Gericht / Entscheidungsdatum: LG Dessau-Roßlau, Beschl. v. 20.08.2025 - 6 Qs 109/25
Eigener Leitsatz:
Bei der Beurteilung der Schwere der Rechtsfolge im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO ist nicht nur auf die Rechtsfolgenentscheidung des in Rede stehenden Verfahrens. sondern auch auf sonstige erhebliche Auswirkungen der verhängten Sanktion auf den Angeklagten abzustellen. Die Grenze von etwa einem Jahr gilt deswegen auch dann, wenn sie erst durch eine erforderliche Gesamtstrafenbildung erreicht wird. Dabei kommt es nicht darauf an, ob bereits rechtskräftig verhängte Strafen eine Gesamtstrafenbildung erforderlich machen. Vielmehr sind bei der Beurteilung der Schwere der Tat im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO auch weitere anhängige Verfahren zu berücksichtigen.
LG Dessau-Roßlau
6 Qs 109/25
Beschluss
In der Strafsache
gegen pp.
Verteidiger:
Herr Rechtsanwalt Jan-Robert Funck. Schleinitzstraße 14. 38106 Braunschweig
wegen Diebstahls u.a.
hat die 6. Strafkammer - Beschwerdekammer - des Landgerichts Dessau-Roßlau durch die unterzeichnenden Richterinnen und Richter am 20. Aug. 2025 beschlossen:
Auf die Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss des Amtsgerichts Köthen vom 01. Aug. 2025 aufgehoben.
Dem Angeklagten wird Rechtsanwalt pp. als notwendiger Verteidiger beigeordnet.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten trägt die Landeskasse.
Gründe:
Die Staatsanwaltschaft hat unter dem 29. Jan. 2025 Anklage wegen Diebstahls in zwei Fällen. Beleidigung sowie Beleidigung in Tateinheit mit Bedrohung in drei Fällen erhoben.
Das Amtsgericht hat die Anklage mit Beschluss vom 04. Juni 2025 zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet.
Mit Schriftsatz vom 11. Juni 2025 hat sich der Verteidiger des Angeklagten gegenüber dem Amtsgericht angezeigt und beantragt. diesem als Pflichtverteidiger gemäß § 140 Abs. 2 StPO beigeordnet zu werden. Die Staatsanwaltschaft ist dem Antrag mit Verfügung vom 17. Juni 2025 entgegengetreten.
Mit Schriftsatz vom 01. Juli 2025 hat der Verteidiger an seinen Antrag vom 11. Juni 2025 erinnert und um Entscheidung ersucht. Unter dem 22. Juli 2025 hat er sodann Beschwerde eingelegt, die er mit der Untätigkeit des Gerichts in Bezug auf den Beiordnungsantrag begründet hat.
Mit Beschluss vom 01. Aug. 2025 hat das Amtsgericht den Antrag auf Beiordnung zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt, die Voraussetzungen für eine Beiordnung nach § 140 Abs. 2 StPO lägen nicht vor. da weder die Schwere der Tat noch der zu erwartenden Rechtsfolge oder die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erschienen ließen. Auch sei nicht ersichtlich. dass sich der Angeklagte nicht selber verteidigen könne.
Gegen diesen Beschluss hat der Verteidiger mit Schriftsatz vom 04. Aug. 2025 namens und in Vollmacht des Angeklagten Beschwerde eingelegt, zu deren Begründung er im Wesentlichen ausführt, gegen den Angeklagten seien weitere Verfahren sowohl vor dem Revisionsgericht als auch vor dem Amtsgericht Köthen anhängig. die bei der Beurteilung der Rechtsfolgen nicht außer Betracht bleiben könnten. Hier sei mit einer Gesamtstrafenbildung zu rechnen. bei der eine Gesamtstrafe von mehr als einem Jahr Freiheitsstrafe in Betracht komme.
Die Staatsanwaltschaft ist der Beschwerde entgegengetreten.
II.
Die Beschwerde des Angeklagten ist als sofortige Beschwerde gemäß SS 142 Abs. 7. 311 StPO zulässig, insbesondere fristgerecht.
Sie ist auch in der Sache begründet.
Soweit der Angeklagte hier die Bestellung von Rechtsanwalt pp. zum Pflichtverteidiger beantragt hat, kommt eine solche allein nach § 140 Abs. 2 StPO in Betracht.
Entgegen der Ansicht des Amtsgerichts sind die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO insoweit auch erfüllt, als vorliegend davon auszugehen ist, dass die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen die Mitwirkung eines Verteidigers gebietet. Diese ist vor allem nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung zu beurteilen. Nach überwiegender Ansicht gibt eine Straferwartung ab etwa einem Jahr in der Regel Anlass zur Mitwirkung eines Verteidigers (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 68. Aufl., § 140. Rn.23a m.w.Nachw.).
Zwar ist dem Amtsgericht zuzugeben, dass - allein die hier zugrundeliegende Anklage betrachtet - im Falle einer Verurteilung der Angeklagte angesichts erhobenen Tatvorwürfe im Falle deren Erweislichkeit nicht unbedingt mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr oder mehr zu rechnen haben dürfte. Bei der Beurteilung der Schwere der Tat im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO ist aber - worauf der Verteidiger zu Recht hinweist - nicht nur auf die Rechtsfolgenentscheidung des in Rede stehenden Verfahrens. sondern auch auf sonstige erhebliche Auswirkungen der verhängten Sanktion auf den Angeklagten abzustellen. Die Grenze von etwa einem Jahr gilt deswegen auch dann, wenn sie durch eine erforderliche Gesamtstrafenbildung erreicht wird. Dabei kommt es nicht darauf an, ob bereits rechtskräftig verhängte Strafen eine Gesamtstrafenbildung erforderlich machen. Die Kammer teilt die obergerichtlich vertretene Ansicht, dass bei der Beurteilung der Schwere der Tat im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO auch weitere anhängige Verfahren zu berücksichtigen sind, die im Falle einer rechtskräftigen Verurteilung des Angeklagten gesamtstrafenfähig sind (vgl. OLG Naumburg. Urt. v. 22. Mai 2013 - 2 Ss 65/13 -: ebenso OLG Hamm, Beschl. v. 20. Nov. 2003 - 2 Ws 279/03 KG Berlin. Beschl. v. 26. Oktober 2016 - (3) 161 Ss 162/16 (88/16) juris). Ein schwerwiegender mittelbarer Nachteil kann sich überdies auch daraus ergeben. dass als Folge der Verurteilung der Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung in anderer Sache droht (vgl. KG, Beschl. v. 20. Sept. 2001 ¬3 Ws 419/01 juris).
Vorliegend ist der Angeklagte durch nicht rechtskräftiges Urteil des Landgerichts Dessau-Roßlau vom 11. Juni 2025 (4 NBs 294 Js 9752/23) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr verurteilt worden. Zudem ist gegen ihn ein weiteres Verfahren vor dem Amtsgericht Köthen wegen Hausfriedensbruch, Nötigung, Diebstahl und Beleidigung anhängig (5 Ds 296 Js 4099/25), das gegebenenfalls mit dem vorliegenden Verfahren zu verbinden sein wird.
Drohen aber dem Angeklagten in mehreren Parallelverfahren Strafen, die letztlich gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, welche das Merkmal der „Schwere der Tat" im Sinne des S 140 Abs. 2 StPO begründet, ist die Verteidigung in jedem Verfahren notwendig. Anderenfalls hinge es von bloßen Zufälligkeiten. nämlich der Frage, ob Verfahren verbunden werden oder nicht, ab. ob dem Angeklagten ein Verteidiger beizuordnen ist (OLG Naumburg. a.a.O.).
Dementsprechend sind die Voraussetzungen für eine Beiordnung nach § 140 Abs. 2 StPO vorliegend gegeben, so dass der Beschluss des Amtsgerichts aufzuheben und dem Angeklagten Rechtsanwalt Funck als notwendiger Verteidiger zu bestellen war.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von § 467 StPO.
Einsender: RA J.-R. Funck, Braunschweig
Anmerkung: