Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Brandenburg, Beschl. v. 22.04.2025 – 1 Ws 152/24
Leitsatz des Gerichts:
Dem wegen Abwesenheit des verhinderten Pflichtverteidigers (nur) für einen Hauptverhandlungstermin beigeordneten Verteidiger steht als Vergütung für seine Tätigkeit nicht nur die Terminsgebühr, sondern darüber hinaus auch die Grund- und ggf. eine Verfahrensgebühr zu.
In pp.
Die weitere Beschwerde des Bezirksrevisors bei dem Landgericht Neuruppin gegen den Beschluss der 1. großen Strafkammer des Landgerichts Neuruppin vom 25. März 2024 wird als unbegründet verworfen.
Die Entscheidung ergeht gebührenfrei; Kosten werden nicht erstattet (§ 56 Abs. 2, Satz 2, 3 RVG).
Gründe
I.
Der Bezirksrevisor bei dem Landgericht Neuruppin wendet sich mit seiner weiteren Beschwerde vom 09. April 2024 gegen die auf die Beschwerde des Rechtsanwalts („Name 03“) ergangene Entscheidung der 1. großen Strafkammer des Landgerichts Neuruppin vom 25. März 2024.
Dem liegt folgender Verfahrensgang zu Grunde:
In dem seit dem 07. April 2022 durchgeführten Strafverfahren gegen den Verurteilten („Name 01“) wegen gefährlicher Körperverletzung vor dem Amtsgericht Neuruppin – Strafrichter - hat der Strafrichter mit Einverständnis des Verurteilten den in unmittelbarer Nähe des Amtsgerichts Neuruppin kanzleiansässigen Rechtsanwalt („Name 03“) für den Hauptverhandlungstag am 26. April 2022 als Pflichtverteidiger beigeordnet, nachdem der für das Verfahren bereits beigeordnete Pflichtverteidiger Rechtsanwalt („Name 02“) für diesen Tag seine Verhinderung angezeigt hatte. Gemäß Protokoll vom 26. April 2022 (Bl. 160R d.A.) lautete der Beschluss dazu wie folgt:
„Dem Angeklagten wird für den heutigen Hauptverhandlungstag Rechtsanwalt („Name 03“) aus („Ort 01“) als notwendiger Verteidiger beigeordnet.“
Im Anschluss daran – die Beweisaufnahme war bereits im Verhandlungstermin am 21. April 2022 geschlossen, die Schlussanträge waren gestellt und dem Angeklagten war das letzte Wort erteilt worden - wurde das Urteil verkündet.
Mit Schriftsatz vom 29. April 2022 legte Rechtsanwalt („Name 03“) gegen das am 26. April 2022 verkündete Urteil ein unbestimmtes Rechtsmittel ein, trat aber im anschließenden Berufungsverfahren nicht als Verteidiger des Angeklagten auf.
Am 29. April 2022 beantragte Rechtsanwalt („Name 03“) die Abrechnung seiner Gebühren wie folgt:
VV 4100 Grundgebühr 176,00 €
VV 4106 Verfahrensgebühr 145,00 €
VV 4108 Terminsgebühr 242,00 €
VV 7002 Pauschale Post- und Telekommunikationsdienstleistungen 20,00 €
Zwischensumme 583,00 €
VV 7008 19,00 % Umsatzsteuer 110,77 €
Summe gesamt 693,77 €
Unter dem Datum des 02. Juni 2022 hat die Kostenbeamtin die dem Beschwerdegegner aus der Staatskasse zu zahlende Pflichtverteidigervergütung auf insgesamt 287,98 € (netto: 242,00 €) festgesetzt. Die Kostenbeamtin hat bei der Kostenfestsetzung die Grundgebühr in Höhe von 176,00 € und die Verfahrensgebühr von 145,00 € sowie die Auslagenpauschale in Höhe von 20,00 €, jeweils nebst Umsatzsteuer, mit der Begründung in Abzug gebracht, dass „nur ein Pflichtverteidigermandat abzurechnen“ sei, Rechtsanwalt („Name 03“) hingegen „nur für den Termin am 26.04.2022 bestellt“ wurde.
Der gegen die Kostenfestsetzung am 08. Juni 2022 erhobenen Erinnerung des Rechtsanwalts („Name 03“) hat die Kostenbeamtin unter dem Datum des 10. Juni 2022 nicht abgeholfen und die Sache dem zuständigen Strafrichter beim Amtsgericht Neuruppin zur Entscheidung vorgelegt. Mit Beschluss vom 08. Dezember 2023 hat der Strafrichter die Erinnerung des Beschwerdegegners aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet verworfen.
Gegen diese Entscheidung hat der Beschwerdegegner, dem der Beschluss am 11. Dezember 2023 zugestellt worden war, mit Schriftsatz vom selben Tag „sofortige Beschwerde“ eingelegt, mit der er seinen ursprünglichen Vergütungsantrag in voller Höhe weiter verfolgt. Mit Beschluss vom 16. März 2024 hat der für das Beschwerdeverfahren zuständige Einzelrichter die Sache gemäß § 56 Abs. 2 Satz 1 RVG i.V.m. § 33 Abs. 8 Satz 2 RVG der Kammer zur Entscheidung übertragen. Mit Beschluss vom 25. März 2024 hat die Kammer auf die Beschwerde des Beschwerdegegners den Beschluss des Amtsgerichts Neuruppin vom 08. Dezember 2023 aufgehoben und auf die Erinnerung des Beschwerdegegners den Beschluss der Rechtspflegerin des Amtsgerichts Neuruppin vom 02. Juni 2022 aufgehoben, soweit darin der Vergütungsantrag des Beschwerdegegners zurückgewiesen worden ist, und hat die aus der Landeskasse an den Beschwerdegegner zu zahlende Vergütung antragsgemäß auf 693,77 € festgesetzt sowie die weitere Beschwerde zum Brandenburgischen Oberlandesgericht zugelassen.
Gegen diesen ihm am 27. März 2024 zugestellten Beschluss hat der Beschwerdeführer unter dem 09. April 2024 weitere Beschwerde eingelegt, mit welcher er beantragt, die Vergütung des Beschwerdegegners unter Wegfall der Verfahrensgebühr Nr. 4106 VV auf 521,22 € festzusetzen.
Die 1. große Strafkammer des Landgerichts Neuruppin hat mit Beschluss vom 07. Oktober 2024 der Beschwerde des Bezirksrevisors nicht abgeholfen und die Sache dem Senat zur Entscheidung vorgelegt. Der Vertreter der Landeskasse ist gehört worden. Er hat keine Stellungnahme abgegeben.
II.
1. Die weitere Beschwerde ist gemäß § 33 Abs. 6 Satz 1 RVG zulässig. Auf den Beschwerdewert kommt es nicht an, soweit das Rechtsmittel – wie hier – zugelassen worden ist. Das Rechtsmittel ist gemäß § 33 Abs. 6 Satz 4, Abs. 3 Satz 3 RVG fristgemäß eingelegt worden.
2. In der Sache erweist sich die weitere Beschwerde als unbegründet. Eine Verfahrensgebühr nach Nr. 4106 VV RVG ist neben der Terminsgebühr Nr. 4106 VV RVG und der Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG für den Pflichtverteidiger („Name 03“) angefallen.
a) Es ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten, ob der wegen Abwesenheit des verhinderten Pflichtverteidigers (nur) für einen Hauptverhandlungstermin beigeordnete Verteidiger als Vergütung für seine Tätigkeit nur die Terminsgebühr erhält oder ob ihm darüber hinaus auch eine Grund- und ggf. eine Verfahrensgebühr zusteht (vgl. die Nachweise zum Streitstand bei: OLG Karlsruhe, Beschluss vom 09. Februar 2023, 2 Ws 13/23, zit. n. juris; Burhoff in Gerold/Schmidt, RVG, 25. Aufl. 2021 Nr. 4100, 4101 RVG Rn. 5; BeckOK RVG/Knaudt, 67. Ed. Stand 01.03..2025, RVG VV Vorbemerkung Rn. 19-22).
Dass der auf diese Weise beigeordnete Pflichtverteidiger ausschließlich einen Anspruch auf die Terminsgebühr hat, haben u.a. das Kammergericht (KG, Beschluss vom 18. Februar 2011, 1 Ws 38/09, NStZ-RR 2011, 295), das OLG Celle (Beschluss vom 19. September 2018, 3 Ws 221/18, BeckRS 2018, 23280, Beschluss vom 19. Dezember 2008, 2 Ws 365/08, NStZ-RR 2009, 158) und das OLG Stuttgart (Beschluss vom 23. Januar 2023, 4 Ws 13/23, zit. nach juris zu Nr. 4103 Nr. 4 RVG-VV) entschieden.
Nach der gegenteiligen Rechtsauffassung in Rechtsprechung und Literatur beschränkt sich der Vergütungsanspruch des Verteidigers, der anstelle des verhinderten Pflichtverteidigers für einen Hauptverhandlungstermin als Verteidiger des Angeklagten bestellt worden ist, nicht auf die Terminsgebühren, sondern umfasst alle durch die anwaltliche Tätigkeit im Einzelfall verwirklichten Gebührentatbestände des Teils 4 Abschnitt 1 des Vergütungsverzeichnisses in Anlage 1 zu § 2 Abs. 2 RVG (ausf. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 9. Februar 2023, 2 Ws 13/23, zit. n. juris; ebenso: OLG Jena, Beschluss vom 14.04.2021, (S) AR 62/20, BeckRS 2021, 9651; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 29. Oktober 2008, 1 Ws 318/08, zit. nach juris; OLG Hamm, Beschluss vom 23. März 2006, 3 Ws 586/05, zit. n. juris; OLG Köln, Beschluss vom 26. März 2010, 2 Ws 129/10, BeckRS 2010, 16664; OLG Bamberg, NStZ-RR 2011, 223; OLG München, NJOZ 2014, 1478; OLG Nürnberg, NStZ-RR 2015, 95; OLG Saarbrücken, NJOZ 2015, 1166). Der Senat hat sich dieser – inzwischen wohl überwiegenden – Auffassung, an der er auch weiterhin festhält, bereits mit Beschluss vom 26. Februar 2024, 1 Ws 13/24 (S), ausdrücklich angeschlossen.
Danach steht dem Beschwerdegegner neben der Terminsgebühr zunächst die Grundgebühr für das erstmalige Einarbeiten in den Rechtsfall zu.
b) Vorliegend ist aber auch die Verfahrensgebühr für das erstinstanzliche Verfahren nach Nr. 4106 VV RVG angefallen. Die Verfahrensgebühr honoriert das allgemeine Betreiben des Geschäfts einschließlich der Information. Durch sie wird als Dauergebühr die gesamte Tätigkeit des Rechtsanwalts in dem jeweiligen Verfahrensabschnitt abgegolten. Dazu gehört u.a. auch die Einlegung eines Rechtsmittels beim iudex a quo (vgl. BeckOK RVG/Knaudt, RVG VV 4106 Rn. 7, 8). Mit der vorsorglichen und fristwahrenden Einlegung des „unbestimmten Rechtsmittels“ beim Amtsgericht Neuruppin hat der Antragsteller und Beschwerdeführer somit eine den Gebührentatbestand nach VV RVG 4106 auslösende Tätigkeit erbracht. Dem steht auch nicht seine Beiordnung für lediglich einen Tag der Hauptverhandlung entgegen, da diese Tätigkeit nicht als Einzeltätigkeit im Sinne von Teil 4 Abschnitt 3 RVG VV anzusehen ist, sondern der „Terminvertreter“ als „voller Vertreter“ iSv. Vorb. 4 Abschnitt 1 handelt (Ahlmann/Kapischke/Pankatz/Rech/Schneider/Schütz RVG, 11. Aufl., VV Vorb. 4 Rn. 46 mwN.). Diese Tätigkeit umfasst auch die mit dem Verfahren zusammenhängenden Tätigkeiten wie die Einlegung von Rechtsmitteln gemäß § 19 Abs. 1 Satz 2 Nr. 10 RVG, zumal der Antragsteller vorgetragen hat, der dem Angeklagten beigeordnete Pflichtverteidiger („Name 02“) sei über die Rechtsmittelfrist hinaus weiterhin erkrankt gewesen.
Auch die bereits entstandene Grundgebühr schließt das Anfallen der Verfahrensgebühr nicht aus. Die in Rechtsprechung und Literatur umstrittene Frage, ob die Verfahrensgebühr grundsätzlich neben der Grundgebühr entstehen kann, hat das 2. KostRMoG vom 23. Juli 2013 (BGBl. 2013 I 2586) durch die Einführung der Klarstellung in VV 4100 „neben der Verfahrensgebühr“ beantwortet (vgl. Ahlmann/Kapischke/Pankatz/Rech/Schneider/Schütz RVG, 11. Aufl., VV Vorb. 4 Rn. 52; ; BeckOK RVG/Knaudt, RVG VV 4106 Rn. 10, 11; Gerold/Schmidt/Burhoff, a.a.O., RVG VV Vorb. 4 Rn.11; Toussaint/Felix, Kostenrecht, 54. Aufl., RVG VV 4100 Rn. 2).
Das Landgericht Neuruppin hat demnach dem Beschwerdegegner im vorliegenden Einzelfall zu Recht die Verfahrensgebühr Nr. 4106 VV RVG neben der Terminsgebühr Nr. 4108 VV RVG und der Grundgebühr Nr. 4100 VV RVG zugebilligt.
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