Gericht / Entscheidungsdatum: LG Magdeburg, Beschl. v. 07.02.2025 - 29 Qs 4/25
Eigener Leitsatz:
1. Werden Verfahren zunächst verbunden und erfolgt erst danach die anwaltliche Bestellung oder Beiordnung in dem nunmehr verbundenen Verfahren, gilt §48 Abs. 6 Satz 1 RVG unmittelbar.
2. Wird das Verfahren nach erfolgter Erstinformation zu einem anderen Verfahren verbunden, besteht für die Annahme einer neben der Grundgebühr stets entstehenden Verfahrensgebühr kein Raum
Landgericht Magdeburg
29 Qs 4/25
Beschluss
In dem Strafverfahren
gegen pp.
Verteidiger:
wegen Besitzes von kinder- und jugendpornografischen Schriften
hat die 9. Große Strafkammer - Beschwerdekammer - des Landgerichts Magdeburg am 07.02.2025 durch die Richterin als Einzelrichterin beschlossen:
Auf die Beschwerde des Antragstellers Rechtsanwalt pp. wird der Kostenfestsetzungsbeschluss des Amtsgerichts Wernigerode - Rechtspfleger - vom 09.01.2025 dahingehend abgeändert, dass dem Antragsteller aus der Staatskasse zu zahlende Gebühren und Auslagen über den bereits festgesetzten Betrag in Höhe von 1.083,35 Euro auf weitere 233,24 Euro festgesetzt werden.
Das Verfahren über die Beschwerde ist gebührenfrei. Kosten werden nicht erstattet.
Gründe:
Die Staatsanwaltschaft Halle (Saale) ermittelte gegen den Betroffenen in zunächst zwei verschiedenen Verfahren wegen des Tatverdachts des Besitzes und Verbreitens von kinderpornografischen Inhalten. In dem Verfahren 459 Js 46414/22 legitimierte sich der Verteidiger Rechtsanwalt pp. mit Schriftsatz vom 20.03.2023 für den Betroffenen und beantragte die Beiordnung als Pflichtverteidiger.
Mit Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 17.04.2023 wurde das Verfahren 459 Js 46414/22 zum führenden Verfahren 442 Js 38414/22 verbunden und mit Beschluss vom 06.09.2023 ordnete das Amtsgericht Wernigerode Rechtsanwalt pp. dem Betroffenen als Pflichtverteidiger bei.
Das Amtsgericht Wernigerode verurteilte den Betroffenen am 28.11.2024, rechtskräftig seit dem 06.12.2024, wegen Besitzes von kinder- und jugendpornografischen Schriften zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten unter Strafaussetzung zur Bewährung und erlegte ihm die Kosten des Verfahrens sowie seine eigenen notwendigen Auslagen auf
Mit Schriftsatz vom 03.12.2024 beantragte der Verteidiger des Betroffenen die Festsetzung der Verteidigervergütung in Höhe von 1.478,43 Euro. Der Antrag beinhaltete unter anderem eine Grundgebühr in Höhe von 176,00 Euro, eine Vorverfahrensgebühr in Höhe von 145,00 Euro sowie eine Postpauschale in Höhe von 20,00 Euro - jeweils für das Verfahren 459 Js 46414/22.
Mit Schriftsatz vom 27.12.2024 teilte das Amtsgericht Wernigerode dem Verteidiger mit, dass eine Beiordnung im Verfahren 459 Js 46414/22 nicht erfolgt sei und deshalb für dieses Verfahren keine Pflichtverteidigergebühren geltend gemacht werden könnten. Eine Erstreckung der Pflichtverteidigerbestellung auf das genannte Verfahren sei nicht erfolgt. Hierzu nahm der Verteidiger mit Schriftsatz vom 07.01.2025 Stellung und trug vor, dass er in dem damaligen eigenständigen Ermittlungsverfahren 459 Js 46414/22 tätig geworden sei und die entsprechenden Gebühren gemäß Nr. 4100 und 4104 W RVG entstanden seien. Einmal entstandene Gebühren würden nicht aufgrund der Verfahrensverbindung untergehen.
Hierauf beschloss das Amtsgericht Wernigerode am 09.01.2025, die dem Verteidiger aus der Landeskasse zu zahlende Pflichtverteidigervergütung gemäß dem Kostenfestsetzungsantrag vom 03.12.2024 auf 1.083,35 Euro festzusetzen. Im Übrigen wurde der Kostenfestsetzungsantrag zurückgewiesen. Zur Begründung wurde vorgetragen, dass die Kosten des Ermittlungsverfahrens 459 Js 46414/22 nicht erstattungsfähig seien, denn es fehle an einer Beiordnung in diesem Verfahren. Es werde zwar nicht bestritten, dass durch die Verbindung der Ermittlungsverfahren die Gebühren nicht untergehen. Dies führe jedoch nicht zu einer Erstattungsfähigkeit als Pflichtverteidigergebühren aus der Landeskasse (OLG Celle, Beschluss vom 04.09.2019 - Az. 2 Ws 253/19). Ein Zustellnachweis des Beschlusses ist der Akte nicht zu entnehmen.
Hiergegen wendete sich der Verteidiger mit seinem als "sofortige Beschwerde/Rechtsmittel" bezeichneten Schriftsatz vom 22.01.2025, eingegangen per EGVP am 23.01.2025, und verwies zur Begründung auf seinen Schriftsatz vom 07.01.2025.
Das Amtsgericht Wernigerode half der sofortigen Beschwerde mit Beschluss vom 27.01.2025 nicht ab und legte dem Landgericht Magdeburg die Akten zur Entscheidung über den Rechtsbehelf vor.
II,
Der Schriftsatz des Antragstellers vom 22.01.2025 ist als das statthafte Rechtsmittel der (einfachen) Beschwerde auszulegen. Sie ist gemäß §§ 56 Abs. 2 in Verbindung mit § 33 Abs. 3 RVG zulässig, insbesondere ist sie formgerecht innerhalb der Frist von zwei Wochen seit Zustellung des Beschlusses eingelegt und überschreitet den Wert von 200,00 €. Sie hat in der Sache den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg.
Gemäß §§ 45 Abs. 3, 48 Abs. 1 RVG waren weitere 233,24 Euro als Vergütung des Verteidigers gegen die Landeskasse festzusetzen, denn der Verteidiger hat einen Anspruch auf Festsetzung weiterer Rechtsanwaltsvergütung für seine Tätigkeit im Ermittlungsverfahren auch in dem später verbundenen Verfahren 459 Js 46414/22.
Die allgemeine Vergütung des Verteidigers und die Vergütung im vorbereitenden Verfahren richtet sich nach Nr. 4100 bis 4105 VV RVG. Ausgangspunkt bildet dabei stets die in Nr. 4100 VV RVG geregelte Grundgebühr. Gemäß Anmerkung 1 zu Nr. 4100 W RVG erhält der Rechtsanwalt eine Grundgebühr für die erstmalige Einarbeitung in den Rechtsfall. Der Rechtsfall wird dabei bestimmt vom strafrechtlichen Vorwurf, der dem Auftraggeber gemacht wird und wie er von den Strafverfolgungsbehörden verfahrensmäßig behandelt wird. Grundsätzlich ist jedes von den Strafverfolgungsbehörden betriebene Ermittlungsverfahren ein eigenständiger Rechtsfall im Sinne von Nr. 4100 W RVG, solange die Verfahren nicht miteinander verbunden sind. Eine spätere Verfahrensverbindung hat auf bis zu diesem Zeitpunkt bereits entstandene Gebühren keinen Einfluss (OLG Celle, Beschluss vom 26.01.2022 - 2 Ws 19/22, BeckRS 2022, 6165 m. w. N.).
Nach diesen Grundsätzen bildete das Verfahren 459 Js 46414/22 bis zur Verbindung einen eigenständigen Rechtsfall. Grundlage waren jeweils einzelne Straftaten des Angeklagten. Die Staatsanwaltschaft hat beide Verfahren nach Übernahme separat in ihr Verfahrensregister eingetragen und ein eigenes Aktenzeichen hierfür vergeben. Die Verbindung der Verfahren erfolgte erst zu einem späteren Zeitpunkt, d.h. als die Grundgebühr bereits entstanden war.
Im Rahmen des § 48 Abs. 6 RVG war lange umstritten, ob ein anwaltlicher Vergütungsanspruch für frühere Tätigkeiten in Verfahren, die vor der Beiordnung hinzuverbunden wurden, bereits aus Abs. 6 S. 1 folgt und ob der Anwendungsbereich des Abs. 6 S. 3 entsprechend auf Fälle beschränkt ist, in denen nach einer Beiordnung noch weitere Verfahren hinzuverbunden werden (vgl. hierzu K. Sommerfeldt/M. Sommerfeldt in: BeckOK RVG, 66. Ed. 1.12.2024, RVG § 48 Rn. 130). Werden Verfahren zunächst verbunden und erfolgt erst danach die anwaltliche Bestellung oder Beiordnung in dem nunmehr verbundenen Verfahren, gilt Abs. 6 S.1 unmittelbar. Es sind keine Gründe ersichtlich, warum das Gericht nach Abs. 6 S. 3 die Erstreckungswirkung ausdrücklich anordnen sollte (vgl. auch LG Osnabrück AGS 2024, 113).
Die zum 1.1.2021 erfolgte Ergänzung von Abs. 6 S. 3 mit dem KostRAG vom 21.12.2020 (BGBl. 13229) stellt dies klar und beschränkt den Anwendungsbereich des Abs. 6 S. 3 auf die Fälle der nach der Beiordnung oder Bestellung erfolgten Verfahrensverbindungen. Damit ist auch klargestellt, dass die Anordnung einer Erstreckungswirkung bei einer anwaltlichen Bestellung oder Beiordnung nach der Verbindung nicht erforderlich ist, weil Abs. 6 S. 1 unmittelbar gilt (K. Sommerfeldt/M. Sommerfeldt in: BeckOK RVG, 66. Ed. 1.12.2024, RVG § 48 Rn. 129; Kotz/Voigt in: Müller/Schlothauer/Knauer, Münchener Anwaltshandbuch Strafverteidigung, 3. Auflage 2022, § 42 Vergütung nach dem RVG und Vergütungs-vereinbarung, Rn. 35).
Der Höhe nach ist für die Tätigkeit des Verteidigers in dem Verfahren 459 Js 46414/22 die Grundgebühr gemäß Nr. 4100 VV RVG und die Post- und Telekommunikationspauschale entstanden. Einen Anspruch auf Festsetzung der vom Verteidiger daneben jeweils abgerechneten Verfahrensgebühr Nr. 4104 VV RVG besteht dagegen nicht.
Die Grundgebühr nach Nr. 4100 VV RVG entsteht nach Übernahme des Mandats und soll den Aufwand für die erstmalige Einarbeitung in den Rechtsfall abgelten. Die Verfahrensgebühr im vorbereitenden Verfahren nach Nr. 4104 VV RVG soll dagegen nach der Vorbemerkung 4 Abs. 2 VV RVG das Betreiben des Geschäfts einschließlich der Information abgelten. Die Verfahrensgebühr entsteht zwar nach Anmerkung 1 zu Nr. 4100 W RVG neben der Grundgebühr. Abgegolten werden mit ihr im vorbereitenden Verfahren allerdings nur Tätigkeiten nach der Erstinformation des Rechtsanwalts, d.h. alle Tätigkeiten nach erstem Mandantengespräch und erster Akteneinsicht (Gerold/Schmidt/Burhoff, RVG, 25. Aufl. 2021, Vorbem. 4 Rn. 14). Die erste Akteneinsicht ist dagegen bereits von der Grundgebühr umfasst (ThürOLG, Beschluss vom 11. Januar 2005 - ARs 185/04; Mayer/Kroiß, RVG, 8. Aufl. 2021, VV 4100 Rn. 22). Wird das Verfahren nach erfolgter Erstinformation zu einem anderen Verfahren verbunden, besteht für die Annahme einer neben der Grundgebühr stets entstehenden Verfahrensgebühr (Nr. 4104) kein Raum.
Mit Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 03.04.2023 wurde dem Verteidiger erstmals Akteneinsicht in dem Verfahren 459 Js 46414/22 gewährt. Weitere, über die erste Einarbeitung in den jeweiligen Fall hinausgehende Tätigkeiten bis zur kurze Zeit später erfolgten Verfahrensverbindung hat der Verteidiger nicht vorgetragen und waren nach Lage der Dinge unter Berücksichtigung des Verfahrensstadiums auch nicht zu erwarten.
Da es sich bei den Ermittlungsverfahren um einzelne Rechtsfälle handelt, ist neben der Grundgebühr die ebenfalls vom Verteidiger in seiner Kostenrechnung abgerechnete Pauschale für Post- und Telekommunikationsdienstleistungen (Nr. 7002 VVRVG) festzusetzen. Entsprechend des Antrags des Verteidigers betrug die Grundgebühr nach Nr. 4100 VV RVG für den gerichtlich bestellten Rechtsanwalt 175,00 Euro, die Post- und Telekommunikationspauschale 20,00 Euro.
Es waren daher weitere Gebühren wie folgt festzusetzen:
Grundgebühr für Verteidiger gemäß Nr. 4100 VV RVG 176,00 Euro
Auslagenpauschale gemäß Nr. 7002 VV RVG 20,00 Euro
Nettobetrag 196,00 Euro
19 % Prozent Umsatzsteuer gemäß Nr. 7008 VVRVG 37,24 Euro
Gesamtbetrag 233 24 Euro
Eine Übertragung der Entscheidung von dem Einzelrichter auf die Kammer gemäß §§ 56 Abs. 2 in Verbindung mit 33 Abs. 8 Satz 2 RVG war nicht veranlasst, weil die Sache weder besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist, noch die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Aus demselben Grunde war auch die weitere Beschwerde gemäß §§ 56 Abs. 2 i.V.m. 33 Abs. 6 Satz 1 RVG nicht zuzulassen.
Eine Entscheidung zu den Kosten war nicht veranlasst, da § 56 Abs. 2 Sätze 2, 3 RVG bereits unmittelbar eine Kostenregelung trifft.
Einsender: RA J. R. Funk, Braunschweig
Anmerkung:
den gebührenrechtlichen Newsletter abonnieren
Die Nutzung von Burhoff-Online ist kostenlos. Der Betrieb der Homepage verursacht aber für Wartungs-, Verbesserungsarbeiten und Speicherplatz laufende Kosten.
Wenn Sie daher Burhoff-Online freundlicherweise durch einen kleinen Obolus unterstützen wollen, haben Sie hier eine "Spendenmöglichkeit".