Gericht / Entscheidungsdatum: KG, Beschl. v. 18.01.2012 1 Ws 2/12
Leitsatz: Gebührenrechtlich handelt es sich auch bei mehreren Tatvorwürfen nur um eine Angelegenheit, wenn die Ermittlungen in einem (polizeilichen) Verfahren betrieben werden (hier: Polizeilicher Sammelvorgang mit den als Untervorgänge bezeichneten Strafanzeigen)
KAMMERGERICHT
Beschluß
1 Ws 2/12
In der Strafsache
gegen pp.
wegen Körperverletzung u.a.
hat der 1. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin
am 18. Januar 2012 beschlossen:
Auf die durch Rechtsanwalt S. für den verstorbenen Be-schuldigten eingelegte sofortige Beschwerde wird der Be-schluß der Rechtspflegerin des Landgerichts Berlin vom 19. Dezember 2011 dahin geändert, daß weitere 464,10 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 27. Juli 2011 aus der Landeskasse Berlin zu erstatten sind.
Die weitergehende sofortige Beschwerde wird verworfen.
Gründe:
Das Landgericht hat das gegen den Beschuldigten geführte Si-cherungsverfahren (§§ 413 ff StPO) nach dessen Tod durch Be-schluß vom 23. Juni 2011 eingestellt und die Verfahrenskosten sowie die notwendigen Auslagen des Beschuldigten der Landes-kasse auferlegt. Dem durch den Verteidiger gestellten Antrag vom 27. Juli 2011, die notwendigen Auslagen des Beschuldigten auf insgesamt 2.552,07 EUR nebst Zinsen festzusetzen, hat die Rechtspflegerin durch Beschluß vom 19. Dezember 2011 nur in Höhe von 829,85 EUR entsprochen. Der gegen die Absetzung ge-richteten sofortigen Beschwerde kann ein Teilerfolg nicht ver-sagt werden.
1. Das Rechtsmittel ist zulässig. Der frühere Verteidiger ist für den verstorbenen Beschuldigten beschwerdebefugt. Denn die ihm von dem Betreuer des Beschuldigten zu dessen Lebzeiten am 9. November 2010 ausdrücklich auch für das Kostenfestsetzungs-verfahren erteilte Vollmacht wirkt gemäß den §§ 168, 672, 675 BGB über den Tod des Beschuldigten hinaus (vgl. OLG Rostock, Beschluß vom 9. Oktober 2002 1 Ws 441/02 mwN bei juris; Palandt/Ellenberger, BGB 71. Aufl., Rdn. 4 zu § 168) und er-mächtigt den Verteidiger in rechtsgeschäftlicher Vertretung der Erben (vgl. OLG Hamburg NJW 1971, 2183; Palandt/Weidlich, BGB 71. Aufl., Rdn. 33 zu § 1922) jedenfalls noch zur Anbringung von Kostenanträgen und damit im Zusammenhang stehenden Rechtsmitteln (vgl. Senat, Beschluß vom 11. Januar 2008 1 Ws 286/07; aA OLG München NJW 2003, 1133). Durch die Niederlegung des Wahlmandats im Zuge seiner Bestellung zum Pflichtverteidi-ger am 30. März 2011 ist die Vertretungsvollmacht des Rechts-anwalts nicht erloschen. Denn die Beendigung des Wahlmandats betrifft in der Regel nur das Strafverfahren und läßt die Be-vollmächtigung für das Kostenfestsetzungsverfahren unberührt (vgl. OLG Hamm, Beschluß vom 12. April 2007 3 Ws 209/07 bei juris; Meyer-Goßner, StPO 54. Aufl., Rdn. 2 zu § 464b).
2. Das Rechtsmittel ist nur teilweise begründet.
a) Zu Recht hat die Rechtspflegerin die Vergütung nach den Nrn. 4101 und 4105 VV RVG sowie die Telekommunikationspauschale (Nr. 7002 VV RVG) für die Tätigkeit des Verteidigers in dem Verfahren, dem der polizeiliche Sammelvorgang 101126-1225-033341 zugrunde lag, insgesamt nur einmal und nicht, wie von Rechtsanwalt S. beantragt, für jeden der unter den Nummern 100912-1251-022190, 100912-1250-022190, 100912-1300-022190 und 100917-1050-027958 geführten polizeilichen Vorgänge festgesetzt. Denn es handelte sich um dieselbe Angelegenheit im Sinne des § 15 Abs. 2 Satz 1 RVG, bei der die Gebühren und die Pauschale nach Nr. 7002 VV RVG nur einmal entstehen.
Für die Beurteilung, ob bei mehreren Tatvorwürfen dieselbe Angelegenheit und ein einziger Rechtsfall im Sinne der Nr. 4100 VV RVG gegeben sind, ist maßgebend, wie die Strafverfolgungsbehörden die Sache behandeln. Wird gegen den Beschuldigten in getrennten Verfahren ermittelt, ist jedes für sich eine eigene Angelegenheit. Hingegen handelt es sich gebührenrechtlich um nur eine Rechtssache, wenn die Ermittlungen wegen mehrerer Straftaten in einem Verfahren betrieben werden (vgl. Burhoff in Gerold/Schmidt, RVG 19. Aufl., Rdn. 12 zu Nr. 4100 VV; Hartmann, KostG 41. Aufl., Rdn. 8 zu Nr. 4100 VV RVG). Das stellt der Verteidiger nicht in Abrede. Seine Auffassung, daß die Ermittlungen hier zunächst in verschiedenen Verfahren geführt worden seien, trifft nicht zu.
Gegenstand der Ermittlungen war von Anfang an ein einheitlicher Lebenssachverhalt. Dem Beschuldigten wurde zur Last gelegt, am 12. September 2010 innerhalb weniger Minuten im Zustand verminderter oder aufgehobener Schuldfähigkeit wahllos drei Straßenpassanten angegriffen und verletzt sowie gegen seine anschließende Festnahme durch die herbeigerufenen Polizeibeamten Widerstand geleistet zu haben. Dementsprechend wurden bei der Polizeibehörde zwar für die einzelnen Straftaten und Geschädigten jeweils gesonderte Strafanzeigen mit getrennten Vorgangsnummern gefertigt, die Ermittlungen aber zusammengefaßt durch einen Sachbearbeiter geführt, der für alle in Betracht kommenden Delikte einen gemeinsamen Abschlußbericht fertigte und die Sache als Sammelvorgang unter dem Geschäftszeichen 101126-1225-033341 mit einer Auflistung der als Untervorgänge bezeichneten Strafanzeigen an die Staatsanwaltschaft abgab. Der Behandlung der Sache als eine Angelegenheit steht nicht entgegen, daß der Beschuldigte zur polizeilichen Vernehmung am 9. November 2010 unter jeder Vorgangsnummer durch gesonderte Schreiben mit Angaben zu dem jeweiligen Tatvorwurf geladen worden war und sich Rechtsanwalt S. dementsprechend zu jedem Vorgang mit gesondertem Schriftsatz als Verteidiger ge-meldet hatte. Ebenso unerheblich ist, daß der Sammelvorgang bei der Staatsanwaltschaft, ersichtlich nur aus statistischen Gründen, zunächst unter vier Aktenzeichen (13 Js 6104/10, 13 Js 6074/10, 13 Js 6084/10 und 13 Js 6094/10) eingetragen wurde. Denn das Verfahren wurde von Anfang an nur unter dem Aktenzeichen 13 Js 6104/10 bearbeitet.
b) Hingegen sind zusätzlich gesonderte Gebühren und Auslagen für die anwaltliche Tätigkeit in dem ursprünglich von der Amtsanwaltschaft geführten Ermittlungsverfahren 3012 PLs 16377/10 entstanden, das nach der Übernahme durch die Staats-anwaltschaft am 23. Dezember 2010 unter dem Aktenzeichen 13 Js 6464/10 eingetragen und zu dem führenden Verfahren 13 Js 6104/10 verbunden wurde. Der in dieser Sache gegen den Be-schuldigten erhobene Vorwurf, bei seiner Zuführung in die ge-schlossene Abteilung des St. J.-Krankenhauses die Polizeibeam-tin U. verletzt zu haben, stand zwar in einem untrennbaren Zu-sammenhang mit den übrigen Vorfällen vom 12. September 2010 und ist auch Gegenstand der gegen den Beschuldigten erhobenen Antragsschrift geworden. Gleichwohl handelte es sich bei diesem Verfahren gebührenrechtlich um eine andere Angelegenheit. Denn es wurde erst mit der Strafanzeige der Geschädigten vom 15. November 2010 eingeleitet und bei der Polizei nicht (mehr) in den genannten Sammelvorgang aufgenommen, sondern mit der Vorladung des Beschuldigten vom 22. November 2010 und der an-schließenden Abgabeverfügung an die Amtsanwaltschaft bis zur Übernahme durch die Staatsanwaltschaft getrennt bearbeitet. Ob die in getrennten Verfahren geführten Ermittlungen eine Tat im Sinne des § 264 StPO betreffen oder die betroffenen Delikte sogar, wie es die Staatsanwaltschaft hier angenommen hat, zu-einander in Tateinheit (§ 52 StGB) stehen, spielt gebühren-rechtlich keine Rolle. Deshalb kommt es entgegen der Ansicht der Rechtspflegerin nicht darauf an, ob Rechtsanwalt S. Anfang Dezember 2010 bei Übernahme des Mandats der ihm überlassenen Beschuldigtenladung entnehmen konnte, daß der Vorgang untrenn-bar mit den Vorfällen des Sammelverfahrens zusammenhing, zu dem er sich bereits zuvor als Verteidiger gemeldet hatte.
Daraus folgt, daß die Tätigkeit des Anwalts hier gesondert zu vergüten ist. Durch die spätere Verbindung der Sache mit dem Verfahren 13 Js 6104/10 sind die bis zu diesem Zeitpunkt be-reits entstandenen Ansprüche auch nicht wieder erloschen (vgl. Thür. OLG Rpfleger 2004, 313). Sie bleiben dem Rechtsanwalt nach dem Rechtsgedanken des § 15 Abs. 4 RVG erhalten.
Mithin sind als notwendige Auslagen des früheren Beschuldigten weitere Gebühren nach den Nrn. 4101 und 4105 VV RVG in Höhe der jeweils beanstandungsfrei beantragten 200 und 170 EUR sowie eine zweite Auslagenpauschale von 20 EUR (Nr. 7002 VV RVG) zuzüglich Umsatzsteuer (Nr. 7008 VV RVG), insgesamt also 464,10 EUR, nebst Zinsen aus der Landeskasse zu erstatten.
3. Von einer Kostenentscheidung nach den §§ 473 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 StPO zu Lasten des Nachlasses sieht der Senat in entsprechender Anwendung des § 465 Abs. 3 StPO ab.
Einsender: RiKG Klaus-Peter Hanschke, Berlin
Anmerkung:
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