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Rechtsprechung


Aktenzeichen: 3 Ss 626/03 OLG Hamm

Leitsatz: Der Grundsatz des fairen Verfahrens ist verletzt, wenn dem der deutschen Sprache nicht kundigen Angeklagten entgegen Art. 6 Abs. 3 MRK keine in seine Heimatsprache übersetzte Anklageschrift übermittelt worden ist; dies muss regelmäßig vor der Hauptverhandlung geschehen sein, und zwar auch bei einem leicht verständlichen Sachverhalt und rechtlich und tatsächlich einfachem Verfahrensgegenstand. Die Übersetzung der Anklageschrift in der Hauptverhandlung ist nicht geeignet, diesen Verfahrensmangel zu heilen.

Senat: 3

Gegenstand: Revision

Stichworte: Anklageschrift; Übersetzung; Ausländer

Normen: MRK Art. 6; StPO 200

Beschluss: Strafsache
gegen B.T.
wegen Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz
Auf die (Sprung-) Revision des Angeklagten vom 29. Juli 2003 gegen das Urteil des Amtsgerichts Essen vom 23. Juli 2003 hat der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 27. 11. 2003 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und den Richter am Amtsgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft gemäß § 349 Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen-.

Das angefochtene Urteil wird mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Essen zurückverwiesen.

Gründe:
I.
Der Angeklagte wurde durch Urteil des Amtsgerichts Essen vom 23.7.2003 wegen verbotswidrigen Besitzes von Marihuana in 2 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Monaten verurteilt. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.
Gegen dieses Urteil richtet sich die form- und fristgerecht eingelegte und im Einzelnen begründete Revision des Angeklagten mit der die Verletzung formellen und materiellen Rechts gerügt und mit der die Aufhebung des angefochtenen Urteils erstrebt wird.
II.
Die zulässige Revision des Angeklagte hat bereits auf die Verfahrensrüge hin einen zumindest vorläufigen Erfolg und führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils mit den zu Grunde liegenden Feststellungen sowie zur Zurückverweisung der Sache an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Essen.
Mit der Verletzung formellen Rechts rügt der Angeklagte die fehlende Übermittlung einer in seine Heimatsprache übersetzten Anklageschrift gemäß Art 6 Abs. 3 MRK und damit einen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens.
a) Der mittellose, zur Zeit der Hauptverhandlung 21 Jahre alte Angeklagte stammt aus Guinea und hält sich seit 2001 als Asylbewerber in Nordrhein-Westfalen auf. Die der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegende Anklageschrift der StA Essen vom 19.3.2003 ist ihm in deutscher Sprache mitgeteilt worden. In der Hauptverhandlung v. 23.7.2003 wurde sie mündlich in seine Heimatsprache Fulla übersetzt.
Eine Belehrung des Angeklagten über die Möglichkeit, die Aussetzung der Hauptverhandlung zu beantragen, ist nicht erfolgt.
Dieses Verfahren verstößt gegen Art. 6 Abs. 3 a, b MRK. Dem Angeklagten hätte bereits vor der Hauptverhandlung eine in seine Heimatsprache übersetzte Fassung der Anklageschrift zugestellt werden müssen.
aa) Entgegen der Auffassung des OLG Düsseldorf (VRS 68, 119, 120 ; zuletzt Beschluss v. 2.7.2003 -111-2 Ss 88/03-41/03 II in JMBI. 2003, 260f) ist der Senat der Ansicht, dass selbst bei einem leicht verständlichen Sachverhalt und rechtlich und tatsächlich einfachem Verfahrensgegenstand dem der deutschen Sprache nicht mächtigen Ausländer mit der Übersendung der Anklageschrift bereits eine schriftliche Übersetzung in seine Heimatsprache mitzuteilen ist und es nicht ausreicht, ihm die Ank7age nur in der Hauptverhandlung zu übersetzen.
Die Anklageschrift erfüllt eine Umgrenzungsfunktion als auch eine Informationsfunktion ( SK-StPO-Paeffgen § 200 Rn 2). Der Angeschuldigte soll wissen, was ihm vorgeworfen wird, um ihn in die Lage zu versetzen, seine Verteidigung darauf einzurichten und vorzubereiten und ihm die Chance zu eröffnen, die Verfahrenseröffnung noch zu verhindern ~ § 204 StPO} deren Umfang zu modifizieren ( § 207 Absatz 2 StPO) und im übrigen sachdienliche Beweiserhebungen zu beantragen (SK-StPO-Paeffgen § 201 Rn 2)). Ergänzt werden die Vorschriften der §§ 200, 201 StPO insoweit durch den als "einfaches" Bundesrecht geltenden Artikel 6 Abs.3 a und b MRK. Nach dieser Vorschrift ist jede angeklagte Person a~ innerhalb
möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung zu unterrichten und b) ihr ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu gewähren.
Zutreffend ist zwar, dass der Wortlaut des Art 6 Abs. 3 a MRK keine schriftliche Übersetzung der Anklage erfordert. Art 6 Abs. 3 a MRK ist aber im Regelungszusammenhang mit Art 6 Abs. 3 b MRK zu lesen, wonach dem Angeklagten ausreichende Zeit zur Vorbereitung seiner Verteidigung zu gewähren ist. Aus dem Zusammenspiel beider Normen folgt zwingend , dass derjenige Angeklagte, der der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig ist, unverzüglich in einer für ihn verständlichen Sprache über die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen in Kenntnis zu setzen ist. Dieses kann organisatorisch und nachweisbar nur durch eine schriftliche Übersetzung der Anklageschrift in die Heimatsprache des Angeschuldigten geschehen, wobei neben der Anklageschrift auch die Erklärungsaufforderung im Sinne des § 201 Absatz 1 StPO zu übersetzen ist. Beides ist ihm mit der Anklageausfertigung, zumindest aber unverzüglich danach, so fristgerecht zu übermitteln, dass er ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung hat.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Regelung des § 191 a GVG, wonach blinde oder sehbehinderte Personen nur nach Maßgabe einer Rechtsverordnung verlangen können, dass ihr die für sie bestimmten gerichtlichen Schriftstücke in einer für sie wahrnehmbaren Form zugänglich gemacht werden. Unabhängig vom Regelungsgehalt der Rechtsverordnung gewährt Art 6 Abs. 3 MRK als höherrangiges Recht den Anspruch auf eine verständliche Übersetzung der Anklage, sei es in eine ausländische Sprache oder aber spezielle Schriftart, wie z.B. der Blindenschrift.
Auch ein Vergleich mit den Vorschriften des beschleunigten Verfahrens führt zu keinem anderen Ergebnis. Soweit das OLG Düsseldorf (OLG Düsseldorf MB[ 2003, 260, 261) der Auffassung ist, aus dem Regelungszusammenhang der §§ 417, 418 Abs. 3 StPO entnehmen zu können, dass eine vorherige Übersetzung der Anklage entbehrlich sei, da in diesen Fällen
sogar von der Erstellung einer Anklageschrift insgesamt absehen werden könne ( § 418 Abs. 3 StPO), greift dieses Argument nicht.
Die Strafprozessordnung sieht in keiner Vorschrift ein Erfordernis zur Übersetzung einer Anklageschrift bei einem sprachunkundigen Angeschuldigten. Erst aufgrund der Vorschrift des Art 6 Abs. 3 a, b MRK ist die Übersetzung der Anklageschrift als Ausfluss des Grundsatzes des fairen Verfahrens geboten und erforderlich. Diese Vorschrift ist aber auch bei der Frage der Anwendung des beschleunigten Verfahrens insgesamt zu prüfen. Folgerichtig kommt gemäß 146 RiStBV das beschleunigte Verfahren u.a. nicht in Betracht, wenn der Beschuldigte durch die Anwendung dieses Verfahrens in seiner Verteidigung beeinträchtigt sein würde.
Dem Regelungsgehalt der Vorschrift des Art. 6 Abs. 3 a und b MRK ist im Zusammenhang mit den Vorschriften über das beschleunigte Verfahren daher allenfalls zu entnehmen, das das beschleunigte Verfahren in Form des § 418 Absatz 3StP0 bei sprachunkundigen Ausländern nicht anzuwenden ist, da ansonsten deren Verteidigungsmöglichkeiten unzulässig verkürzt werden. Es sind nicht die Vorschriften des beschleunigten Verfahrens bei der Auslegung des Art. 6 Abs. 3 MRK heranzuziehen. Vielmehr sind die Vorschriften des beschleunigten Verfahrens im Lichte des Art. 6 Abs. 3 MRK auszulegen.
bb) Die hier unterbliebene Übersetzung der Anklageschrift im Zwischenverfahren konnte auch nicht durch deren Übersetzung in der Hauptverhandlung geheilt werden( a.A. OLG Düsseldorf aa0, OLG Hamburg NStZ 1993, 53).
Soweit das OLG Düsseldorf eine Ausnahme bei einem leicht verständlichen Sachverhalt und rechtlich und tatsächlich überschaubaren Verfahrensgegenstand zulässt, steht dem schon entgegen, dass sich häufig erst in der Hauptverhandlung rechtliche und tatsächliche Schwierigkeiten ergeben, etwa aufgrund der Einlassung des Angeklagten oder in der Beweisaufnahme.
Zudem sind die Begriffe „leicht verständlicher Sachverhalt" und „rechtlich und tatsächlicher überschaubarer Verfahrensgegenstand" inhaltlich kaum eindeutig fassbar.
Hinzu kommt, dass der Angeklagte bei rechtzeitiger Übersendung einer übersetzten Anklageschrift einschließlich der Aufforderung nach § 201 StPO auch über das Recht zur Stellung ihn entlastender Beweiserhebungen belehrt worden wäre. Demgegenüber wird der sprachunkundige Angeklagte bei erstmaliger Übersetzung der Anklage in der Hauptverhandlung nur hinsichtlich seines Schweigerechtes gemäß § 243 Absatz 4 StPO belehrt, was eine Einschränkung der Verteidigung zur Folge haben kann.
b) Obgleich der Angeklagte dieses Verfahren in der Hauptverhandlung nicht beanstandet hat, ist er mit dieser Verfahrensrüge nicht im Revisionsverfahren ausgeschlossen, denn er war nicht verteidigt (vgl. OLG Düsseldorf, a.a.O.). Hat der Angeklagte einen Verteidiger, so kann von diesem erwartet werden, dass er den Verfahrensmangel (hier: das Fehlen einer schriftlichen Übersetzung der Anklageschrift) in der Hauptverhandlung rügt und Vertagung beantragt (vgl. BGH MDR 1978, 111, bei unterbliebener Mitteilung der Anklageschrift). Unterlässt er das, so kann der Angeklagte sich auf diesen Mangel im Revisionsverfahren nicht mehr berufen (BGH NStZ 1982, 125). Hier hatte der Angeklagte aber keinen Verteidiger. Deshalb ist er mit der Rüge des Verstoßes gegen das Gebot des fairen Verfahrens, der schon durch die Mitteilung des Verfahrensablaufs hinreichend belegt ist (vgl. BGH St 32, 44, 46 = NJW 1984, 2228), nicht ausgeschlossen.
c) Der Senat vermag auch nicht auszuschließen, dass das Urteil auf diesem Mangel beruhen könnte. Zwar hat der Angeklagte ausweislich der Urteilsbegründung die ihm vorgeworfenen Taten eingeräumt. Es kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass der Angeklagte bei rechtzeitiger Übersendung der Anklageschrift in eine für ihn verständliche Sprache seine Verteidigung anders gestaltet hätte und er nur unter dem Druck der Hauptverhandlung, in der er erstmalig die gegen ihn erhobenen Vorwürfe in einer für ihn verständlichen Sprache mitgeteilt bekommen hat, die Tatvorwürfe eingeräumt hat. Dabei reicht die bloße Möglichkeit, dass das Urteil auf dem Fehler beruhen könnte, bereits aus ( BGH St 278,280)
Da das Urteil bereits auf die Verfahrensrüge hin im Schuldausspruch
insgesamt aufzuheben war, kommt es auf die allgemeine Sachrüge nicht mehr an.
Das angefochtene Urteil war daher antragsgemäß mit den zu Grunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Essen zurückzuverweisen.
Dieser war auch die Kostenentscheidung vorzubehalten, da der Erfolg de3 Rechtsmittels im Sinne des § 473 StPO noch nicht feststeht.
Einer Vorlage der Sache beim Bundesgerichtshof gemäß § 121 Absatz 2 GVG bedarf es trotz der Abweichung von den Entscheidungen OLG Düsseldorf VRS 68, 119, 120 ;Beschluss v. 2.7.2003 -111-2 Ss 88/0341/03 II,- OLG Hamburg NStZ 1993, 53 nicht, da die Entscheidung des Senats mit der Rechtssprechung des Bundesgerichtshofs ( BGHR MRK Art. 6 Abs. 3, Buchstabe e Dolmetscher 1) übereinstimmt.

III. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat noch auf folgendes hin-.
Der Tatrichter wird im Rahmen der neuen Hauptverhandlung sich auch mit der Vorschrift des § 29 Absatz 5 BtMG auseinander zu setzen haben, da hier der Erwerb einer geringen Menge Marihuana zum Eigenverbrauch nahe liegt ( OLG Oldenburg StV 1993, 251).


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