Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Schleswig, Beschl. v. 14.04.2025 – 7 U 10/25
Leitsatz des Gerichts:
1. Aus der besonderen Bedeutung der Vorfahrtsregelung, die dem wartepflichtigen Verkehrsteilnehmer die Pflicht zu erhöhter Sorgfalt auferlegt und deren Verletzung daher besonders schwer wiegt, folgt in der Regel die Alleinhaftung des Vorfahrtverletzers.
2. Das Gelblicht einer Ampel stellt eine Allgemeinverfügung dar, die besagt, dass grundsätzlich „vor der Kreuzung auf das nächste Zeichen gewartet werden soll“.
3. Bei Gelblicht muss es dem Verkehrsteilnehmer jedoch möglich sein, ohne Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs noch bis zur Haltelinie anzuhalten. Zu einer Vollbremsung ist er nicht verpflichtet. Kann dem Verkehrsteilnehmer bei Beachtung dieser Grundsätze nicht gelingen, vor der Haltelinie bei Gelb anzuhalten, darf er über die Haltelinie hinweg in den Kreuzungsbereich einfahren.
4. Es fehlt an dem erforderlichen Zurechnungszusammenhang zwischen einem - unterstellten - Gelblichtverstoß an einer Fußgängerbedarfsampel und der Kollision an einer > 20 m dahinter liegenden Kreuzung, weil die Fußgängerampel nur dem Schutz des querenden Fußgängerverkehres im Ampelbereich dient .
5. Ein Schmerzensgeld von 20.000 EUR ist bei einer jungen Frau, die neben mehreren Knochenbrüchen (Kiefer, Halswirbel, Schlüsselbein, Oberschenkel, Trümmerbruch des großen Zehs) mit entsprechenden Operationen und Folgeoperationen u.a. auch bleibende Narben im Dekolleté Bereich (15 cm) erlitten hat, angemessen und gerechtfertigt.
In pp.
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Einzelrichters der 15. Zivilkammer des Landgerichts Lübeck vom 17.12.2024 wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagten haben als Gesamtschuldner die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Lübeck ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
4. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 21.653,33 € festgesetzt.
Gründe
I.
Die Klägerin begehrt Schadenersatz und Schmerzensgeld aufgrund eines Verkehrsunfalls, der sich am 19. Januar 2019 in N. auf Höhe der Kreuzung B76/ H-straße bzw. Zufahrt zum V-park ereignete. Vor der Unfallstelle befindet sich eine Fußgängerbedarfsampel, die (in Fahrtrichtung gesehen) ca. 20 - 25 m entfernt liegt. Die Klägerin befuhr am Unfalltag gegen 17:25 Uhr mit ihrem Vespa-Roller aus T. kommend die hier vorfahrtsberechtigte B 76 in Richtung D.. Der Beklagte zu 1. befand sich zu diesem Zeitpunkt mit dem vom Beklagten zu 2. gehaltenen und bei der Beklagten zu 3. pflichtversicherten Fahrzeug auf der wartepflichtigen H-straße. Als die Klägerin auf ihrem Roller die Fußgängerbedarfsampel - ausweislich des eingeholten Sachverständigengutachtens - „gerade noch bei Gelblicht“ passiert und anschließend den nachfolgenden Kreuzungsbereich erreicht hatte, bog der Beklagte zu 1. aus der H-straße kommend nach links auf die B 76 heraus. Die Klägerin prallte mit ihrem Roller seitlich in das Beklagtenfahrzeug. Durch die Wucht des Aufpralls erlitt sie schwere Verletzungen.
Das Landgericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen L., La., K. und H.). Ferner hat das Landgericht ein Unfallrekonstruktionsgutachten eingeholt (Gutachten vom 30.11.2021) sowie ein orthopädisches und ein kieferchirurgisches Sachverständigengutachten.
Mit dem angefochtenen Urteil hat das Landgericht die Beklagten als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 15.000 € sowie weitere 3.653,33 € nebst Zinsen zu zahlen. Außerdem hat das Landgericht festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, jedweden weiteren immateriellen Schaden, der sich aus dem Verkehrsunfall vom 19.01.2019 ergibt, zu 100 % zu ersetzen.
Dagegen richtet sich die Berufung der Beklagten.
Sie beantragen, das angefochtene Urteil abzuändern und die Klage über den abgewiesenen Teil hinaus insgesamt abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
II.
Die Berufung gegen das angefochtene Urteil des Landgerichts vom 17.12.2024 ist gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil nach einstimmiger Auffassung des Senats das Rechtsmittel offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.
Mit einstimmigem Beschluss vom 21.3.2025 hat der Senat zur Begründung auf die zutreffenden Gründe der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen und ergänzend auf Folgendes hingewiesen:
Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist nicht zu beanstanden.
1. Zu Recht ist das Landgericht gem. §§ 7, 17 Abs. 2 StVG, 8 StVO, 115 I Nr. 1 VVG im Rahmen der Abwägung der wechselseitigen Verursachungsbeiträge zu dem Ergebnis gelangt, dass die Beklagten hier dem Grunde nach zu 100 % für den Schaden einzustehen haben.
Im Rahmen der bei einem Verkehrsunfall zweier Kraftfahrzeuge erforderlichen Abwägung ist gemäß § 17 I, II StVG auf die Umstände des Einzelfalls abzustellen, insbesondere darauf, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Teil verursacht worden ist. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist dabei eine Abwägung und Gewichtung der jeweiligen Verursachungsbeiträge vorzunehmen, wobei eine umfassende Würdigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere eine genaue Klärung des Unfallhergangs geboten ist (BGH, Urteil vom 28.02.2012, VI ZR 10/11, Juris Rn. 6; OLG Frankfurt, Urteil vom 31.03.2020, 13 U 226/15, Juris Rn. 43). Im Rahmen der Abwägung der wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile der Fahrer der beteiligten Fahrzeuge sind unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeuge ausgehenden Betriebsgefahr nur unstreitige oder aber zugestandene und bewiesene Umstände zu berücksichtigen. Jeder Halter hat dabei die Umstände zu beweisen, die dem anderen zum Verschulden gereichen und aus denen er für die nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG vorzunehmende Abwägung für sich günstige Rechtsfolgen herleiten will. Nur vermutete Tatbeiträge oder die bloße Möglichkeit einer Schadensverursachung aufgrund geschaffener Gefährdungslage haben deswegen außer Betracht zu bleiben (ständige Rechtsprechung des BGH, Urteil vom 21.11.2006, VI ZR 115/05, NJW 2007, 506; Urteil vom 27.06.2000, VI ZR 126/99, NJW 2000, 3069; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 26.07.2018, 1 U 117/17, Juris Rn. 5).
Nach diesen Maßstäben ist im Rahmen der Abwägung zu Lasten der Beklagten zunächst ein Vorfahrtsverstoß gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 StVO zu berücksichtigen. Unstreitig war die Klägerin auf der B 76 vorfahrtsberechtigt. Dass die Missachtung des Vorfahrtsrechts durch den Beklagten zu 1. unfallursächlich war, steht bereits nach Anscheinsgrundsätzen fest. Ein Beweis des ersten Anscheins ist immer dann anzunehmen, wenn sich in einem Unfallgeschehen ein hinreichend typisierter Geschehensablauf realisiert hat, der einen Rückschluss auf ein unfallursächliches Fehlverhalten einer Partei regelmäßig zulässt (vgl. OLG Zweibrücken, Urteil vom 04.11.2020 - 1 U 78/19). Beim Abbiegevorgang des nicht Vorfahrtsberechtigten gilt die Vorfahrtsberechtigung des anderen Teiles solange, bis der Einfahrende sich vollständig auf der vorfahrtsberechtigten Straße eingeordnet hat. Aus der besonderen Bedeutung der Vorfahrtsregelung, die dem wartepflichtigen Verkehrsteilnehmer die Pflicht zu erhöhter Sorgfalt auferlegt und deren Verletzung daher besonders schwer wiegt, folgt in der Regel die Alleinhaftung des Vorfahrtverletzers (vgl. OLG Dresden, Beschluss vom 9.6.2021, 4 U 396/21, Rn. 7, juris). Neben dem Verstoß gegen § 8 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StVO war hier auch die höhere Betriebsgefahr des Fahrzeugs der Beklagten (im Vergleich zu dem Motorroller der Klägerin) zu berücksichtigen. Der Beklagte zu 1) hat zweifellos die ihn treffende Wartepflicht gegenüber der vorfahrtsberechtigten Klägerin verletzt und hierdurch den Unfall verursacht.
Die Beklagten haben keinerlei Umstände zu beweisen vermocht, die geeignet sein könnten, diesen Anschein zu erschüttern. Es fehlt bereits an einem entsprechenden Zurechnungszusammenhang zwischen einem - unterstellten - „Gelblichtverstoß“ an der Fußgängerbedarfsampel und dem Unfall an der nachfolgenden Kreuzung. Diese Ampel dient dem Schutz des querenden Fußgängerverkehres im Ampelbereich und nicht dem Schutz des weit hinter der Ampel befindlichen Kreuzungsverkehrs B76/ H-straße. Außerdem sind Verkehrszeichen, die ein Gebot oder Verbot wie das Gelblicht enthalten, Allgemeinverfügungen, die regeln, dass der Adressat dieser Allgemeinverfügung entsprechend § 37 Nr. 1 StVO zwar grundsätzlich bei Gelb vor der Kreuzung auf das nächste Zeichen warten sollen. Das bringt jedoch oft die Schwierigkeit mit sich, dass der Verkehrsteilnehmer bei für ihn geltendem Gelblicht nicht mehr ohne die Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs bis zur Haltelinie anhalten kann. Eine Vollbremsung - insbesondere eines einspurigen Motorrollers - könnte zur Gefährdung nachfolgenden Verkehrs führen, so dass zumindest in der ersten Gelbphase die Abwägung dafürspricht, dass er nicht zu einer Vollbremsung verpflichtet ist. Kann dem Verkehrsteilnehmer bei Beachtung dieser Grundsätze nicht gelingen, vor der Haltelinie bei Gelb anzuhalten, darf er über die Haltelinie hinweg in den Kreuzungsbereich einfahren (Diehl Anm. zu OLG Hamm, Urteil v. 30.5.2016, I-6 U 13/16, ZfSch 2016, 676-679). An der Unfallstelle waren unstreitig 70 km/h erlaubt. Es ist nicht klar, wie schnell die Klägerin vor der Ampel gefahren ist (Annäherungsgeschwindigkeit) und wie lange (Sekunden) sie schon Gelblicht gesehen haben müsste, bevor sie die Fußgängerampel gequert hat. Es fehlt insoweit an entsprechenden Anknüpfungstatsachen. Bei unterstellten 70 km/h hätte die Klägerin 19,4 m/s zurückgelegt, ihr Anhalteweg hätte rund 45 m betragen. Ein Gelb- oder gar Rotlichtverstoß an der Fußgängerampel durch die Klägerin ist nicht bewiesen und kann deshalb auch nicht in die Abwägung nach § 17 StVG eingestellt werden.
2. Die Höhe des Schmerzensgeldes (insgesamt 20.000 €) ist angesichts der schweren und zum Teil dauerhaften Verletzungen der noch verhältnismäßig jungen Klägerin nicht zu beanstanden. Sie hat einen beidseitigen Kieferbruch, eine Halswirbelfraktur, eine Fraktur des Schlüsselbeins links, einen mehrfachen Bruch des Oberschenkelknochens, einen Trümmerbruch des großen Zehs links sowie Schürfwunden am Knie erlitten. Die Klägerin musste sich mehreren Operationen und Folgeoperationen unterziehen. Es bleiben sichtbare Narben im Dekolleté Bereich (15 cm) und am Oberschenkel (5 cm) sowie am Knie. Der große Zeh am linken Fuß musste versteift werden. Die festgestellte Mundöffnungseinschränkung von 5 mm hat das Landgericht - mangels hinreichend bewiesener Unfallursächlichkeit - bei der Schmerzensgeldbemessung nicht berücksichtigt.
Die Höhe der weiteren materiellen Schadensersatzansprüche (3.653,33 €) wird mit der Berufung nicht angegriffen.
Angesichts der schweren Verletzungen sind mögliche Dauerfolgen und weitere Beeinträchtigungen derzeit noch nicht abzuschätzen. Es besteht deshalb auch ein Feststellungsinteresse für weitere immaterielle Schäden (§ 256 ZPO).
Die ergänzenden Ausführungen der Beklagten aus dem Schriftsatz vom 11.4.2025 führen zu keinem anderen Ergebnis. Ein Rotlichtverstoß der Klägerin ist nicht bewiesen. Ein Gelblichtverstoß ist ebenfalls nicht bewiesen, weil nicht feststeht, ob die Klägerin ihren Motorroller -trotz Gelblichts- noch ohne Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs bis zur Haltelinie anhalten konnte. An der Unfallstelle waren unstreitig 70 km/h erlaubt und es ist nicht klar, wie schnell die Klägerin vor der Ampel gefahren ist. Die Vollbremsung eines einspurigen Motorrollers vor einer gelben Ampel hätte auch zu einer Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs führen können. Von einer erhöhten Betriebsgefahr zu Lasten der Klägerin ist deshalb nicht auszugehen. Mangels entsprechender Anknüpfungstatsachen konnte der Sachverständige keine klarere Aussage dazu treffen. Die genaue Ausgangsgeschwindigkeit des Motorrollers vor der Ampel konnte nicht mehr ermittelt werden. Dies geht zu Lasten der beweispflichtigen Beklagten, die den zu ihren Lasten geltenden Anscheinsbeweis nicht zu erschüttern vermochten. Außerdem hat der Senat darauf hingewiesen, dass es an dem erforderlichen Zurechnungszusammenhang zwischen einem - unterstellten - Gelblichtverstoß an der Fußgängerbedarfsampel und dem Unfall an der nachfolgenden Kreuzung fehlt. Die Ampel dient dem Schutz des querenden Fußgängerverkehres im Ampelbereich und nicht dem Schutz des weit hinter der Ampel befindlichen Kreuzungsverkehrs B76/ H-straße.
Eine Zulassung der Revision ist nicht angezeigt, weil die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§ 543 Abs. 2 ZPO). Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung mit Schwerpunkt im Bereich der tatsächlichen Beweiswürdigung.
Nach alledem ist die Berufung offensichtlich unbegründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Die Feststellung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit des angefochtenen Urteils beruht auf § 708 Nr. 10 ZPO.
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