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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, Straferwartung, Gesamtstrafe, Schwere der Tat, schwerwiegende Nachteile

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Stendal, Beschl. 11.08.2025 - 501 Qs 40/25

Eigener Leitsatz:

1. Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt zwar nicht schon dann vor, wenn eine Freiheitsstrafe zu erwarten ist. Allerdings besteht bei einer Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe Anlass, einen Pflichtverteidiger beizuordnen. Diese Grenze für die Straferwartung gilt auch, wenn sie „nur" wegen einer zu erwartenden Gesamtstrafenbildung erreicht wird.
2. Drohen dem Beschuldigten in mehreren Parallelverfahren Strafen, die letztlich gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, welche das Merkmal „Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge" i. S. d. § 140 Abs. 2 StPO begründet, ist die Mitwirkung eines Verteidigers in jedem Verfahren geboten.
3. Daneben sind ggf. auch sonstige schwerwiegende Nachteile, die der Beschuldigte infolge der Verurteilung zu erwarten hat, zu berücksichtigen. Hierzu gehört insbesondere ein drohender Bewährungswiderruf.


Landgericht Stendal

Beschluss

In dem Ermittlungsverfahren
gegen pp.

Verteidiger:

Rechtsanwalt

wegen des Verdachts des Betruges

hat die Strafkammer 1 des Landgerichts Stendal als Beschwerdekammer durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht, die Richterin am Landgericht und den Richter am 11. August 2025 beschlossen:

Auf die sofortige Beschwerde des Beschuldigten wird der Beschluss des Amtsgerichts Stendal vom 16. Mai 2025 (Az. 21 Gs 5942/25 (683/25), mit dem das Amtsgericht den Antrag auf Beiordnung von Rechtsanwalt pp. als notwendigen Verteidiger zurückgewiesen hat, aufgehoben.
Dem Beschuldigten wird Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger beigeordnet.
Die Kosten der Beschwerde und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Beschuldigten trägt die Landeskasse.

Gründe:

I.

Die Staatsanwaltschaft Stendal ermittelte im vorliegenden Verfahren gegen den Beschuldigten wegen des Verdachts des Betruges. Der Beschuldigte soll am 14. Dezember 2024 vom Geschädigten unter Vorspiegelung der Lieferung eines volldigitalen Fahrzeugtachometers einen Betrag von 400,00€ auf seinem Bankkonto erhalten haben, ohne das Fahrzeugtacho geliefert zu haben.

Der Beschuldigte ist bisher einschlägig wegen Betrugsdelikten strafrechtlich in Erscheinung getreten. Zuletzt ist er mit Urteil des Amtsgerichts Siegburg vom 29. April 2024 (Az. 230 Ls 40/23) sowie mit Urteil des Landgerichts Bonn (Az. 26 NBs 45/24) wegen Betruges im Zeitraum vom 08. August 2022 bis zum 08. Mai 2023 zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 3 Monaten - noch nicht rechtskräftig - verurteilten worden. Daneben sind weitere Verfahren gegen den Beschuldigten vor dem Amtsgericht Siegburg (Az. 230 Ls 28/24; 230 Ls 3/25) wegen Betruges in Höhe von 400,00€ im Zeitraum vom 22. März 2023 bis zum 31. August 2024 anhängig.

Mit Schriftsatz vom 03. Juni 2025 beantragte der Verteidiger namens und in Vollmacht des Beschuldigten die Beiordnung als Pflichtverteidiger sowie Akteneinsicht. Zur Begründung führte der Verteidiger im Wesentlichen aus, dass die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO gegeben seien. Hierüber sei auf Antrag des Pflichtverteidigers nach § 141 Abs. 1 S. 1 StPO zu entscheiden. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Schriftsatz vom 3. Juni 2025 Bezug genommen.

Mit angefochtenem Beschluss vom 16. Juni 2025 wies das Amtsgericht Stendal den Antrag des Verteidigers auf Beiordnung als Pflichtverteidiger zurück (Az. 21 Gs 586 Js 5942/25 (683/25). Zur Begründung führt das Gericht aus, dass die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO nicht gegeben seien. Weder die Schwere der Tat noch die der zu erwartenden Rechtsfolgen ließen die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheinen. Unter Berücksichtigung des eingetretenen Schadens von 400,00€ sei eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und darüber nicht zu erwarten. Im Falle der erneuten Verurteilung sei die Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Siegburg vom 29. April 2024 bei Eintritt der Rechtskraft nicht gesamtstrafenfähig und andere negative Folgen seien für den Beschuldigten nicht zu erwarten. Zudem sei nicht ersichtlich, dass der Beschuldigte sich auch nicht selbst verteidigen könne. Die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 StPO seien auch nicht erfüllt. Der angefochtene Beschluss wurde dem Verteidiger des Beschuldigten am 20. Juni 2025 zugestellt.

Mit taggleichem Schriftsatz legte der Verteidiger im Namen des Beschuldigten gegen den Beschluss des Amtsgerichts Stendal vom 16. Juni 2025 sofortige Beschwerde ein. Zur Begründung führt der Verteidiger im Wesentlichen aus, dass die Mitwirkung eines Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 2 StPO angesichts der zu erwartenden Freiheitsstrafe von über einem Jahr im Wege der nachträglichen Gesamtstrafenbildung unter Einbeziehung der Verurteilungen durch das Amtsgericht Siegburg und das Landgericht Bonn zu erwarten sei. Dazu komme, dass der Beschuldigte bereits einschlägig im Bereich der Berufsstraftaten verurteilt worden sei. Hierdurch sei die Beiordnung auch in diesem Verfahren notwendig. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Beschwerdeschriftsatz vom 20. Juni 2025 Bezug genommen.

Der Staatsanwaltschaft Stendal wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.

II.

Die sofortige Beschwerde des Beschuldigten gegen den Beschluss des Amtsgerichts Stendal vom 16. Juni 2025 ist gem. § 142 Abs. 7 S. 1 StPO zulässig. In der Sache hat sie Erfolg. Dem Beschuldigten ist im vorliegenden Verfahren sein Verteidiger als Pflichtverteidiger beizuordnen.

Nach § 140 Abs. 2 StPO liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, wenn wegen der Schwere der Tat, der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen oder wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann.

Vorliegend ist wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben.

Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt zwar nicht schon dann vor, wenn eine Freiheitsstrafe zu erwarten ist (Meyer-Goßner, StPO, 67. Aufl., § 140, Rn. 23a). Allerdings besteht nach überwiegender Auffassung in Rechtsprechung und Literatur (vgl. OLG Naumburg, Urt. v. 22. Mai 2013, 1 Ss 65/13, Rn. 6 m. w. N., zitiert nach juris), der der Kammer folgt, bei einer Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe Anlass, einen Pflichtverteidiger beizuordnen. Hierbei ist nicht nur auf das Verfahren abzustellen, in dem die Beiordnung beantragt wird. Die Grenze für die Straferwartung gilt auch, wenn sie „nur" wegen einer zu erwartenden Gesamtstrafenbildung erreicht wird. Bei der Beurteilung der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen i. S. d. § 140 Abs. 2 StPO ist stets zu berücksichtigen, ob gegen den Beschuldigten auch weitere Verfahren anhängig sind, hinsichtlich derer eine Gesamtstrafenbildung in Betracht kommt. Drohen dem Beschuldigten in mehreren Parallelverfahren Strafen, die letztlich gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, welche das Merkmal „Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge" i. S. d. § 140 Abs. 2 StPO begründet, ist die Mitwirkung eines Verteidigers in jedem Verfahren geboten. Andernfalls hängt es bloß von Zufälligkeiten ab, nämlich der Frage, ob die Verfahren verbunden werden oder nicht, dem Beschuldigten einen Verteidiger beizuordnen (vgl. OLG Naumburg, Urt. v. 22. Mai 2013, 1 Ss 65/13, Rn. 6. m. w. N., zitiert nach juris; einschränkend OLG Naumburg, Beschl. v. 08. März 2017, 2 Rv 7/17, Rn. 7, zitiert nach juris).

Daneben sind - hier nicht einschlägig - auch sonstige schwerwiegende Nachteile, die der Beschuldigte infolge der Verurteilung zu erwarten hat, zu berücksichtigen. Hierzu gehört insbesondere ein drohender Bewährungswiderruf. Daher ist in der Regel auch bei einer Verurteilung zu weniger als einem Jahr die Beiordnung eines Verteidigers geboten, wenn die Summe der im neuen Strafverfahren zu erwartenden Freiheitsstrafe und der wegen der neuen Verurteilung wahrscheinlich zu widerrufenden Straf- bzw. Reststrafenaussetzung über einem Jahr liegt (OLG Naumburg, Beschl. v. 08. März 2017, 2 Rv 7/17, Rn.7 m. w. N., zitiert nach juris).

Gegen den mehrfach, einschlägig vorbestraften Beschuldigten sind derzeit 3 Ermittlungsverfahren wegen Betruges mit dreistelliger Schadenshöhe sowie zwei Berufungsverfahren anhängig, hinsichtlich derer mit dem hier anhängigen Verfahren im Falle einer Verurteilung eine Gesamtstrafe von mehr als 1 Jahr in Betracht kommt.

Unerheblich ist, dass der Tatvorwurf im vorliegenden Verfahren eine Schadenshöhe von 400,00€ umfasst. Einerseits haben vergleichbare Schadenshöhen in demselben Tatzeitraum wie in dem hier anhängigen Verfahren zur Verurteilungen bzw. Anklagen beim Amtsgericht Siegburg - Schöffengericht - geführt. Anderseits ist das vorliegenden Verfahren - gemessen an den obigen Maßstäben - mit den anderen Verfahren vor dem Amtsgericht Siegburg und Landgericht Bonn in Zusammenhang zu betrachten.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 467 StPO.


Einsender: RA. Dr. P.-R., Troisdorf

Anmerkung:


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