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Rechtsprechung

Aktenzeichen: 4 Ss 385/00 OLG Hamm

Leitsatz: Zur nichteingehaltenen Wahrunterstellung

Senat: 4

Gegenstand: Revision

Stichworte: Beweisantrag auf Inaugenscheinnahme, Augenschein, fehlerhafte Zurückweisung eines Beweisantrages, Verstoß gegen Wahrunterstellung durch Einengung der Beweisbehauptung

Normen: StPO 244 Abs. 5; StPO 244 Abs. 3 Satz 2; StPO 344 Abs. 2 Satz 2

Beschluss: Strafsache gegen R.F.,
wegen gefährlicher Körperverletzung.

Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil der IV. kleinen Strafkammer des Landgerichts Münster vom 6. Dezember 1999 hat der 4. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 20.04.2000 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, die Richterin am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft gemäß § 349 Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen:

Das angefochtene Urteil wird mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Münster zurückverwiesen.

Gründe:
I. Das Amtsgericht - Strafrichter - Steinfurt hat den Angeklagten am 13. Oktober 1999 "unter Einbeziehung des Urteils des Amtsgerichts Steinfurt vom 28. April 1999, Geschäftsnummer: 15 Ds 36 Js 407/98 AK 964/98, unter Auflösung der dortigen Gesamtstrafe wegen einer gefährlichen Körperverletzung, Vergehen gemäß §§ 223, 224 StGB, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 10 Monaten" verurteilt und die Vollstreckung dieser Gesamtfreiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt. Das Landgericht hat die Berufung des Angeklagten verworfen.

Es hat festgestellt, dass der Angeklagte mit seiner damaligen Freundin, der Zeugin A.F., ebenso wie der Geschädigte R.B. am 10. Januar 1999 gegen 3.30 Uhr nach dem Besuch einer Karnevalsveranstaltung in der Buchenberg-Realschule in Steinfurt-Borghorst mit einem Taxi nach Hause fahren wollten. Als ein Taxi kam, nahm der Geschädigte (offenbar irrtümlich anders S. 5 oben der Urteilsabschrift: der Angeklagte) irrig an, es handele sich um das von ihm telefonisch bestellte Taxi. Der Angeklagte nahm auf dem Beifahrersitz Platz, A.F. rechts auf der Rücksitzbank. Der deutlich alkoholisierte Geschädigte B. stieg hinten links ein. Dabei bemerkte er die Zeugin F. und versuchte, sie aus dem Fahrzeug zu drängen, wobei er "zum Teil auch über ihr" lag. Der Zeuge Hübner, der Fahrer des Taxis, griff nach hinten, um ihn von der Zeugin F. wegzuziehen. In dieser Situation drehte sich der Angeklagte auf dem Beifahrersitz um und versetzte dem Geschädigten mit der Faust einen heftigen Schlag in das Gesicht, wodurch dessen Nase blutete. Der Geschädigte ließ daraufhin von der Zeugin F. ab. Der Angeklagte stieg unmittelbar nach dem Faustschlag aus und lief um das Fahrzeug herum zu der offen stehenden linken hinteren Fahrzeugtür. Zum folgenden Geschehen hat die Strafkammer festgestellt:

"Möglicherweise versuchte er zunächst, B. mit den Händen aus dem Fahrzeug zu ziehen, ohne dass ihm das gelang. Jedenfalls versetzte er ihm aber mit dem fest beschuhten Fuß durch die Türöffnung einen heftigen Tritt in das Gesicht, als B. möglicherweise im Begriff war auszusteigen."

In der Beweiswürdigung hat die Kammer hierzu u.a. ausgeführt:

"5. Es steht ferner fest, dass die tätliche Auseinandersetzung seitens des Angeklagten nicht mit dem Faustschlag beendet war, sondern von ihm fortgeführt ist, indem er sofort danach das Auto verlassen hat, hinten um das Fahrzeug herumgelaufen ist und dem Zeugen B. durch die offen stehende Tür hinten links einen heftigen Tritt mit dem fest beschuhten Fuß in das Gesicht versetzt hat.

a) Es mag sein, dass der Angeklagte zuerst versucht hat, den Zeugen B. mit den Händen hinten aus dem Fahrzeug zu ziehen. Denn der Zeuge Hübner hat ausgesagt, dass jemand dies versucht habe.

b) Jedenfalls steht aber fest, dass der Zeuge B. dann einen heftigen Tritt mit dem fest beschuhten Fuß in das Gesicht bekommen hat, als er, wie er ausgesagt hat, gerade Anstalten machte, das Fahrzeug zu verlassen. Da der Tritt für den Zeugen B. ein sehr einschneidender Eingriff gewesen ist, hat die Kammer keinen Zweifel daran, dass er sich richtig erinnert.
Dass es überhaupt einen Fußtritt gegeben hat, steht auch aufgrund der Aussage der Zeugin F. fest, die allerdings selbst zugetreten haben will. Ebenso hat der Zeuge S. bestätigt, dass der Zeuge B. einen Fußtritt bekommen hat. Das ist glaubhaft, weil schon die Zeugen B. und F. einen Tritt mit dem Fuß bekundet haben.

c) Die Kammer hat ferner keinen Zweifel daran, dass es möglich war, den Zeugen B. mit einem Fußtritt durch die offene Tür hindurch in das Gesicht zu treffen, auch wenn Einzelheiten zu der genauen Standposition des Täters nicht festgestellt werden konnten.

Das war allerdings nicht in der Weise möglich, die der Zeuge S. geschildert hat. Danach soll der Täter sich nämlich an der Dachreling des Fahrzeugs hinten rechts festgehalten, sich mit einem Fuß abgestützt und mit dem anderen Fuß weit in das Fahrzeug hineingetreten haben, um den an der gegenüberliegenden Seite sitzenden Zeugen B. zu treffen. Das ist in der Tat nicht möglich und deshalb hat die Kammer den entsprechenden Beweisantrag des Verteidigers, dass das nicht möglich sei, als wahr unterstellt. Das besagt aber nur, dass der Zeuge S. keine verlässlichen räumlichen Vorstellungen mehr hat, möglicherweise bedingt durch den voraufgegangenen Alkoholkonsum."

Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte form- und fristgerecht Revision eingelegt und diese auch rechtzeitig begründet. Sie beanstandet mit näher ausgeführten Rügen die Verletzung formellen und materiellen Rechts.

II. Unabhängig davon, dass die vom Landgericht vorgenommenen Alkoholberechnungen - der Senat geht davon aus, dass nicht der Angeklagte, sondern der Zeuge B. 120 gr. Alkohol zu sich genommen hat (vgl. S. 6 unten/7 oben U.A.) - schon deshalb nicht nachvollziehbar sind, weil das Resorptionsdefizit (hier: 10%) unberücksichtigt geblieben und die Annahme eines Verteilungsfaktors von 0,7 für den Zeugen B. angesichts eines zugrundegelegten Körpergewichts von 97 kg nicht ohne weiteres zutreffend sein muß, hat das Rechtsmittel bereits mit der ordnungsgemäß ausgeführten (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) Rüge der fehlerhaften Behandlung des Beweisantrages auf Inaugenscheinnahme des Taxis und Einholung eines tatrekonstruierenden Sachverständigengutachtens vorläufigen Erfolg. Eines Eingehens auf die Sachrüge bedarf es daher nicht (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 44. Auflage, § 352 Rdnr. 10, 11).

Der Angeklagte macht zu Recht geltend, dass das Landgericht Feststellungen getroffen hat, die mit der zugesagten Wahrunterstellung unvereinbar sind. Dadurch hat es gegen § 244 Abs. 3 StPO verstoßen. Der Verteidiger hatte in der Berufungshauptverhandlung folgenden Beweisantrag gestellt:

"Zum Beweis der Tatsache, dass es Herrn F. bei seiner Größe und körperlichen Statur nicht möglich ist, entweder den linken Fuß auf die linke hintere Einstiegskante des Taxis des Zeugen Hübner zu setzen, an die Dachreling des Wagens zu greifen und durch die Tür mit dem rechten Fuß eine auf der Rückbank sitzende Person zu treffen oder einen derartigen Treffer auf die Weise platzieren zu können, dass Herr F. neben der geöffneten Fahrzeugtür stehend durch diese hineintritt, wird beantragt,

das Taxi des Zeugen H. in Augenschein zu nehmen,

ein tatrekonstruierendes Sachverständigengutachten durch einen in der Begutachtung derartiger Sachverhalte erfahrenen Sachverständigen einzuholen."

Die Strafkammer hat den Beweisantrag mit folgendem Beschluss zurückgewiesen:

"Der Beweisantrag des Verteidigers vom 06.12.1999 wird gem. § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO abgelehnt, weil die behaupteten Tatsachen so behandelt werden können, als wären sie wahr."

Zu Recht rügt die Revision, dass die Urteilsfeststellungen und die Ausführungen zur Beweiswürdigung der als wahr unterstellten Tatsache widersprechen. Aus den Urteilsausführungen ergibt sich, dass das Landgericht zumindest eine unzulässige Einengung der Beweisbehauptung vorgenommen hat.

Lehnt das Gericht einen Beweisantrag ab, weil es die ihm zugrundeliegende Behauptung als wahr unterstellt, so muß die Wahrunterstellung die behauptete Tatsache in ihrem vollen Inhalt ohne jede Einengung und Verschiebung oder sonstige Änderung erfassen. Der Beweisantrag ist im Rahmen der Wahrunterstellung auszulegen, wobei nicht der Wortlaut, sondern der Sinn entscheidet. Dabei müssen die in der Beweisbehauptung vorgebrachten Tatsachen als nicht modifizierbare Elemente des Beweisstoffs Gegenstand der Beweiswürdigung sein (vgl. Karlsruher Kommentar/Herdegen, StPO, 4. Aufl., § 244 Randnote 94 m.w.N.; BGH NStZ 1989, 129).

Der von der Verteidigung gestellte Beweisantrag ist schon von seinem Wortlaut eindeutig darauf gerichtet, dass mit der beantragten Inaugenscheinnahme und dem tatrekonstruierenden Sachverständigengutachten der Nachweis der Unmöglichkeit des dem Angeklagten zur Last gelegten Tritts in das Wageninnere gegen das Gesicht des Geschädigten geführt werden sollte. Er umfasste nämlich sowohl eine Tatbegehung bei der der Angeklagte mit dem linken Fuß auf der linken hinteren Türeinstiegskante stehend in das Wageninnere hineingetreten haben soll, als auch eine solche, bei der der Angeklagte neben der geöffneten Fahrzeugtür stand. Der vollen Tragweite dieser Beweisbehauptung werden die Urteilsgründe nicht gerecht. Sie behandeln vielmehr nur eine der - als bei der Statur und Größe des Angeklagten unmöglich - unter Beweis gestellten Tatvarianten, wobei zudem durch den angesprochenen Griff des Angeklagten an die rechte Dachreling (S. 10, 3. Absatz U.A.) eine Verschiebung der Geschehensvariante vorgenommen worden ist, und stehen in Widerspruch zu der sehr viel weitergehenden Beweisbehauptung, dass es für den Angeklagten auch nicht möglich gewesen sei, neben der geöffneten Fahrzeugtür stehend und durch die Tür hineintretend den ihm zur Last gelegten Tritt ins Gesicht des Zeugen B. zu platzieren.

Damit hat das Gericht die zugesagte Wahrunterstellung nicht in vollem Umfang eingehalten, so dass § 244 Abs. 3 StPO verletzt worden ist. Dass das Urteil auf diesem Fehler beruht, bedarf hier keiner näheren Darlegung.

Das angefochtene Urteil war demgemäss mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache gemäß § 354 Abs. 2 StPO zur erneuten Verhandlung und Entscheidung auch über die Kosten der Revision, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Münster zurückzuverweisen. Es bestand kein Anlass, entsprechend dem Antrag der Revision die Sache an ein zu demselben Land gehörendes anderes Gericht gleicher Ordnung zurückzuverweisen.


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