Gericht / Entscheidungsdatum: LG Bremen, Beschl. v. 04.06.2025 - 42 Qs 162/25
Eigener Leitsatz:
Ist der Beschuldigte nicht in der Lage, die ihn belastenden Beweisstücke selbstständig einzusehen, weil, wie in einem sog. KiPo-Verfahren, überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter entgegenstehen, ist die Beiordnung eines Pflichtverteidigers wegen Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage geboten.
Landgericht Bremen
Strafkammer 42 (Jugendkammer II)
Beschluss
42 Qs 162/25
in dem Strafverfahren
gegen pp.
Verteidiger:
wegen Besitzes kinder- und jugendpornographischer Inhalte
hat das Landgericht Bremen - Strafkammer 42 - durch die Vorsitzende Richterin am Landgericht, Richterin am Landgericht und Richter am 04.06.2025 beschlossen:
1. Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft vom 12.05.2025 gegen den Beschluss des Amtsgerichts vom 06.05.2025 wird als unbegründet zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens sowie die dem Angeschuldigten entstandenen notwendigen Auslagen trägt die Staatskasse.
Gründe:
I.
Dem Angeschuldigten wird mit Anklage der Staatsanwaltschaft Bremen vom 04.03.2025 Besitz von Kinder- und jugendpornographischen Inhalten vorgeworfen. Er soll bis zum 13.08.2021 15 Bild- und fünf Videodateien mit pornographischen Aufnahmen von unter 14-jährigen Mädchen und Jungen sowie 36 Bild- und 12 Videodateien mit pornographischen Aufnahmen von Mädchen und Jungen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren auf zwei Smartphones und einer Festplatte gespeichert haben. Die Bild- und Videodateien sollen Kinder und Jugendliche beim vaginalen oder oralen Geschlechtsverkehr mit anderen Minderjährigen oder Erwachsenen, der durchgeführten oder gestellten Selbstbefriedigung oder anderen durchgeführten oder realistisch gestellten eindeutigen sexuellen Handlungen, insbesondere dem künstlich gestellten unnatürlichen Hervorheben der entblößten Vagina zum Zwecke der sexuellen Erregung des Betrachters zeigen.
Mit Schreiben vom 18.03.2025 beantragte Rechtsanwalt Burgsmüller, zum Pflichtverteidiger des Angeschuldigten bestellt zu werden.
Mit Beschluss vom 06.05.2025, Az. 101 Ds 403 Js 45824/21 (25/25) ordnete das Amtsgericht Bremen die Bestellung des Rechtsanwalts Burgsmüller zum Pflichtverteidiger des Angeschuldigten an. Es begründete seinen Beschluss mit der Besonderheit des Verfahrensgegenstandes. So sei eine Einsicht der in der Akte befindlichen Bilder und Videos, deren Besitz dem Angeschuldigten vorgeworfen wird, durch den Angeschuldigten selbst nicht möglich. Insoweit würde das schutzwürdige Interesse der Opfer an der Wahrung ihrer Intimsphäre gemäß § 147 Abs. 4 S. 1 StPO einer Einsichtnahme der pornographischen Bilder und Videos durch den Angeschuldigten entgegenstehen. Zur Gewährleistung einer effektiven Verteidigung sei es deswegen geboten, dem Angeschuldigten einen Pflichtverteidiger zu bestellen, der die Bilder und Videos sichten und den Angeschuldigten davon unterrichten kann.
Gegen den Beschluss des Amtsgerichts Bremen vom 06.05.2025 legte die Staatsanwaltschaft Bremen am 12.05.2025 sofortige Beschwerde ein. Sie führte an, dass mit der Begründung des Amtsgerichts in den Fällen der §§ 184b und 184c StGB stets die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich sein würde. Dies sei vom Gesetzgeber jedoch nicht vorgesehen, was sich daraus ergebe, dass in der Auflistung des § 140 Abs. 1 StPO kein entsprechender Fall einer notwendigen Verteidigung genannt sei.
II.
Die sofortige Beschwerde ist zulässig, aber nicht begründet.
Die sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Bremen vom 06.05.2025 ist zulässig. Insbesondere ist die Staatsanwaltschaft durch den ihrer Ansicht nach unzutreffenden Beschluss des Amtsgerichts auch beschwert (Löwe-Rosenberg, 27. Aufl., § 140 StPO Rn. 141).
Die sofortige Beschwerde ist jedoch unbegründet.
Das Amtsgericht Bremen hat in seinem Beschluss vom 06.05.2025 zu Recht die Beiordnung von Rechtsanwalt Burgsmüller als Pflichtverteidiger angeordnet. Die Voraussetzungen für die Beiordnung sind erfüllt.
Vorliegend ist der Beiordnungsgrund der §§ 68 Nr. 1 JGG, 140 Abs. 2 StPO gegeben. Über §§ 109 Abs. 1, 68 Nr. 1 JGG findet die Vorschrift des § 140 StPO im Verfahren gegen Heranwachsende Anwendung. Gemäß § 140 Abs. 2 StPO handelt es sich um einen Fall der notwendigen Verteidigung, wenn die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheinen lässt. Eine solche Schwierigkeit der Sachlage ist hier anzunehmen, da dem Angeschuldigten ohne die entsprechende Beiordnung eines Verteidigers die für eine effektive Verteidigung erforderliche Kenntnisnahme der ihn belastenden Beweisstücke — hier der Lichtbildband zum Gutachten der Bremer Akademie für IT-Forensik sowie der Sonderband „Beweismittel" — verwehrt bliebe. Denn dem grundsätzlich bestehenden Akteneinsichtsrecht des unverteidigten Beschuldigten stünden hier zur Überzeugung der Kammer nach § 147 Abs. 4 S. 1 StPO überwiegende schutzwürdige Interessen Dritter entgegen. Ohne eine Anschauung der Bild- und Videoaufnahmen als wesentliche Beweismittel ist eine ausreichende Verteidigung jedoch nicht möglich. Aus diesem Grund hat der dem Angeschuldigten zu bestellende Pflichtverteidiger die Aufnahmen zu sichten und den Angeschuldigten über seine Erkenntnisse zu unterrichten (vgl. LG Bremen, Beschluss vom 06.01.2025 — 42 Qs 398/24; so auch LG Halle, Beschluss vom 12.08.2020 — 10a Qs 77/20; LG Hanau, Beschluss vom 25.07.2022 — 4 Qs 4/22 —, juris; LG Frankfurt (Oder), Beschluss vom 29.12.2021 — 24 Qs 60/21 —, juris; AG Wuppertal, Beschluss vom 5.11.2020 — 14 Gs 148/20 juris; SSW-StPO/Beulke/Salat, 6. Auflage, § 147 Rn. 48, wonach eine Verteidigung aufgrund der Schwierigkeit der Sachlage notwendig i.S.d. § 140 Abs. 2 StPO ist, soweit dem unverteidigten Beschuldigten die Akteneinsicht aus Gründen versagt wird, aus denen sie dem Verteidiger nicht verweigert werden dürfte).
Der Angeschuldigte ist vorliegend insbesondere nicht in der Lage, die ihn belastenden Beweisstücke selbstständig einzusehen. Zwar sieht § 147 Abs. 4 Satz 1 StPO ein Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten vor. Dieses gilt jedoch nicht uneingeschränkt, sondern unterliegt u.a. der Voraussetzung, dass keine überwiegenden schutzwürdigen Interessen Dritter entgegenstehen. Ein solches Überwiegen schutzwürdiger Interessen Dritter ist hier in Form der Wahrung der Intimsphäre der auf den Bildern und Videos erkennbaren Personen gegeben. Bei der Wahrung der Intimsphäre Dritter handelt es sich um eine der i.S.v. § 147 Abs. 4 Satz 1 StPO berücksichtigungsfähigen Interessen (Meyer-Goßner/Schmitt, 67. Auflage, § 147 Rn. 32; SSW-StPO/Beulke/Salat, 6. Auflage, § 147 Rn. 49). Die verfahrensgegenständlichen Beweisstücke sind dem höchstpersönlichen Lebensbereich zuzuordnen, da sie kinder- und jugendpornographische Abbildungen enthalten, die die Geschädigten u.a. mit entblößten Geschlechtsteilen und bei der Vornahme von sexuellen Handlungen zeigen. Die Geschädigten sind dabei auch identifizierbar, da auf verschiedenen Bildern und Videos ihre Gesichter erkennbar sind.
An diesem Ergebnis ändert nichts, dass der Gesetzgeber den vorliegenden Fall nicht explizit als einen solchen der notwendigen Verteidigung in § 140 Abs. 1 StPO aufgeführt hat. Allein aufgrund des Umstands, dass es sich vorliegend nicht um einen der in § 140 Abs. 1 StPO positiv genannten Fälle der notwendigen Verteidigung handelt, lässt sich nämlich nicht darauf schließen, dass vom Gesetzgeber ein genereller Ausschluss der notwendigen Verteidigung für Taten nach §§ 184b, 184c StGB vorgesehen ist. Dem liegt die Erwägung zugrunde, dass eine solche Normierung in § 140 Abs. 1 StPO überhaupt nur in Betracht kommt, falls das Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten generell ausgeschlossen wäre, sobald der Akteninhalt oder die Beweisstücke schutzwürdige Interessen Dritter berühren. Die Formulierung in § 147 Abs. 4 S. 1 StPO macht jedoch deutlich, dass dies nicht der Fall ist. Danach kommt es vielmehr darauf an, ob im Einzelfall ein Überwiegen der schutzwürdigen Interessen Dritter gegenüber dem Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten gegeben ist. Ein solches Überwiegen kann etwa abzulehnen sein, wenn die geschädigten Kinder und / oder Jugendlichen anonym bleiben und keine Vertiefung eines möglicherweise vorliegenden Eingriffs in die schutzwürdigen Interessen Dritter zu befürchten ist (vgl. dazu LG Ansbach, Beschluss vom 12.10.2020 — 3 Qs 49/20, BeckRS 2020, 29033). Sind die abgebildeten Kinder und / oder Jugendlichen hingegen in ihrer Gesamtheit zu sehen und auch ihre Gesichter erkennbar, lässt dies eine grundsätzliche Identifizierbarkeit und damit einhergehend eine Intensivierung der Verletzung ihres Persönlichkeitsrechts erwarten, wodurch sich das schutzwürdige Interesse an der Wahrung ihrer Intimsphäre erhöht (so bereits LG Bremen, Beschluss vom 06.01.2025 — 42 Qs 398/24).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 2 StPO.
Einsender: RA F. Burgsmüller, Bremerhaven
Anmerkung: