Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Schleswig, Beschl. v. 06.05.2025 – 1 Ws 56/25
Leitsatz des Gerichts:
1. Der Angeklagten hat gegen die Gewährung von Akteneinsicht an den Verletzten im Falle des Versagungsgrundes nach § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO (Gefährdung des Untersuchungszwecks) ein eigenes Beschwerderecht.
2. Eine Gefährdung des Untersuchungszwecks durch Gewährung von Akteneinsicht an den Nebenklägervertreter ist auch bei einer Ausage-gegen-Aussage-Konstellation regelmäßig auszuschließen, wenn der Nebenklägervertreter zusagt, die Akte der vertretenen Person nicht zugänglich zu machen.
3. Dagegen würde ein genereller und letztlich ausnahmsloser Wegfall der Akteneinsicht für den Beistand des Nebenklägers bei Vorliegen einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation die Verfahrensbeteiligungsrechte von Verletzten und Nebenklägern in bedenklicher Weise und entgegen den Grundgedanken des 2. Opferrechtsreformgesetzes einschränken.
In pp.
Die Beschwerde wird auf Kosten des Angeklagten als unbegründet verworfen.
Der Aussetzungsantrag ist mit der Verwerfung der Beschwerde gegenstandslos geworden.
Gründe
I.
Dem Angeklagten wird mit der zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Lübeck vom 10. Februar 2025 u. a. sexuelle Nötigung zum Nachteil der Nebenklägerin vorgeworfen. Die Kammer hat mit Beschluss vom 10. Februar 2025 das Hauptverfahren eröffnet, Haftfortdauer angeordnet und den Anschluss der Zeugin als Nebenklägerin für berechtigt erklärt. Die Hauptverhandlung läuft seit dem 2. Mai 2025 und ist derzeit bis zum 23. Juni 2025 geplant. Die Vernehmung der Nebenklägerin als Zeugin ist für den 13. Mai 2025 vorgesehen.
Bereits am 15. November 2024 hatte der Beistand der Nebenklägerin Akteneinsicht beantragt und zugleich versichert, der Nebenklägerin keine Akteninhalte zur Verfügung zu stellen.
Am 27. März 2025 hat der Verteidiger in einem Telefongespräch mit dem Vorsitzenden der Gewährung von Akteneinsicht an den Beistand der Nebenklägerin widersprochen und dies mit Schriftsatz vom 7. April 2025 wiederholt.
Der Vorsitzende hat mit Verfügung vom 9. April 2025 Akteneinsicht für den Beistand der Nebenklägerin gewährt und dies dem Angeklagten, dem Verteidiger und dem Beistand der Nebenklägerin zur Kenntnis gegeben. Vor dem Hintergrund der hiesigen Beschwerde vom 14. April 2025 ist die Gewährung von Akteneinsicht auf die Verfügung des Vorsitzenden allerdings noch zurückgestellt worden, zunächst bis zum 30. April 2025 und nunmehr bis zum 6. Mai 2025. Damit ist die Akteneinsicht für den Beistand der Nebenklägerin faktisch noch nicht durchgeführt.
Mit der Beschwerde wendet sich der Angeklagte gegen die vorbezeichnete Verfügung des Vorsitzenden vom 9. April 2025 über die Gewährung von Akteneinsicht und beantragt, dem Verletztenbeistand die Akteneinsicht zu versagen, hilfsweise diese erst nach Vernehmung der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung zu gewähren. Ferner beantragt er, gemäß § 307 Abs. 2 StPO die Vollziehung der angefochtenen Verfügung über den 30. April 2025 hinaus auszusetzen.
Das Landgericht Lübeck hat der Beschwerde nicht abgeholfen.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer an den Senat gerichteten Zuschrift, auf die wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird, vom 24. April 2025 beantragt, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.
II.
Die zulässige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg.
1. Der Senat erachtet die Beschwerde als zulässig.
Hinsichtlich der in Rechtsprechung und Schrifttum wiederholt unter verschiedenen Aspekten diskutierten Frage, ob überhaupt und ggf. in welchen Fällen der Angeklagte im Rahmen der Akteneinsicht an den Verletzten ein eigenes Beschwerderecht hat (vgl. zum Streitstand bei Versagung der Akteneinsicht aktuell: BGH, Beschluss vom 2. November 2022 - StB 47,48/22, NStZ-RR 2023, 26), folgt der Senat der Auffassung, nach welcher der Angeklagte auch im Falle des Versagungsgrundes nach § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO (Gefährdung des Untersuchungszwecks) beschwert ist, wenn dem Verletzten Akteneinsicht gewährt wird.
Das Hanseatische Oberlandesgericht hat in seinem Beschluss vom 24. Oktober 2014 (1 Ws 110/14 - bei juris) hierzu ausgeführt:
„Die Entscheidung über die Aktensicht des Verletzten nach § 406e Abs. 1 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1 StPO ist nach Eröffnung des Hauptverfahrens entsprechend § 406e Abs. 4 Satz 4 StPO mit der Beschwerde anfechtbar (§ 304 StPO). Dem steht § 305 Satz 1 StPO mangels Verweisung in § 406e Abs. 4 Satz 3 StPO nicht entgegen.
[..].
Ein Angeklagter kann in seinen Rechten aber durch eine den Untersuchungszweck gefährdende Akteneinsicht eines Nebenklägers betroffen sein und mithin den Versagungsgrund des § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO für sich reklamieren. Die unbeschränkte Akteneinsicht eines Nebenklägers kann im Einzelfall nämlich mit den höchstrichterlichen Grundsätzen der Beweiswürdigung, die sich namentlich aus der freiheitssichernden Funktion der Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 20 Abs. 3 und Art. 104 Abs.1 GG ergeben, unvereinbar sein und sich insoweit als mögliche Rechtsverletzung für den Angeklagten erweisen“.
Dieser Auffassung schließt sich der Senat an.
2. Die Beschwerde ist indes unbegründet.
a) Im maßgeblichen Ausgangspunkt folgt der Senat dabei den in der Entscheidung OLG Braunschweig, Beschluss vom 3. Dezember 2015 − 1 Ws 309/15, NStZ 2016, 629, niedergelegten Erwägungen (i. Ü. auch Anschluss BGH, Beschluss vom 5. April 2016 – 5 StR 40/16, BeckRS 2016, 07515, OLG Schleswig, Beschluss vom 5. April 2023 - 2 Ws 33/23). Demnach kann in der besonderen Beweiskonstellation "Aussage gegen Aussage" eine Gefährdung des Untersuchungszwecks nach § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO gegeben sein, wenn die Kenntnis des Verletzten vom Akteninhalt die Unbefangenheit, die Zuverlässigkeit oder den Wahrheitsgehalt einer von ihm zu erwartenden Zeugenaussage beeinträchtigen könnte. Dies ist allerdings nicht schon generell und ohne weiteres der Fall. Vielmehr ist dem Vorsitzenden bei seiner Entscheidung darüber, ob einem Akteneinsichtsbegehren § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO entgegensteht, auch in dieser Konstellation ein weiter Ermessensspielraum eröffnet [vgl. BGH, Beschluss vom 11. Januar 2005 – 1 StR 498/04; Senat, Beschluss vom 19. Februar 2016 - 1 Ws 59/16 (33/16) -, juris, Rn. 5]. Das Beschwerdegericht trifft eine eigene Ermessensentscheidung. Es ist nicht darauf beschränkt ist, die angefochtene Entscheidung auf Ermessensfehler zu überprüfen.
Bei der Entscheidung gilt:
Eine Gefährdung des Untersuchungszwecks durch Gewährung von Akteneinsicht an den Nebenklägervertreter ist auch bei einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation regelmäßig auszuschließen, wenn der Nebenklägervertreter — wie hier — zusagt, die Akte der vertretenen Person nicht zugänglich zu machen (Anschluss OLG Braunschweig a. a. O.).
Zwar ist eine solche Verzichtserklärung letztlich nicht durchsetzbar, gleichwohl aber durch das Tatgericht im Rahmen der zeugenschaftlichen Befragung des Nebenklägers als Zeuge überprüfbar. Zudem liegt es auch im Interesse des Nebenklägervertreters, den Beweiswert der Angaben seines Mandanten nicht zu gefährden. Darüber hinaus sieht auch das Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 21. März 2002 – 1 BvR 2119/01, juris, Rn. 13), dass Rechtsanwälte ihre Aufgaben als vertrauenswürdige Organe der Rechtspflege wahrnehmen, der Rechtsverkehr also in der Regel auf ihre Integrität und Zuverlässigkeit vertrauen darf. Dies im Übrigen, auch unter Berücksichtigung des Vorbringens der Verteidigung in ihrem Schriftsatz vom 2. Mai 2025, soweit es um § 11 Abs. 1 BORA (diese Vorschrift dürfte mit dem von der Verteidigung in Bezug genommenen § 12 Abs. 1 BORA gemeint gewesen sein) und § 1 Abs. 3 Satz 1 BORA geht, die jeweils einer Verzichtserklärung nicht zwingend entgegenstehen.
Dagegen würde ein genereller und letztlich ausnahmsloser Wegfall der Akteneinsicht für den Beistand des Nebenklägers bei Vorliegen einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation (so im Ergebnis HansOLG Hamburg, Beschluss vom 11. November 2022 - 6 Ws 74/22 - "Ermessensreduzierung auf Null") die Verfahrensbeteiligungsrechte von Verletzten und Nebenklägern in bedenklicher Weise und entgegen den Grundgedanken des 2. Opferrechtsreformgesetzes (BGBl. 2009 I 2280) einschränken. Denn insbesondere das Fragerecht in der Hauptverhandlung kommt nur dann wirksam zur Geltung, wenn etwa Vorhalte getätigt werden können; auch Beanstandungs- und Antragsrechte können von dem Beistand des Nebenklägers nur dann wirksam ausgeübt werden, wenn Aktenkenntnis besteht.
Im Einzelnen:
b) Der Beistand der Nebenklägerin hat vorliegend gemäß § 406 e Abs.1 StPO einen Anspruch auf umfassende Einsicht in die Verfahrensakten. Ein Versagungsgrund, insbesondere ein solcher nach § 406 e Abs. 2 Satz 2 StPO, besteht nicht. Nach dieser Vorschrift kann die Akteneinsicht des Berechtigten versagt werden, soweit der Untersuchungszweck gefährdet erscheint. Dies ist hier nicht der Fall. Der Beschuldigte hatte vor der Akteneinsicht das erforderliche rechtliche Gehör (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Oktober 2021 - 1 BvR 2192/21).
Vorliegend ist zu beachten, dass den Tatvorwürfen schon nicht durchweg eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation zugrunde liegt. Keine solche, besondere Beweissituation liegt vor, wenn die belastende Aussage — wie hier — durch andere Beweismittel bestätigt wird (vgl. KK-StPO/Tiemann, 9. Aufl. 2023, StPO § 261 Rn. 100). Dies ist bereits der Fall, wenn die Aussage der Belastungszeugin jedenfalls in den Randbereichen durch Bekundungen eines anderen Zeugen bestätigt wird (vgl. BGH, Urteil vom 28. Mai 2003 - 2 StR 486/02, NStZ-RR 2003, 268) oder andere belastende Indizien vorliegen (vgl. BGH, Beschluss vom 2. September 2015 - 2 StR 101/15, NStZ-RR 2016, 87). Vorliegend werden die Angaben der Nebenklägerin sowohl durch Bekundungen anderer Zeugen, als auch durch weitere belastende Indizien bestätigt (vgl. Senat, Beschluss vom 5. März 2025 - 1 Ws 30/25).
Im Übrigen sind die entgegenstehenden Interessen im Rahmen einer Ermessensentscheidung in einen angemessenen Ausgleich zu bringen.
Einzustellen in die Ermessensentscheidung ist zum einen, dass mit dem Grundsatz der Wahrheitsermittlung als Ausfluss seiner Freiheitsrechte nach Art. 2 Abs. 2 S. 2, 20 Abs. 3 und 104 Abs. 1 GG ein sehr hohes Gut zugunsten des Angeschuldigten streitet. Demgegenüber stehen ein Informationsrecht des Verletzten sowie seine Rechte auf Fürsorge, Gleichbehandlung und Menschenwürde, wobei letztere ebenfalls Verfassungsrang (Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 S. 2, 3 Abs. 1, 20 Abs. 1, 103 Abs. 1 GG) genießen.
Der Grundsatz der Wahrheitsermittlung bei einer umfassenden Akteneinsicht der Nebenklägerin erscheint im vorliegenden Verfahren kaum nennenswert gefährdet. Vor dem Hintergrund der vorgenannten Erwägungen und auch unter dem Aspekt der Waffengleichheit bedarf der Nebenklägervertreter zur sachgerechten Vorbereitung der Vernehmung seiner Mandantin und zur effektiven Wahrung ihrer Verfahrensrechte und nicht zuletzt unter Opferschutzgesichtspunkten möglichst umfassende Akteneinsicht. Es besteht hier nicht die Besorgnis, dass der Nebenklägervertreter entgegen seiner Zusage die Akten oder Bestandteile hiervon der Nebenklägerin zugänglich machen wird; konkrete tatsächliche Anhaltspunkte dafür hat der Senat nicht.
3. Die Aussetzung der Vollziehung war vorab nicht anzuordnen, denn die Voraussetzungen der Ausnahmevorschrift des § 307 Abs. 2 StPO lagen im Vorfeld der Senatsentscheidung nicht vor.
Auch das Beschwerdegericht hat von Amts wegen zu prüfen, ob die Aussetzung der Vollziehung geboten ist (KK-StPO/Zabeck, 9. Aufl. 2023, StPO § 307 Rn. 5, beck-online). Dabei hat der Senat unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls abzuwägen, ob durch den sofortigen Vollzug drohenden Nachteile das Interesse hier des Nebenklägervertreters am alsbaldigen Vollzug überwiegen (vgl. BGH NStZ 2010, 343 Rn. 5, beck-online; KK-StPO/Zabeck, a. a. O., Rz. 7). Maßgeblich ist hier der Umstand, dass vor der Senatsentscheidung keine Nachteile drohen und auch das Interesse des Nebenklägervertreters im zeitlichen Ablauf noch gewahrt werden kann. So hat der Kammervorsitzende dem Senat zugesichert, dem Nebenklägervertreter vor der Entscheidung des Senats keine Akteneinsicht zu gewähren; die Vernehmung der Nebenklägerin als Zeugin ist erst für den 13. Mai 2025 vorgesehen, so dass Akteneinsicht noch rechtzeitig erfolgen kann.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.
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