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Entscheidungen

OWi

Akteneinsicht, Bußgeldverfahren, Umfang, faires Verfahren, Rohmessdaten

Gericht / Entscheidungsdatum: AG Gotha, Beschl. v. 09.04.2025 - 9 AR 13/25 OWi

Eigener Leitsatz:

1. Aus dem Recht auf faire Verfahrensgestaltung im Bußgeldverfahren ergibt sich grundsätzlich ein Anspruch des Betroffenen gegenüber der Bußgeldbehörde auf Zugang zu den bei ihr vorhandenen, nicht zur Akte gelangten Informationen, die aus Sicht des Betroffenen für die Beurteilung der Erfolgsaussichten seiner Verteidigung bedeutsam sein können
2. Rohmessdaten gehören nicht dazu.


9 AR 13/25 OWi

Beschluss

In dem Strafverfahren
gegen pp.

Verteidiger

hier: Akteneinsichtsgesuch,

hat das Amtsgericht Gotha durch Richter am Amtsgericht pp. am 09.04.2025 beschlossen:

1. Auf den Antrag des Verteidigers des Betroffenen hin wird die Zentrale Bußgeldstelle Adern verpflichtet, der Verteidigung Akteneinsicht in die folgenden, bei der Behörde vorhandenen. Unterlagen zu gewähren:
- gesamte Messreihe
- Beschilderungsplan (soweit vorhanden).
- Bedienungsanleitung (Akteneinsicht bei der Behörde).

Die Akteneinsicht ist durch Übersendung in die Kanzleiräume, in geeigneten Fällen, nachdem der Verteidiger ein entsprechend geeignetes Speichermedium zur Verfügung gestellt hat, oder, wenn dies technisch nicht anders möglich ist, in den Räumen der Verwaltungsbehörde zu gewähren. Im Übrigen wird der Antrag zurückgewiesen:
Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen der Betroffenen trägt die Staatskasse.

Gründe:

Die Zentrale Bußgeldstelle Adern hat einen Bußgeldbescheid vom 09.01.2025 erlassen, in dem dem Betroffenen zur Last gelegt wird, die zulässige Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 31 km/h überschritten zu haben. Die Geschwindigkeit wurde mit dem Messgerät Typ POL1SCAN FM 1 gemessen.

Auf die beantragte Akteneinsicht, gewährte die Verwaltungsbehörde Einsicht im beantragten Umfang mit Ausnahme der Rohmessdaten, gesamte Messreihe, Beschilderungsplan, Bedienungsanleitung.

Dieses Akteneinsichtsgesuch verfolgt der Verteidiger des Betroffenen nach erneuter Ablehnung durch die Behörde weiter. Der Verteidiger begehrt die gerichtliche Entscheidung hinsichtlich der Übersendung der bisher nicht zur Verfügung gestellten Unterlagen.

II.

Der zulässige Antrag ist aus dem im Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

Aus dem Recht auf faire Verfahrensgestaltung im Bußgeldverfahren ergibt sich grundsätzlich ein Anspruch des Betroffenen gegenüber der Bußgeldbehörde auf Zugang zu den bei ihr vorhandenen, nicht zur Akte gelangten Informationen, die aus Sicht des Betroffenen für die Beurteilung der Erfolgsaussichten seiner Verteidigung bedeutsam sein können. Denn aus dem Recht auf ein faires Verfahren folgt, dass der Betroffene eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens grundsätzlich auch das Recht hat, Kenntnis von solchen Inhalten zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlung entstanden sind, aber nicht zur Akte genommen wurden (BVerfG, Beschluss vom 12.11.2020 - 2 11/R 1616/18). Denn der Betroffene kann ein Interesse daran haben, den Vorwurf betreffende Informationen, die nicht zur Bußgeldakte genommen wurden, eigenständig auf Entlastungsmomente hin zu untersuchen. Wird ihm ein Geschwindigkeitsverstoß angelastet, muss er deshalb in gleicher Weise selbst nach Entlastungsmomenten suchen können, die zwar fernliegen mögen, aber nicht schlechthin auszuschließen sind (Thüringer Oberlandesgericht,. Beschluss vom 17. März 2021 - 1 OLG 331 SsBs 23/20 -, juris). Dieses Informationsrecht gilt zwar nicht uneingeschränkt, sondern bedarf einer sachgerechten Begrenzung, um uferloser Ausforschung, erheblicher Verfahrensverzögerung und Rechtsmissbrauch vorzubeugen (Thüringer OLG, a.a.O.). Die begehrten Informationen müssen folglich konkret benannt werden, 1h einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungsvorwurf stehen, und sie müssen erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen (Thüringer OLG, a.a.O.).

Das Gericht schließt sich der Auffassung des Thüringer Oberlandesgericht an, wonach die Messreihe in Gänze zur Verfügung gestellt werden muss (vgl. Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 17. März 2021 -1 OLG 331 SsBs 23/20 -, Rn.19, juris). Die Zurverfügungstellung der Originaldatei muss selbstverständlich in einer für den Betroffenen verwendbaren Form erfolgen. Soweit hierfür die Zurverfügungstellung eines Tokens mit Passwort erforderlich ist, wird die Verwaltungsbehörde auch diese zur Verfügung stellen müssen. Soweit die Herausgabe eines behördeninternen Tokens nicht gewollt ist, steht es der Verwaltungsbehörde frei, hierfür selbst einen zusätzlichen Token anzufordern' und - gegen Kostenübernahme - zur Verfügung zu stellen.

Auch die Bedienungsanleitung sind nach hiesiger Auffassung zur Einsichtnahme zur Verfügung zu stellen (vgl. AG Gotha, Beschluss vom 4. Januar 2017 - 10 OWi 742/16 -, Rh. 10, juris; AG Jena, Beschluss vom 13. August 2018 - 3 OWI 1194/18 -, Rn. 3, juris), wobei Einsicht in die Bedienungsanleitung auf der Dienststelle zu nehmen ist, weil einer Übersendung nach zutreffender Auffassung urheberrechtliche Gesichtspunkte entgegenstehen (AG Jena, a.a.O.), sodass der weitergehende Antrag zurückzuweisen war.

Soweit der Beschilderungsplan verlangt wird, ist dieser der Verteidigung zur Verfügung zu stellen, sofern dieser bei der Behörde vorhanden ist. Denn der Einsichtsanspruch beschränkt sich auf solche Unterlagen, die zum Zwecke der Ermittlung entstanden, aber nicht zur Akte gelangt sind. Die Verwaltungsbehörde ist nicht verpflichtet, Unterlagen, über die weder sie noch die Ermittlungsbehörden verfügen und die lediglich der Betroffene aus seiner -Perspektive für bedeutsam hält, außerhalb der Aufklärungspflicht bei Dritten herbeizuschaffen. Vielmehr muss sich der Verteidiger darauf verweisen lassen, sich diese beim Dritten zu beschaffen (OLG Karlsruhe Beschl. v. 25.4.2024 - Aktenzeichen 35 Ss 425/23, BeckRS 2024, 9953).

Rohmessdaten sind nicht zur Verfügung zu stellen.

Bei Geschwindigkeitsmessungen mit dem hier verwendeten Messgerät PoliScan FM1 handelt es sich um ein standardisiertes Messverfahren (vgl. Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 20. November 2019 - (1 Z) 53 Ss-Owi 661/19 (381/19) -; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 23. Juli 2019 - 1 OWi 2 Ss Rs 68/19 -, beide bei juris), so dass -sich das Tatgericht in seinen Feststellungen grundsätzlich auf die Mitteilung des verwendeten Messverfahrens, der gefahrenen Geschwindigkeit und der gewährten Toleranz beschränken kann. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wie auch die daran anknüpfende der Oberlandesgerichte zum standardisierten Messverfahren setzt eine datenbasierte jederzeitige nachträgliche Überprüfbarkeit der damit gewonnenen Messergebnisse als Bedingung für eine nachträgliche Beweisverwertung nicht voraus. Sie verlangt lediglich, dass sich der Tatrichter von .dem ordnungsgemäßen Einsatz eines solchen Messgeräts überzeugt; eine Überprüfung der Zuverlässigkeit des -Messergebnisses ist nur erforderlich, wenn konkrete Anhaltspunkte für Messfehler vorliegen (vgl. BGHSt 39, 291; 43, 277; Senat, Beschlüsse vom 4. Juli 2017 - 3 Ws (B) 134/17 - und vom 25. Januar 2017 - 3 Ws (B) 680/16 7 m.w.N.).

Das darin zum Ausdruck kommende Vertrauen in die Verlässlichkeit amtlicher Messungen mit standardisierten Messverfahren findet seine Rechtfertigung im gesetzlichen Messwesen, dass die Messrichtigkeit und -beständigkeit gerade dann gewährleisten soll, wenn eine Messung nicht wiederholbar ist (vgl. Märtens/Wynands NZV 2019, 338). Die zu- Geschwindigkeitsmessungen eingesetzten Messgerätetypen werden danach vor ihrem Inverkehrbringen auf verschiedenen qualitätssichernden Kontrollebenen, insbesondere aber durch die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) bzw. deren Konformitätsbewertungsstelle mittels eines gerätespezifischen Prüfprogramms unter Einbeziehung patent- und urheberrechtlich geschützter Herstellerinformationen eingehend unter anderem darauf geprüft, ob sie stets .zuverlässige, die gesetzlichen Fehlergrenzen einhaltende Messergebnisse liefern (vgl. OLG. Frankfurt DAR 2015, 149). Dieses mehrstufige, aufwendige Kontroll- und Überwachungssystem vorverlagert die Überprüfung - und damit die Gewährleistung eines richtigen Messergebnisses - von der Einzelfallmessung auf das Messgerät selbst (OLG Karlsruhe a.a.O.). Hält das Messgerät bei dieser Überprüfung unter Berücksichtigung der Verwendungssituationen alle Anforderungen bezüglich •Messrichtigkeit und Messbeständigkeit ein, kann davon ausgegangen werden, dass es dies auch beim. Einsatz unter gleichen Bedingungen tut (BGH a.a.O.; Brandenburgisches OLG a.a.O.). Die vorweggenommene Prüfung durch die PTB bietet in hohem Maß die Gewähr, dass es nur in einem Ausnahmefall zu einer Fehlmessung kommen kann. Das rechtfertigt eine geringere Kontrollmöglichkeit im jeweiligen Einzelfall einer Messung, ohne dass die Betroffenen damit „auf. Gedeih und Verderb der amtlichen Bestätigung der Zuverlässigkeit eines elektronischen Systems und der es steuernden Algorithmen ausgeliefert" wären (OLG Karlsruhe a.a.O.). Es* kommt hinzu, dass der Erkenntnisgewinn aus der Überprüfung von Rohmessdaten auch anhand einer Mehrzahl von Messungen verschiedener Geschehnisse allenfalls als beschränkt anzusehen wäre und überdies nur aufgrund eines erst noch (sachverständig) zu entwickelnden Modells nicht zu einer höheren Richtigkeit einer Geschwindigkeitsermittlung führt, sondern lediglich Plausibilitätseinschätzungen erlaubt (BayObLG a.a.O.). Im Übrigen ist ein Betroffener im nicht restlos ausschließbaren Ausnahmefall einer Fehlmessung, die "in der Regel dem menschlichen Faktor geschuldet sein wird, nicht rechtlos gestellt. Neben der Möglichkeit einer Befundprüfung nach § 39 MessEG stehen ihm im Bußgeldverfahren prozessuale Rechte (Akteneinsichtsrecht, Vortrags- und Fragerecht, Beweisanregungs- und antragsrecht) zur Verfügung, die es ihm gestatten, eine Vielzahl denkbarer, konkreter Anhaltspunkte für Messfehler geltend zu machen (vgl. Cierniak ZfSch 2012, 664), welche die Aufklärungspflicht des Gerichts auslösen und dazu führen können, dass die Annahme eines standardisierten Messverfahrens verworfen und eine individuelle (sachverständige) Prüfung des Messergebnisses und seiner Verwertbarkeit erfolgen muss. Eine Überprüfung des Messergebnisses im Einzelfall auf der Grundlage zu speichernder Rohmessdaten muss daher einem Betroffenen nicht generell möglich sein und vom Tatgericht nicht vorgenommen werden (OLG Karlsruhe a.a.O. m.w.N.). Schon von daher ist ein Rückgriff auf den Fairness-Grundsatz bei nicht vorhandenen Rohmessdaten nicht geboten (Brandenburgisches OLG a.a.O.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 62 Abs. 2 Satz 2 OWiG, entsprechend § 467 Abs. 1 StPO.


Einsender: RA T.-M. Rößler, Düsseldorf

Anmerkung:


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