 34 StGB. 4. Wenn ein Angeklagter glaubhaft angibt, von strafrechtlichen Sanktionen nicht davon abgehalten zu werden, gleichgelagerte Straftaten zu begehen, liegen besondere Umstände in der Persönlichkeit des Angeklagten vor, die zur Einwirkung auf ihn die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe gem. § 47 Abs. 1 StPO auch unter Berücksichtigung des Übermaßverbotes unerlässlich machen. |
14. AG München, Urt. v. 1.6.2023 1035 Ds 113 Js 185580/22 jug (2) |
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Am 27.8.2022 gegen 18.45 Uhr betraten die Angeklagten ihrem zuvor gemeinsam gefassten Tatplan entsprechend das Spielfeld der Allianz Arena in München entgegen dem erkennbaren Willen der Berechtigten, während dort zu diesem Zeitpunkt die erste Halbzeit des Bundesligafußballspiels zwischen dem FC Bayern München und Borussia Mönchengladbach stattfand. Dazu überwanden sie die Bande, die zur Abtrennung des Spielfelds vom Zuschauerraum dienen. Sofort folgten die Sicherheitsmänner und trugen die Angeklagten und anderweitig Verfolgten vom Spielfeld. Das AG hat die Angeklagten wegen Hausfriedensbruchs (§ 123 StGB) verurteilt. |
1. Die Tat der Angeklagten ist nicht nach Art. 20 Abs. 4 GG gerechtfertigt. Eine Konstellation, in der die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik Deutschland gefährdet ist und die staatlichen Organe nicht in der Lage sind, die verfasste Ordnung selbst hinreichend zu schützen ist nicht gegeben. 2. Das Handeln der Angeklagten ist nicht gem. § 34 StGB gerechtfertigt. Es mangelt jedenfalls an der Angemessenheit der vermeintlichen Notstandshandlung (§ 34 S. 2 StGB). |
15. AG Tiergarten, Urt. v. 16.5.2023 298 Cs 269/22 |
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Dem Angeklagten sind mehrere Nötigungen von Verkehrsteilnehmern infolge Straßenblockaden aus Klimaschutzgründen vorgeworfen worden. Das AG Tiergarten hat die Nötigungen als nicht rechtswidrig i.S.d. § 240 Abs. 2 StGB angesehen. Es hat jedoch wegen Verstößen gegen das VersammlungsG Berlin verurteilt. |
1. Bei der den Protestierenden der sog. Letzten Generation vorgeworfenen Nötigung sind bei Anwendung und Auslegung der Verwerflichkeitsklausel nach § 240 Abs. 2 StGB im Lichte des Art. 8 GG wichtige Abwägungselemente u.a. die Dauer und Intensität der Aktion, deren vorherige Bekanntgabe, Ausweichmöglichkeiten über andere Zufahrten, die Dringlichkeit des blockierten Transports, aber auch der Sachbezug zwischen den in ihrer Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen und dem Protestgegenstand. 2. Wurden Autofahrende auf einer der staubelasteten Autobahn Deutschlands durch die Blockade rund 30 Minuten an der Weiterfahrt gehindert, wobei sich ein Stau von mehreren Metern bildete, die Blockadeaktion jedoch zumindest abstrakt im Vorfeld medial angekündigt wurde und ein konkreter Sachbezug (Öl sparen statt Bohren und Nordseeöl? Nö!) gegeben war, stellt sich die Nötigung nicht als verwerflich i.S.d. § 240 Abs. 2 StGB dar, wenn die Polizei die Blockade vor der Räumung versammlungsrechtlich nicht beschränkt oder aufgelöst hat. 3. Ist die Nötigung nicht verwerflich i.S.d. § 240 Abs. 2 StGB, kommt ein Verstoß gegen das VersFG Bln in Betracht, wenn die Polizei die Versammlung beschränkt bzw. aufgelöst hat, die Protestierenden hierauf jedoch nicht reagiert haben. |
Der Anbau von Betäubungsmitteln in Form der Aufzucht umfasst sämtliche gärtnerischen oder landwirtschaftlichen Bemühungen, um Wachstum von in den Anlagen I bis III zum Betäubungsmittelgesetz genannten Pflanzen zu erreichen. So hat der BGH im Urt. v. 6.9.2023 (6 StR 107/23) entschieden.
Das LG hatte den Angeklagten (nur) wegen Beihilfe zum bandenmäßigen Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt. Nach den Feststellungen des LG erwarb der gesondert verfolgte J. 2020 im Auftrag einer serbischen Organisation, die grenzüberschreitenden Drogenhandel bezweckte und von P. und Po. geführt wurde, ein Anwesen mit Scheune und errichtete darin eine Cannabisplantage. Dazu wurde die Scheune mit einer Beleuchtungs-, einer Klima- sowie einer Abluftanlage ausgestattet. Spätestens im Februar 2021 begann dort die Aufzucht von Cannabispflanzen. Das Umtopfen sowie andere zeitweise anfallende Tätigkeiten wie etwa Erntearbeiten wurden von Mitgliedern der Organisation ausgeführt. Das alltägliche Betreuen und Versorgen der Plantage insb. das regelmäßige Bewässern und Düngen der Pflanzen sowie die Sicherstellung der ordnungsgemäßen Funktion der Beleuchtungs-, Klima- und Abluftanlage wurde hingegen von P. und Po. jedenfalls für zwei Pflanzperioden im Winter 2021/2022 dem Angeklagten übertragen. Er versprach sich dafür eine Entlohnung i.H.v. 700 bis 800 € monatlich, insgesamt einen Betrag von 4.000 bis 5.000 €. Ihm war bewusst, dass die aufgezogenen Pflanzen zum gewinnbringenden Weiterverkauf bestimmt waren. Spätestens am 24.8.2021 führte der Angeklagte weisungsgemäß die vereinbarte Tätigkeit aus, wobei er sich überwiegend allein auf der Plantage aufhielt und nur im Bedarfsfall J. informierte, etwa bei Problemen mit der Elektronik oder bei Materialbedarf. Bei einer Durchsuchung im November 2021 wurden dort 1.651 erntereife Marihuanapflanzen vorgefunden. Diese hatten vielfach bereits Blütendolden ausgebildet und eine Höhe von 1,5 bis 1,8 m erreicht. Die abgeernteten Blüten und Blätter wiesen einen durchschnittlichen Wirkstoffgehalt von 12,15 %, mind. 5,687 kg Tetrahydrocannabinol, auf. Im Keller des Anwesens befanden sich darüber hinaus etwa 500 kg Pflanzenreste.
Das LG hat die Tätigkeit des Angeklagten aufgrund seiner untergeordneten Stellung lediglich als Beihilfe zum bandenmäßigen Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gewertet. Wegen seiner alleinigen tatsächlichen Zugriffsgewalt auf die aufgezogenen Cannabispflanzen habe er sich tateinheitlich des täterschaftlichen Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge schuldig gemacht. Gegen dieses Urteil hatte sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer auf die Sachrüge gestützte Revision gewandt.
Der BGH (Urt. v. 6.9.2023 6 StR 107/23) hat den Schuldspruch als zum Teil rechtsfehlerhaft angesehen. Zwar habe das LG zu Recht angenommen, dass der Angeklagte insb. aufgrund seiner untergeordneten Stellung in der Organisation sowie seiner Einbindung ausschließlich in der Aufzuchtphase lediglich als Gehilfe in das bandenmäßige Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge eingebunden war (vgl. BGH, Urt. v. 27.7.2005 2 StR 192/05, NStZ 2006, 578, 579). Jedoch habe er sich tateinheitlich hierzu des (täterschaftlich begangenen) bandenmäßigen Anbaus von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gem. § 30a Abs. 1 StGB schuldig gemacht.
Der Anbau von Betäubungsmitteln in Form der Aufzucht umfasst sämtliche gärtnerischen oder landwirtschaftlichen Bemühungen, um Wachstum von in den Anlagen I bis III zum Betäubungsmittelgesetz genannten Pflanzen zu erreichen (vgl. OLG Dresden NStZ-RR 1999, 372, 373; OLG München, Beschl. v. 23.4.2009 4 St RR 27/09, Patzak in: Patzak/Volkmer/Fabricius, Betäubungsmittelgesetz, 10. Aufl., § 29 Rn 43; ähnlich MüKo-StGB/Oglakcıoglu, 4. Aufl., § 29 Rn 22; Weber in Weber/Kornprobst/Maier, Betäubungsmittelgesetz, 6. Aufl., § 29 Rn 54). Hierzu zählen namentlich das Bewässern, das Düngen und das Belichten (Patzak, a.a.O., Rn 47). Der Angeklagte habe so der BGH mithin durch die gut zweimonatige Bewirtschaftung der Plantage insb. durch die regelmäßige Bewässerung und Düngung der Cannabispflanzen sowie die Sicherstellung der ordnungsgemäßen Funktion der technischen Anlagen diese Begehungsvariante erfüllt und sich daher als Mitglied der dahinterstehenden Organisation (auch) des bandenmäßigen Anbaus von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (§ 30a Abs. 1 StGB) schuldig gemacht.
Hinweis:
So weit ersichtlich, hatte der BGH zu der Frage bisher noch nicht Stellung genommen. Damit liegt die erste höchstrichterliche Entscheidung zu der Problematik vor.
Die Konkurrenzfrage hat der BGH (Urt. v. 6.9.2023 6 StR 107/23) wie folgt gelöst: Im Verhältnis zur Beihilfe des Angeklagten zum bandenmäßigen Handeltreiben von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge kommt dem bandenmäßigen Anbau nach seiner Auffassung ein eigener Unrechtsgehalt zu, sodass beide Delikte in Tateinheit stehen (vgl. BGH, Beschl. v. 12.1.2021 4 StR 411/20; Beschl. v. 3.4.2019 5 StR 87/19, NStZ-RR 2019, 218, 220). Der Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (§ 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG) der in Fällen tatsächlicher Sachherrschaft auch neben dem Anbau verwirklicht werden kann (vgl. BGH, Urt. v. 13.2.1990 1 StR 708/89, NStZ 1990, 285) tritt hingegen hinter dem bandenmäßigen Anbau von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gem. § 30a Abs. 1 BtMG mangels eigenen Unrechtsgehalts zurück.
Die für eine Verurteilung nach den § 315c StGB oder auch für § 315b StGB erforderliche Feststellung eines Beinaheunfalls macht in der Praxis immer wieder Schwierigkeiten. Das zeigt erneut eine Entscheidung des BGH. Das LG hatte den Angeklagten u.a. auch wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs (§ 315c StGB) verurteilt. Das hat der BGH beanstandet (Beschl. v. 20.12.2022 4 StR 377/22, NStZ 2023, 357). Das LG hatte in seinem Urteil (nur) dargelegt, dass ein anderer Verkehrsteilnahmen eine Notbremsung bzw. eine Vollbremsung vornehmen musste, um einen Zusammenstoß mit dem vom Angeklagten geführten Fahrzeug zu verhindern. Das hat dem BGH im Hinblick auf seine ständige Rechtsprechung zum Beinaheunfall nicht gereicht. Die Urteilsgründe seien auf die Wiedergabe der tatgerichtlichen Wertung beschränkt, dass eine Kollision mit dem vorfahrtsberechtigten Kraftfahrzeug nur durch eine Notbremsung bzw. eine Vollbremsung habe vermieden werden können. Es fehle an Darlegungen zu den gefahrenen Geschwindigkeiten der beiden Fahrzeuge, den Abständen zwischen ihnen und zur Intensität der zur Vermeidung einer Kollision vorgenommenen Bremsung durch den Fahrer des Pkw, der bei Grün in einen Kreuzungsbereich eingefahren war. Für letztere geben nach Auffassung des BGH allein die von der Strafkammer in diesem Zusammenhang offenkundig synonym verwendeten Begriffe der Not- und Vollbremsung nichts Konkretes her.
Hinweis:
Die Probleme der Tatgerichte mit dem Beinaheunfall können für den Verteidiger zu Angriffspunkten gegen ein den Mandanten verurteilendes Urteil ein. Es empfiehlt sich an der Stelle immer ein Blick in die dazu vorliegende umfangreiche Rechtsprechung des BGH (vgl. z.B. NStZ-RR 2012, 252, 2013, 320, 2021, 187, 188 m.w.N.; StV 2022, 26, 27).
Wer sich sieben Wochen in einem Land mit Linksverkehr aufhielt, handelt regelmäßig lediglich aus Unachtsamkeit und nicht rücksichtslos, wenn er bei seiner ersten Fahrt in Deutschland gegen das Rechtsfahrgebot verstößt (OLG Zweibrücken, Beschl. v. 28.11.2022 1 OLG 2 Ss 34/22, zfs 2023, 110 = DAR 2023, 228).
Das LG Oldenburg hatte in seinem Beschl. v. 7.11.2022 (4 Qs 368/22, VRR 1/2023, 20) über den Fahrerlaubnisentzug für einen betrunkenen Sozius auf einem E-Scooter zu befinden. In dem Fall waren zwei Personen auf einem E-Scooter gefahren. Der absolut fahruntüchtige Sozius hatte sich mit am Lenker festgehalten. Das LG hat eine Trunkenheitsfahrt nach § 316 StGB bejaht. Denn Führer eines Fahrzeugs sei nicht nur derjenige, der alle für die Fortbewegung des Fahrzeugs erforderlichen technischen Funktionen ausübe, sondern auch, wer nur einzelne dieser Tätigkeiten vornehme, jedenfalls solange es sich dabei um solche handele, ohne die eine zielgerichtete Fortbewegung des Fahrzeugs im Verkehr unmöglich wäre, wie etwa das Bremsen oder Lenken. Nach Auffassung des LG stellt allein das Festhalten des Lenkers eines E-Scooters während der Fahrt durch einen Sozius auch ohne Lenkbewegungen ein Lenken des Fahrzeugs und damit das Führen eines Fahrzeugs i.S.d. § 316 StGB dar. Denn das dadurch bewirkte In-der-Spur-Halten des E-Scooters sei ein genuiner Lenkvorgang, weil ein kontrolliertes Fortbewegen des E-Scooters durch den Verkehrsraum, wenn beide Personen auf dem Roller sich am Lenker festhielten, nur durch ein Zusammenwirken beider Fahrer möglich sei.
Die Trunkenheitsfahrt nach § 316 StGB spielt in der Praxis des Verkehrsstrafrechts eine große Rolle. Dabei steht, v.a. wenn es um die sog. relative Fahruntüchtigkeit geht, die Frage im Vordergrund, ob bei einer Verurteilung ausreichende tatsächliche Feststellungen hinsichtlich der Fahruntüchtigkeit getroffen worden sind. Damit hat sich das BayObLG vor Kurzem noch einmal auseinandergesetzt (BayObLG, Beschl. v. 13.2.2023 203 StRR 455/22, DAR 2023, 397). Das BayObLG geht davon aus, dass, wenn dem Tatrichter mangels (verwertbarer) Blutprobe, verlässlicher Erkenntnisse über das Trinkgeschehen oder beweissicherer Atemtests nicht möglich ist, eine annähernd bestimmte Alkoholkonzentration festzustellen, die Annahme von alkoholbedingter Fahrunsicherheit gleichwohl nicht ausscheide. Eine alkoholbedingte relative Fahruntüchtigkeit könne auch ohne die Feststellung oder die Berechnung einer Blutalkoholkonzentration nachgewiesen werden. Des Nachweises einer bestimmten Mindest-Atemalkoholkonzentration oder einer Mindest-Blutalkoholkonzentration bedürfe hingegen nicht; die Verurteilung des Angeklagten nach § 316 StGB setzt nicht den sicheren Nachweis einer Blutalkoholkonzentration von mind. 0,3 voraus. Eine BAK von 0,42 reicht nach Auffassung des LG Stralsund ohne Vorliegen von Alkohol-Ausfallerscheinungen in Gestalt von konkreten Fahrfehlern nicht aus, von Fahruntüchtigkeit auszugehen (LG Stralsund, Beschl. v. 7.10.2022 26 Qs 195/22).
Wird vom Angeklagten ein Nachtrunk behauptet, hat das Gericht vor der Rückrechnung zunächst zu prüfen, ob die Nachtrunkbehauptung als glaubhaft zu bewerten ist. Kann die Behauptung eines Nachtrunks nicht mit der erforderlichen Sicherheit widerlegt werden, so muss es klären, welche Alkoholmenge der Angeklagte maximal nach der Tat zu sich genommen haben kann (BayObLG, Beschl. v. 15.8.2023 203 StRR 317/23). Bei der Berechnung des Nachtrunks ist zugunsten des Angeklagten mit dem nach medizinischen Erkenntnissen jeweils niedrigsten Abbauwert, Resorptionsdefizit und Reduktionsfaktor zu rechnen (BayObLG, a.a.O.). Das LG Oldenburg hat sich mit der Frage der Widerlegung einer sog. Nachtrunkbehauptung befasst (LG Oldenburg, Beschl. v. 24.5.2022 4 Qs 155/22, DAR 2022, 705 = VRR 7/2022, 21 = StRR 10/2022, 28).
Hinweis:
Auf der Grundlage dieser Rechtsprechung ist bei einer Nachtrunkbehauptung, vorrangig deren Richtigkeit zu prüfen. Dabei können Indizien die Angaben von Zeugen zum angeblichen Nachtrunk, der Zeitablauf, aber auch das Vorhandensein von geleerten oder angebrochenen Alkoholflaschen in Reichweite, z.B. am Wohnort, von Bedeutung sein. Erst wenn diese Einlassung nicht widerlegt werden kann, kommt die Frage der Berechnung dieses Nachtrunks mit Blick auf den Grenzwert der absoluten Fahruntüchtigkeit ins Spiel (BayObLG, a.a.O.; LG Oldenburg, a.a.O.; zur Nachtrunkbehauptung Staub/Dronkovic/Danner, DAR 2022, 672).
Nach Auffassung des LG Hannover ist eine schwierige Sachlage i.S.v. § 140 Abs. 2 StPO nicht allein mit dem Umstand zu begründen, dass ein Sachverständiger am Verfahren beteiligt ist. Die Notwendigkeit der sachverständigen Beurteilung eines behaupteten Nachtrunks sei kein Grund für die Bestellung eines Pflichtverteidigers (LG Hannover, Beschl. v. 5.9.2023 63 Qs 38/23).
Der Nachweis einer drogenbedingten Fahrunsicherheit i.S.v. § 316 StGB kann für eine Drogenfahrt nicht allein durch einen bestimmten Blutwirkstoffbefund geführt werden (BGH, Beschl. v. 2.8.2022 4 StR 231/22, NStZ 2022, 741; vgl. u.a. auch BGHSt 44, 219, 221). Vielmehr müssen weitere aussagekräftige Beweisanzeichen vorliegen, die im konkreten Einzelfall belegen, dass die Gesamtleistungsfähigkeit des Kraftfahrzeugführers soweit herabgesetzt gewesen ist, dass er nicht mehr fähig gewesen ist, sein Fahrzeug im Straßenverkehr eine längere Strecke, auch bei Eintritt schwieriger Verkehrslagen, sicher zu steuern. Dies muss das Tatgericht anhand einer Gesamtwürdigung aller relevanten Umstände beurteilen. Für eine Verurteilung nach § 316 Abs. 1 Alt. 2 StGB muss zudem ein erkennbares äußeres Verhalten des Fahrzeugführers festgestellt werden, das auf seine durch den Cannabiskonsum hervorgerufene Fahruntüchtigkeit hindeutet (AG Münster, Beschl. v. 9.8.2022 112 Cs 15/22, VA 2022, 178). Bei der Würdigung der Beweisanzeichen für die Frage der Fahruntüchtigkeit ist die konsumierte Substanz sowie deren Eignung zur Verursachung fahrsicherheitsmindernder Wirkungen festzustellen, bei unklaren oder Misch-Intoxikationen können ggf. aber auch Rückschlüsse aus dem Erscheinungsbild ausreichen, wenn nur die sichere Feststellung möglich ist, dass zur Zeit der Tat eine aktuelle Rauschmittelwirkung vorlag (LG Köln, Beschl. v. 25.2.2022 117 Qs 25/22, VA 2022, 88).
Die Frage, ob die sog. Grenzwertrechtsprechung in BGHSt 37, 89, 99 auch für die neu aufgekommene Fahrzeugklasse der Elektrokleinstfahrzeuge gilt, hat der BGH weiterhin offengelassen (vgl. BGH, Beschl. v. 13.4.2023 4 StR 439/22, zfs 2023, 407 = StRR 6/2023, 22 = VRR 7/2023, 21; s.a. schon BGH VA 2021, 146). Von einem Teil der Rechtsprechung wird der für Kraftfahrer ermittelte Grenzwert für die Anwendung des § 316 StGB von 1,1 auch auf Führer von E-Scootern angewendet (u.a. KG, Beschl. v. 10.5.2022 (3) 121 Ss 67/21 (27/21), VA 2022, 178; LG Wuppertal, Beschl. v. 2.2.2022 25 Qs 63/21, VA 2022, 88).
Gegen einen alkoholbedingt fahrunsicheren Fahrer eines E-Scooters können die Maßregeln nach §§ 69, 69a StGB angeordnet werden (KG, Beschl. v. 31.5.2022 (3) 121 Ss 40/22 (13/22), DAR 2022, 465 [Ls.]; OLG Hamburg, Urt. v. 16.3.2022 9 Rev 2/22; LG Mannheim, Urt. v. 8.11.2022 12 Ns 404 Js 11650/22; a.A. AG Essen, Beschl. v. 12.1.2022 43 Cs-39 Js 1578/21-422/21, VA 2022, 66; ähnlich LG Hildesheim, Beschl. v. 20.9.2022 13 Ns 40 Js 25077/21; LG Leipzig, Urt. v. 24.6.2022 9 Ns 504 Js 66330/21; StRR 12/2022, 28 = VRR 10/2022, 16; AG Heidelberg DAR 2022, 47; vgl. auch noch die Rechtsprechungsübersicht von Deutscher, a.a.O.).
Die Wertgrenze für den bedeutenden Schaden i.S.d. § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB dürfte derzeit jedenfalls nicht unter 1.700/1.800 € anzusetzen sein. Das LG Hamburg (Beschl. v. 9.8.2023 612 Qs 75/23) und das LG Dresden (Beschl. v. 15.9.2023 17 Qs 66/23) gehen dazu jetzt davon aus, dass ein solcher Schaden vorliegt, wenn die Reparatur eines Kfz die Wertgrenze von 1.800 € überschreitet. Das LG weist zudem darauf hin, dass bei der Beurteilung eines Schadens als bedeutend i.S.d. § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB die fortschreitende Entwicklung der Reparaturkosten und die Einkommensentwicklung zu berücksichtigen sind. Das LG Bochum war zuletzt zum bedeutenden Schaden von einer Grenze von 1.750 € ausgegangen (u.a. LG Bochum, Beschl. v. 6.12.2022 1 Qs 59/22).
Im Urteil muss, wenn Grundlage der Schadenshöhe ein Kostenvoranschlag ist, der Inhalt des Kostenvoranschlags näher dargelegt werden, um dem Revisionsgericht die Überprüfung zu ermöglichen, ob dieser tatsächlich ausschließlich Positionen enthält, die bei der Bewertung eines bedeutenden Schadens berücksichtigungsfähig sind (OLG Hamm, Beschl. v. 5.4.2022 III-5 RVs 31/22, DAR 2022, 389 = VA 2022, 163). Die Indizwirkung des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB setzt voraus, dass der Täter weiß oder wissen kann, dass erhebliche Folgen eingetreten sind. Abzustellen ist dabei auf den Zeitpunkt, an dem der Beschuldigte die Unfallstelle verließ (AG Gießen, Beschl. v. 2.6.2022 507 Gs 804 Js 5325/22; ähnlich AG Wuppertal, Beschl. v. 14.4.2022 27 Gs 15/22, VA 2022, 163).
Das LG Itzehoe hat die Regelvermutung des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB bei einem Beschuldigten verneint, der sich nach einem Verkehrsunfall allein deshalb für das (unerlaubte) Verlassen des Unfallorts entschieden hatte (§ 142 StGB), weil er zum Zeitpunkt des Unfalls als Verkaufsfahrer eines Lebensmittellieferanten mit seiner Lieferung an einen Kunden schon 1,5 Stunden in Verzug war und dieser Kunde sich bei dem Beschuldigten telefonisch gemeldet und mitgeteilt hatte, dass dieser zeitnah das Haus verlassen würde. Es handele sich um ein in einer Drucksituation aufgetretenes Augenblickversagen, mit dessen Wiederholung nicht zu rechnen sei. Ob der Verkaufsfahrer tatsächlich zum Unfallort habe zurückkehren wollen, müsse in der Hauptverhandlung geklärt werden (Beschl. v. 11.7.2023 14 Qs 86/23, VA 2023, 190).
Ein sog. Kraftfahrzeugrennen kann auch bei einer nur kurzen Renndistanz gegeben sein (KG, Beschl. v. 18.5.2022 3 Ss 16/22, DAR 2023, 163). Demonstrationen individuellen Fahrkönnens werden bereits begrifflich nicht als Rennen i.S.d. § 315d StGB erfasst, es sei denn, es geht auch hier um die Erzielung von Bestzeiten, Höchstgeschwindigkeiten oder höchsten Durchschnittsgeschwindigkeiten (AG Hamburg-Bergedorf, Beschl. v. 29.11.22 419a S 17/22).
In den sog. Polizeiflucht-Fällen verwirklich der verfolgte Kraftfahrzeugführer zwar möglicherweise den Tatbestand des verbotenen Kraftfahrzeugrennens in der Alternative des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB, also Einzelrennen, eine Teilnahme an einem verbotenen Kraftfahrzeugrennen i.S.d. § 315d Abs. 1 Nr. 2 StGB liegt jedoch mangels Wettbewerbscharakters und konkludenter Rennabsprache nicht vor (OLG Oldenburg, Beschl. v. 14.11.2022 1 Ss 199/22, DAR 2023, 161).
Der BGH hat schließlich bei einem Kfz-Rennen mit tödlichem Ausgang zum bedingten Tötungsvorsatz Stellung genommen. Das LG hatte das Vorliegen eines bedingten Tötungsvorsatzes wohl im Hinblick auf die insoweit strenge Rechtsprechung des BGH abgelehnt, aber einen bedingten Gefährdungsvorsatzes (§ 315d Abs. 2 StGB) angenommen und nur wegen eines Kfz-Rennens mit Todesfolge verurteilt. Das hat der BGH aufgehoben. Er beanstandet nicht widerspruchsfreie Feststellungen und Wertungen des LG (BGH, Beschl. v. 16.2.2023 4 StR 211/22, NStZ 2023, 546). Es fehlten dem BGH v.a. als Grundlage der Erfolgsqualifikation des § 315d Abs. 2 StGB Feststellungen zur subjektiven Sicht des Angeklagten zum Beinaheunfall auch und gerade in Abgrenzung zum verneinten bedingten Tötungsvorsatz. Die Voraussetzungen des (bedingten) Gefährdungsvorsatz i.S.d. § 315d Abs. 2 StGB sind i.Ü. gegeben, wenn der Täter über die allgemeine Gefährlichkeit des Kraftfahrzeugrennens hinaus auch die Umstände kennt, die den in Rede stehenden Gefahrerfolg im Sinne eines Beinaheunfalls als naheliegende Möglichkeit erscheinen lassen, und er sich mit dem Eintritt einer solchen Gefahrenlage zumindest abfindet (BGH, Beschl. v. 13.9.2023 4 StR 132/23).
Allein der Umstand, dass der Angeklagte unter Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit und von Vorfahrtsregelungen vor der Polizei flüchtete, genügt nicht zur Annahme der nach § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB erforderlichen Absicht, auf einer nicht unerheblichen Wegstrecke die unter den konkret situativen Gegebenheiten maximal mögliche Geschwindigkeit zu erreichen. Mit der Begründung hat das OLG Zweibrücken (Beschl. v. 14.10.2022 1 OLG 2 Ss 27/22, zfs 2023, 111 = StRR 12/2022, 24 = VRR 3/2023, 16), die Verurteilung eines Angeklagten wegen eines Alleinrennens aufgehoben und die Sache zurückverwiesen. Der Angeklagte hatte sich einer Polizeikontrolle entzogen. Er war vor der Polizei mit weit überhöhter Geschwindigkeit und unter Missachtung einer rot zeigende Wechsellichtzeichenanlage geflohen, hatte die sich anschließende Straße mit einer deutlich über der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h liegenden Geschwindigkeit befahren, eine einmündende Vorfahrtsstraße ignoriert und mit mind. 70 km/h eine weitere rot anzeigende Wechsellichtzeichenanlage überfahren.
Das OLG Zweibrücken (a.a.O.) hat sich damit der Rechtsprechung des BGH angeschlossen, wonach aus einer Fluchtmotivation nicht ohne Weiteres auf die Absicht geschlossen werden kann, die gefahrene Geschwindigkeit bis zur Grenze der situativ möglichen Geschwindigkeit zu steigern (vgl. u.a. BGHSt 66, 27). Das OLG hat in einer früheren Entscheidung die Auffassung vertreten, dass nicht entscheidend auf die Überschreitung der am Tatort zugelassenen Geschwindigkeit abzustellen sei, sondern darauf, ob das Fahrzeug bei der gefahrenen Geschwindigkeit.
Das OLG Oldenburg hat sich in seinem Urt. v. 14.11.2022 (1 Ss 199/22, DAR 2023, 161) im Zusammenhang mit einer sog. Polizeiflucht auch noch einmal mit dem Verhältnis des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB sog. Einzelrennen zu § 315d Abs. 1 Nr. 2 StGB verbotenes Kraftfahrzeugrennen geäußert. Das OLG Oldenburg (a.a.O.) weist darauf hin, dass in den sog. Polizeiflucht-Fällen der verfolgte Kraftfahrzeugführer zwar möglicherweise den Tatbestand des verbotenen Kraftfahrzeugrennens in der Alternative des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB, also Einzelrennen, verwirklicht, eine Teilnahme an einem verbotenen Kraftfahrzeugrennen i.S.d. § 315d Abs. 1 Nr. 2 StGB jedoch mangels Wettbewerbscharakters und konkludenter Rennabsprache nicht vorliege. Das hatte das LG Osnabrück anders gesehen (vgl. NZV 2021, 368; zustimmend Müller NZV 2021, 369).
Das BayObLG hat in einem Beschluss u.a. zur Strafzumessung bei verbotenem Kraftfahrzeugrennen Stellung genommen. Durch die Instanzgerichte war der Angeklagte wegen verbotenen Kraftfahrzeugrennens gem. § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB zu einer Geldstrafe von 70 Tagessätzen verurteilt worden. Das LG hatte dabei darauf abgestellt, dass die von der Polizei verfolgte Fahrt über eine erhebliche Fahrtstrecke innerorts mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit führte. Diese Erwägung hat das BayObLG beanstandet. Sie verstößt nach seiner Ansicht gegen das Verbot der Doppelverwertung gem. § 46 Abs. 3 StGB, weil sie die Tatbegehung als solche strafschärfend berücksichtigt hat. Denn der Straftatbestand des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB setzt gerade voraus, dass sich der Kraftfahrzeugführer mit nicht angepasster Geschwindigkeit und grob verkehrswidrig und rücksichtslos fortbewegt hat, um eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen (BayObLG, Beschl. v. 23.12.2022 202 StR 119/22, VA 2023, 82).
Das AG Nienburg hat im Beschl. v. 2.2.2022 (4 Ds 370 Js 26085/21 (142/21) zur Einziehung des bei einem verbotenen Kraftfahrzeugrennen benutzten Pkw Stellung genommen. Die Einziehung richtet sich nach § 315f StGB. Der verweist in S. 2 auf § 74a StGB. Das AG sieht in der Verweisung eine Rechtsfolgenverweisung, sodass nach seiner Auffassung die Voraussetzungen des § 74a StGB nicht vorliegen müssen. Die Einziehung kann also auch dann erfolgen, wenn der Beschuldigte nicht Eigentümer des Pkw ist.
Das OLG Karlsruhe (Beschl. v. 2.3.2023 1 ORs 35 Ss 57/23) hat sich mit einer Widerstandshandlung gegenüber einer Angehörigen des Gemeindevollzugsdienstes, einer sog. Politesse, befasst. Dazu führt das OLG aus: Widersetzt sich der Täter einer von einer Angehörigen des Gemeindevollzugsdienstes getroffenen Anhalteanordnung (Stopp, Halt!), welche diese in Erfüllung ihrer Aufgabe, das Abschleppen eines in einer Brandschutzzone verbotswidrig abgestellten Fahrzeugs im Wege der Ersatzvornahme zu veranlassen und die Verantwortlichkeit für den dieser Maßnahme zugrunde liegenden Verkehrsverstoß vor Ort zu klären, in der Weise, dass er auf diese mit dem Pkw zufährt, sodass die Amtsträgerin entsprechend der Absicht des Täters zur Seite springen muss, um nicht vom Fahrzeug erfasst zu werden, leistet er bei der von dieser i.S.v. § 113 Abs. 3 StGB rechtmäßig getroffenen Anordnung unter Einsatz materieller Zwangsmittel Widerstand (§ 113 Abs. 1 StGB): Dabei führt der Täter mit dem Pkw unter Berücksichtigung der konkreten Art dessen Verwendung ein anderes gefährliches Werkzeug i.S.v. § 113 Abs. 2 Nr. 1 StGB mit sich. Gleichzeitig (§ 52 StGB) greift er die Amtsträgerin i.S.v. § 114 Abs. 1 StGB tätlich an. Für die Beurteilung der Diensthandlung als rechtmäßig ist es unerheblich, dass der Täter durch das Wegfahren mit dem verbotswidrig abgestellten Pkw den ordnungswidrigen Zustand selbst beseitigt.
Das Vorliegen der Voraussetzungen der § 111a Abs. 1 S. 1 StPO, 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB haben Staatsanwaltschaft und Gerichte in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise zu prüfen. Denn auch vorläufige Eingriffe in Freiheitsrechte können nicht mit vagen Annahmen und nicht näher plausibilisierten oder angreifbaren Schätzungen von Strafverfolgungsbehörden gerechtfertigt werden, sondern bedürfen einer hinreichenden tatsächlichen Grundlage. Das hat der VerfGH Saarland zu einer vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a StPO angemerkt (Beschl. v. 8.11.2022 Lv 13/22, DAR 2023, 24 = StRR 12/2022, 18 = VRR 12/2022, 16). Der Betroffene, der beruflich als Busfahrer tätig ist, soll an einer verengten Straßenstelle mit einem von ihm gesteuerten Bus einen verbotswidrig geparkten Pkw bei einem Rangiermanöver im Bereich der linken hinteren Stoßstange gestreift und sich sodann vom Unfallort entfernt haben. An dem angeblich hierdurch beschädigten Wagen fanden sich an der betroffenen Stelle lediglich aufgrund der regennassen Witterung Schmutzanhaftungen. Eine Spurensicherung wurde von der Polizei nicht durchgeführt. Der Sachschaden wurde polizeilich auf 3.000 € geschätzt. Die geschädigte Halterin wurde benachrichtigt. Sie meldete sich nach drei Wochen bei der Polizei und gab als Information über das vermeintliche Geschehen an, sie werde ihren Wagen in einer Werkstatt reparieren lassen und was bislang auch auf Nachfrage hin nicht geschehen war die Reparaturrechnung nachreichen.
Der VerfGH (a.a.O.) moniert, dass nicht erkennbar ist, dass Staatsanwaltschaft und die mit dem Verfahren befassten Gerichte nicht sich aus den Akten ergebenden offenkundigen Zweifeln nachgegangen sind und bestehende, nahe liegende und bessere Erkenntnismöglichkeiten einer Prüfung der entscheidenden Schadenhöhe genutzt hätten. Vielmehr stützen sich die Grundrechtseingriffe allein auf eine nicht näher begründete polizeiliche Schätzung. Eine solche, meist auf vielfältigen Erfahrungswerten beruhende Schätzung zugrunde zu legen, ist nach Auffassung des VerfGH zwar nicht unzulässig. Das ist indessen anders, wenn die Schätzung im Grenzbereich der Annahme eines bedeutenden Sachschadens liegt, oder wenn zum Zeitpunkt der Beantragung oder des Erlasses des Beschlusses über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis Anhaltspunkte vorliegen, die die Notwendigkeit weiterer Ermittlungen auf die Hand legen.
Hinweis:
Die lesenswerte Entscheidung bietet insb. in den Fällen der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis wegen eines Verstoßes gegen § 142 StGB Argumentationshilfe gegen die häufig vorschnelle vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a StPO.
In einer Entscheidung des LG Stuttgart v. 4.8.2023 (9 Qs 39/23) ging es um die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis mehr als 13 Monate nach der Tat. Der Angeklagte soll sich am 2.6.2022 unerlaubt vom Unfallort entfernt haben. Die Staatsanwaltschaft beantragt am 20.6.2023 einen Strafbefehl und beantragt die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis. Das AG erlässt den Strafbefehl, eine Entziehungsentscheidung trifft es nicht. Die erlässt es erst, als der Angeklagte gegen den Strafbefehl Einspruch eingelegt hat. Das LG Stuttgart (a.a.O.) hat diese Entziehung als unverhältnismäßig angesehen. Sie sei erst mehr als 13 Monate nach dem Unfallereignis erfolgt, zudem verstoße die bisherige Sachbehandlung durch die Ermittlungsbehörde und das Gericht eklatant gegen das Beschleunigungsgebot. Die Entscheidung ist zutreffend, v.a., weil sie der Retourkutsche des AG der Verdacht liegt bei dem Verfahrensablauf auf der Hand eine Absage erteilt hat.
Der BGH hat in einem Beschluss jetzt noch einmal zu den Voraussetzungen für Anordnung einer lebenslangen Sperre für die Erteilung einer Fahrerlaubnis gem. § 69a Abs. 1 S. 2 StGB Stellung genommen. Nach Auffassung des BGH (Beschl. v. 18.7.2023 4 StR 42/23) bedarf dies stets besonders sorgfältiger Prüfung und erschöpfender Begründung. Die Anordnung setze voraus, dass eine Sperre von fünf Jahren zur Abwendung der vom Täter drohenden Gefahr nicht ausreicht. Bei charakterlichen Mängeln kommt sie i.d.R. nur bei Fällen schwerster Verkehrskriminalität in Betracht; so z.B. bei chronischer Trunkenheitsdelinquenz und sonstiger auf fest verwurzeltem Hang beruhender Verkehrsdelinquenz, bei mehreren Vorstrafen und mehrfacher Entziehung der Fahrerlaubnis (vgl. BGHSt 15, 393, 398; OLG Hamm, Beschl. v. 22.1.2019 5 RVs 176/18; OLG Köln NJW 2001, 3491, 3492; Fischer, StGB, 70. Aufl. 2023, § 69a Rn 22a). Diesen Anforderungen wurden im entschiedenen Fall die Urteilsgründe nicht gerecht. Das KG hat im Urt. v. 17.8.2022 (3) 161 Ss 129/22 (44/22), zfs 2023, 45 u.a. zur Dauer der Sperrfrist (§ 69a StGB) dahin entschieden, dass nach § 69a Abs. 4 S. 2 StGB das Mindestmaß der Sperrfrist von drei Monaten nicht unterschritten werden darf. Die Festsetzung einer kürzeren Sperrfrist als drei Monate sei unzulässig und könne schon vor dem Hintergrund der eindeutigen, zwingenden gesetzlichen Regelung auch nicht ausnahmsweise erfolgen (vgl. OLG Zweibrücken, Urt. v. 8.11.1985 1 Ss 252/85; OLG Köln NJW 1967, 361; Fischer, a.a.O., § 69a Rn 12).
Eine erfolgreiche Nachschulung aufgrund wissenschaftlich anerkannter Modelle, d.h. der Teilnahme an einer Verkehrstherapie oder einem Aufbauseminar, kann als neue Tatsache i.S.d. § 69a Abs. 7 StGB herangezogen werden. Doch kann die Feststellung der Geeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen nur nach eingehender individueller Prüfung getroffen werden; allein die Teilnahme an einer Nachschulung reicht nicht aus (LG Berlin, Beschl. v. 5.5.2022 506 Qs 27/22, VA 2022, 161).
Der Warnungs- und Besinnungsfunktion des § 44 StGB bedarf es auch noch knapp zwei Jahre nach der Tatbegehung, wenn der Täter sein Fahrzeug in besonders schwerwiegender Weise im Straßenverkehr missbraucht hat (OLG Hamm DAR 2022, 399 = NZV 2022, 614). Die Anordnung eines Fahrverbots nach § 44 StGB und die Festsetzung einer isolierten Sperrfrist (§ 69a StGB) schließen einander regelmäßig aus. Nach Auffassung des OLG Hamm (Beschl. v. 8.8.2023 5 ORs 46/23) kommt die Anordnung eines Fahrverbots nach § 44 StGB neben der Festsetzung einer isolierten Sperrfrist für die (Wieder-)Erteilung der Fahrerlaubnis nur in Betracht, wenn das Gericht dem Täter auch das Fahren mit fahrerlaubnisfreien Fahrzeugen verbieten oder bestimmte Arten von Kraftfahrzeugen von der Sperre ausnehmen will (§ 69a Abs. 2 StGB).
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