Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Stuttgart, Beschl. v. 18.02.2025 - 1 Ws 15/25
Leitsatz des Gerichts mit Ergänzungen/Änderungen:
1. Bei der Bewertung von Postlaufzeiten wird in künftigen Fällen aufgrund des Gesetzes zur Modernisierung des Postrechts (PostModG; BGBl. 2024 I Nr. 236) die eingetretene Änderung der Rechtslage in den Blick zu nehmen sein. Danach kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass ein zur Post gegebenes Rechtsmittel bereits am nächsten Werktag beim Gericht eintrifft.
2. Legt ein Gefangener einer JVA mittels Brief ein fristgebundenes Rechtsmittel ein und geht dieses verspätet bei Gericht ein, so sind bei der Beurteilung des Verschuldens der Fristüberschreitung viele Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Beispielsweise darf nicht darauf verwiesen werden, dass der Gefangene die Möglichkeit hatte, seinen Verteidiger mit der Rechtsmitteleinlegung zu beauftragen. Ein Gefangener hat keinen Anspruch darauf, sein Rechtsmittel mittels Telefax der JVA dem zuständigen Gericht zu übermitteln. Ein Rechtsmittelführer darf eine Frist auch bis zu ihrer Grenze ausnutzen. Er muss allerdings die normalen Postlautzeiten einkalkulieren. Wegen deren jüngster allgemeiner Verlängerung erscheinen dabei Entscheidungen überholt, nach der ein Rechtsmittelführer auf eine übliche Postlaufzeit von einem oder zwei Werktagen vertrauen darf.
2. Zudem müssen Zeiten für die Beförderung eines Briefs innerhalb einer JVA einkalkuliert werden, ebenso wie für eine dort vorgenommene Briefkontrolle.
In pp.
1. Auf den Antrag des Angeklagten auf Entscheidung des Revisionsgerichts wird der Beschluss des Landgerichts Hechingen vom 17. Dezember 2024 aufgehoben und dem Angeklagten Wiedereinsetzung in die versäumte Revisionseinlegungsfrist gewährt.
2. Mit dem Eingang der Akten beim Landgericht Hechingen beginnt die Frist zur Ergänzung der abgekürzten Urteilsgründe.
3. Mit der Zustellung des gegebenenfalls ergänzten Urteils beginnt die Frist zur Begründung der Revision.
Gründe
I.
Der Angeklagte befindet sich in Untersuchungshaft. Das Amtsgericht Hechingen hat ihn wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sieben Monaten verurteilt. Seine hiergegen gerichtete Berufung hat das Landgericht Hechingen am 18. Oktober 2024 als unbegründet verworfen.
Mit einem auf den 21. Oktober 2024 datierten Brief, abgestempelt am 27. Oktober 2024 und eingegangen beim Landgericht am 28. Oktober 2024, hat der Angeklagte Revision eingelegt.
Das Landgericht hat am 2. Dezember 2024 ein abgekürztes Urteil (§ 267 Abs. 4 StPO) zu den Akten gebracht. Im angefochtenen, dem Angeklagten formlos übersandten Beschluss hat es die Revision als unzulässig verworfen, da Wiedereinsetzungsgründe weder vorgetragen noch ersichtlich seien und der Angeklagte seiner Verteidigerin einen Auftrag zur Einlegung der Revision hätte erteilen können.
Die hiergegen gerichtete Eingabe des Angeklagten, beim Landgericht am 19. Dezember 2024 eingegangen, ist als Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts nach § 346 Abs. 2 StPO, verbunden mit einem Wiedereinsetzungsantrag, auszulegen. Der Angeklagte führt aus, den Brief (Revisionseinlegung) am 22. Oktober 2024 abgeschickt zu haben; er gehe davon aus, dass die Briefbeförderung lange gedauert habe, weil er in der JVA sei und bitte um Zulassung seiner Revision.
Eine Anfrage des Senats bei der JVA ergab, dass die Gefangenen ihre frankierten Briefsendungen in einen Briefkasten der JVA einwerfen können, der von Montag bis Freitag täglich morgens geleert werde. In der Regel transportiere die JVA die Sendungen am selben Tag zu einem Briefkasten der Post und werfe sie dort – im Normalfall vor dessen Leerung – ein. In Fällen der Briefzensur erfolge eine Weiterleitung an die für die Briefkontrolle zuständige Stelle.
Die Anträge des Angeklagten haben Erfolg.
II.
Die Revision des Angeklagten ist zulässig. Sein Rechtsmittelschreiben ging zwar verspätet – nach Ablauf der einwöchigen Einlegungsfrist des § 341 Abs. 1 StPO – beim Landgericht ein. Ihm ist jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
1. Die Voraussetzungen der § 44 Satz 1, § 45 Abs. 1 und 2 StPO liegen vor.
a) Der Angeklagte hat die Frist zur Einlegung der Revision unverschuldet versäumt. Legt ein Gefangener in der JVA mittels Brief ein fristgebundenes Rechtsmittel ein und geht dieses verspätet bei Gericht ein, so sind bei der Beurteilung, ob er die Fristüberschreitung verschuldet hat, folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen:
aa) Ein Angeklagter kann nicht darauf verwiesen werden, die Möglichkeit gehabt zu haben, seinen Verteidiger mit der Rechtsmitteleinlegung zu beauftragen. Nach § 296 Abs. 1 StPO steht dem Angeklagten ein eigenes Recht zu, Rechtsmittel einzulegen. Seine Anfechtungsberechtigung entfällt nur bei Verhandlungsunfähigkeit (vgl. MüKoStPO/Allgayer, 2. Aufl., § 296 Rn 24, 25).
Ein Rechtsmittelführer darf eine Frist bis zu ihrer Grenze ausnutzen (BVerfG NJW 1980, 580; 1986, 244 jew. mwN). Auch weil ihm eine gewisse Überlegungsfrist zuzubilligen ist, kann ihm nicht entgegengehalten werden, er hätte die Einlegung des Rechtsmittels früher vornehmen können oder müssen (vgl. KK-StPO/Schneider-Glockzin, 9. Aufl., § 44 Rn 18; Graf/Cirener, StPO, 4. Aufl. § 44 Rn 17). Ein Anspruch des Gefangenen darauf, sein Rechtsmittel mittels Telefax der JVA dem zuständigen Gericht zu übermitteln, besteht nicht (BGH BeckRS 2014, 7852).
Da normale Postlaufzeiten einkalkuliert werden müssen, ist eine verschuldete Fristversäumnis zwar dann anzunehmen, wenn ein Gefangener sein Rechtsmittel erst am letzten Tag der Frist in den Abteilungsbriefkasten der JVA einwirft (BGH NStZ 2006, 54) oder seinen Verteidiger erst einen Tag vor Fristablauf mit der Rechtsmitteleinlegung beauftragt (BGH BeckRS 2008, 21219). Verzögerungen bei der Briefbeförderung und –zustellung dürfen einem Rechtsmittelführer jedoch nicht als eigenes Verschulden zugerechnet werden (BVerfG BeckRS 1976, 30703659). Bei der Bewertung der Postlaufzeiten wird in künftigen Fällen zudem eine aufgrund des Gesetzes zur Modernisierung des Postrechts (PostModG; BGBl. 2024 I Nr. 236) eingetretene Änderung der Rechtslage in den Blick zu nehmen sein. Während die 1998 in Kraft und mit Ablauf des 31.12.2024 außer Kraft getretene Post-Universaldienstleistungsverordnung in § 2 Nr. 3 vorschrieb, dass von den an einem Werktag eingelieferten inländischen Briefsendungen mindestens 80 % am ersten und 95 % bis zum zweiten auf den Einlieferungstag folgenden Werktag ausgeliefert werden, sehen die in § 18 Abs. 1 PostG geregelten Laufzeitvorgaben deutlich längere Beförderungszeiten vor. Nach dieser Bestimmung müssen ab 1.1.2025 (vgl. § 112 Abs. 4 PostG) im Jahresdurchschnitt 95 % der inländischen Briefsendungen erst am dritten auf den Einlieferungstag folgenden Werktag zugestellt werden; am vierten Werktag sollen es 99% sein. Danach erscheinen Entscheidungen, nach denen ein Rechtsmittelführer auf eine übliche Postlaufzeit von einem oder zwei Werktagen vertrauen darf (vgl. BGH NJW-RR 2004, 1217; OLG Celle BeckRS 2021, 19042; OLG Hamm NJW 2009, 2230; OLG Stuttgart NStZ-RR 2010, 15), überholt.
Zu den neuerdings zu veranschlagenden, nicht unbeträchtlichen Postlaufzeiten kommen die von einem Rechtsmittelführer ebenfalls nicht beeinflussbaren bzw. nicht näher kalkulierbaren Zeiträume hinzu, die durch die Beförderung eines Briefs innerhalb einer JVA und von dort – entweder durch direkten Transport zum Gericht oder durch Übergabe zur Post zur Weiterbeförderung – bis zum Eingang beim Gericht verstreichen. Einzelheiten hierüber werden häufig unklar bzw. nicht rekonstruierbar bleiben. Ferner kann eine vorgenommene Briefkontrolle, von der auch Behörden- bzw. Gerichtspost nicht generell ausgenommen ist (BeckOK Strafvollzug BW/Dorsch, Stand 1.10.2024, JVollzGB II § 17 Rn 9; JVollzGB III § 24 Rn 9 und JVollzGB IV. § 22 Rn 9), innerhalb der JVA, im Falle von Untersuchungshaft und angeordneten Beschränkungen auch innerhalb der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts, weitere Zeit beanspruchen.
bb) Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte ist hier aufgrund der Gesamtumstände, der Aktenlage und des Vortrags des Angeklagten davon auszugehen, dass ihn an der Nichteinhaltung der Revisionseinlegungsfrist kein Verschulden trifft. Das Einlegungsschreiben ist auf den 21. Oktober 2024 datiert; auf dem Briefkuvert ist ein Vermerk angebracht, laut dem der Brief am 22. Oktober 2024 in der JVA abgegeben wurde. Die genauen Zeitpunkte des Briefeinwurfs in der JVA, des Transports durch die JVA zum Briefkasten der Post und der dortigen Leerung sowie der für die postalische Weiterbeförderung und Zustellung verstrichene Zeitraum sind nicht mehr aufklärbar. Die Darstellung des Angeklagten fügt sich stimmig in die dem Senat aus mehreren anderen Strafverfahren bekannten Gesamtbeförderungszeiten von 10 bis 20 Tagen für Briefsendungen, deren Absender sich in Untersuchungs- oder Strafhaft befindet, ein. Zeiträume solchen Ausmaßes können ein Verschulden des Rechtsmittelführers an einem Fristversäumnis nicht begründen.
b) Einer besonderen Glaubhaftmachung bedarf es nicht. Zwar eignen sich Erklärungen des Antragstellers grundsätzlich nicht zur Glaubhaftmachung; dies gilt selbst dann, wenn die Wahrheit der behaupteten Tatsachen besonders naheliegt oder der Lebenserfahrung entspricht. Die eigene schlichte Erklärung genügt jedoch ausnahmsweise dann, wenn der Antragsteller – wie hier – unverschuldet den notwendigen Beweis nicht zu führen vermag (MüKoStPO/Valerius, 2. Aufl., § 45 Rn 12, 13 mwN).
2. Die danach als zulässig zu behandelnde Revision führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung.
Infolge der gewährten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Revision beginnt die gemäß § 267 Abs. 4 Satz 4 StPO vorgesehene Frist zur Ergänzung der abgekürzten Urteilsgründe mit dem Eingang der Akten bei dem Landgericht Hechingen als für die Ergänzung zuständigen Gericht (BGH NStZ 2009, 228; NJW 2024, 2340; KK-StPO/Bartel, 9. Aufl., § 267 Rn 81 mwN). Mit der Zustellung des gegebenenfalls ergänzten Urteils beginnt die Frist zur Begründung der Revision (BGH BeckRS 2023, 8943).
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