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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, rückwirkende Bestellung, Zulässigkeit, Beiordnungsgrund, Betreuung, zeitnahe Einstellung, Unverzüglichkeit

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Hamburg, Beschl. v. 31.03.2025 - 631 Qs 5/25

Eigener Leitsatz:

1. Die rückwirkende Bestellung eines notwendigen Verteidigers kommt jedenfalls dann in Betracht, wenn die Voraussetzungen für die Bestellung eines notwendigen Verteidigers zum Zeitpunkt eines rechtzeitig hierauf gerichteten Antrages gegeben waren und die Bestellung allein aufgrund justizinterner Gründe unterblieben ist.
2. Unverzüglich im Sinne des § 141 Abs. 1 S. 1 StPO bedeutet, dass die Pflichtverteidigerbestellung zwar nicht sofort, aber so bald wie möglich ohne schuldhaftes Zögern, mithin ohne sachlich nicht begründete Verzögerung erfolgen muss.
3. Die Ausnahmeregelung nach § 141 Abs. 2 S. 3 StPO, wonach in den Fällen des § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 und Nr. 3 StPO die Bestellung unterbleiben kann, wenn beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen und keine anderen Untersuchungshandlungen als die Einholung von Registerauskünften oder die Beiziehung von Urteilen oder Akten vorgenommen werden sollen, greift nicht, wenn die Pflichtverteidigerbestellung nicht von Amts nach den genannten Bestimmungen, sondern aufgrund des Antrages des vormaligen Beschuldigten veranlasst ist.


Landgericht Hamburg

631 Qs 5/25

Beschluss

In dem Strafverfahren
gegen pp.

Verteidiger:

wegen des Verdachts der Sachbeschädigung

beschließt das Landgericht Hamburg - Große Strafkammer 31 - durch die Vorsitzende Richterin am Landgericht, die Richterin am Landgericht und den Richter am 31.03.2025:

1. Auf die sofortige Beschwerde der Beschwerdeführerin und vormals Beschuldigten Pp. wird der Beschluss des Amtsgerichts Hamburg vom 17. Februar 2025 (161 GS 265/25) aufgehoben.
2. Der Beschwerdeführerin Pp. wird Rechtsanwalt pp. ab Antragstellung rückwirkend als notwendiger Verteidiger beigeordnet.
3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die darin entstandenen notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin Pp. trägt die Staatskasse.

Gründe:

I.

Die Beschwerdeführerin und vormals Beschuldigte Pp. wendet sich gegen die Ablehnung einer Pflichtverteidigerbestellung.

Gegen die Beschwerdeführerin wurde am 28. August 2024 von Beamten des PK 16 zum Az. 016/1K/0589366/2024 eine Strafanzeige wegen Sachbeschädigung (Tatvorwurf: Graffitisprayen auf Steinplatten des Gehweges im Sternschanzenpark) gefertigt. Die Beschwerdeführerin wurde nach Belehrung als Beschuldigte, Fertigung von Lichtbildern, Feststellung ihrer Personalien und Erteilung eines 10-tägigen Aufenthaltsverbotes für den Schanzenpark vor Ort entlassen.

Die Beschwerdeführerin war ausweislich eines polizeilichen Berichts vom 28. August 2024 erst vor kurzem aus der Haft entlassen worden, dem BtM-Milieu zugehörig und polizeilich bereits erheblich in Erscheinung getreten.

Mit Schreiben vom 07. September 2024 legitimierte sich der Verteidiger der Beschwerdeführerin Rechtsanwalt pp. unter Vollmachtsvorlage gegenüber der Polizei und beantragte - unter Ankündigung der Niederlegung seines Wahlmandates im Falle seiner Bestellung - seine Beiordnung als Pflichtverteidiger. Zur Begründung führte er an, die Beschwerdeführerin befinde sich in anderer Sache (Eil GS 420/24) seit dem 07. September 2024 in Untersuchungshaft.

Mit Zeugenfragebogen vom 11. September 2024 bat die Polizei das Bezirksamt Altona, Fachamt Management des öffentlichen Raums, um Mitteilung, ob gegen die Beschwerdeführerin wegen des Tatvorwurfs vom 28. August 2024 ein Strafantrag gestellt werde.

Mit Schreiben vom 12. September 2024 bestätigte die Polizei den Erhalt der Verteidigeranzeige und teilte mit, die Akte bis Ende September der Staatsanwaltschaft vorzulegen.

Mit Email vom 12. September 2024 bat der Verteidiger der Beschwerdeführerin um unverzügliche Vorlage seines Antrags gemäß § 141 Abs. 1 StPO beim Haftrichter.

Mit Abschlussvermerk der Polizei vom 12. September 2024 wurde der Aufenthalt der Beschwerdeführerin in der Untersuchungshaftanstalt bestätigt.

Mit Verfügung vom 18. September 2024 wurde der Vorgang von der Polizei an die Staatsanwaltschaft übersandt.

Unklar ist, wann die Akte die Staatsanwaltschaft erreicht hat, ein Eingangsstempel fehlt. Die Erstverfügung bei der Staatsanwaltschaft datiert vom 24. Januar 2025 (Bl. 26 R d.A.).

Bereits am 02. Januar 2025 wurde die Beschwerdeführerin nach Aufhebung des Haftbefehls im gesonderten Verfahren 242a Ds 265/24 (165 Gs 1556/24) aus der Haft entlassen.

Mit Verfügung vom 28. Januar 2025 stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren im Hinblick auf eine andere Tat (Az. 1222 Js 979/24) ohne Vorlage beim Ermittlungsrichter zur Entscheidung über den Beiordnungsantrag und ohne Anhörung der Beschwerdeführerin oder des Verteidigers gemäß § 154 Abs. 1 StPO ein und teilte der Beschwerdeführerin mit, dass sich ihr Akteneinsichtsgesuch und Beiordnungsantrag erledigt haben dürften.

Nach Erhalt der Einstellungsnachricht beantragte der Verteidiger der Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 28. Januar 2025 die Vorlage der Akte beim Ermittlungsrichter zur Entscheidung über seinen Beiordnungsantrag unter Verweis auf die in Rechtsprechung und Literatur zunehmend vertretene Auffassung der Zulässigkeit der nachträglichen Bestellung eines Pflichtverteidigers. Er wies darauf hin, dass in einem anderen Verfahren, dieselbe Tatzeit betreffend, die Schuldunfähigkeit der Beschwerdeführerin u.a. wegen Sachbeschädigung festgestellt worden und die Beschwerdeführerin in ca. 40 Fällen freigesprochen worden sei. Daher wäre nicht nur eine Einstellung auch des vorliegenden Verfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO in Betracht gekommen, zudem hätten neben den Beiordnungsvoraussetzungen des § 141 Abs. 2 StPO auch die nach § 140 Abs. 2 StPO vorgelegen, wegen der auf der Diagnose Schizophrenie beruhenden Unfähigkeit der Beschwerdeführerin, sich selbst zu verteidigen.
Mit Beschluss vom 17. Februar 2025 hat das Amtsgericht Hamburg den Antrag auf Bestellung zum Pflichtverteidiger mit der Begründung zurückgewiesen, die Voraussetzungen der §§ 140 ff StPO lägen im Zeitpunkt der Entscheidung nicht mehr vor, die rückwirkende Bestellung diene allein dem Kosteninteresse, welches durch die §§ 140 ff StPO nicht geschützt werde.
Hiergegen richtet sich die am selben Tag erhobene sofortige Beschwerde der Beschwerdeführerin.

Aus dem von der Beschwerdekammer eingeholten, die Beschwerdeführerin betreffenden Bundeszentralregisterauszug vom 18. März 2025 ergibt sich, dass sämtliche Verfahren ab BZR Nr. 6 bis BZR Nr. 29 auf der Grundlage eines Gutachtens vom 19. Dezember 2024 wegen Schuldunfähigkeit der Beschwerdeführerin eingestellt wurden.

Der Verteidiger der Beschwerdeführerin hat dem Beschwerdegericht mit Schreiben vom 18. März 2025 das forensisch-psychiatrische Gutachten des Sachverständigen Dr. pp. vom 19. Dezember 2024 über die Begutachtung der Beschwerdeführerin übersandt.

II.

1. Die sofortige Beschwerde ist zulässig, insbesondere gemäß § 142 Abs. 7 S. 1 StPO statthaft sowie form- und fristgemäß eingelegt worden.

In der Rechtsprechung wird zum Teil vertreten, dass die sofortige Beschwerde mangels Beschwer und damit fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig sei, wenn das Beschwerdeziel in der Bestellung eines notwendigen Verteidigers liegt, nachdem das Ermittlungsverfahren bereits eingestellt wurde (vgl. Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschlüsse vom 16. September 2020 – 2 Ws 112/20, juris RdNr. 15 und vom 17. Dezember 2024 - 1 Ws 115/24 - juris- unter II.2.a; OLG Braunschweig, Beschluss vom 2. März 2021 – 1 Ws 12/21, juris RdNr. 9; Hanseatisches Oberlandesgericht in Bremen, Beschluss vom 23. September 2020 – 1 Ws 120/20, juris RdNr. 6; Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 23. März 2022 – 1 Ws 28/22 (S), juris RdNr. 5 – 7; Kammergericht Berlin, Beschluss vom 28. März 2022 – 2 Ws 57/22, juris RdNr. 3 – 4).

Dieser Auffassung tritt die Kammer nicht bei. Sie folgt vielmehr der Ansicht einer im Vordringen befindlichen Ansicht der land- und obergerichtlichen Rechtsprechung im Lichte der EU-Richtlinie 2016/1919 vom 26. Oktober 2016 (sog. PKH-Richtlinie) und seiner nationalen Umsetzung im Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 (in Kraft getreten am 13. Dezember 2019). Danach kann ein Beschwerdeführer in den Fällen, in denen das Verfahren eingestellt wurde, bevor über seinen Antrag auf Bestellung eines notwendigen Verteidigers entschieden wurde, eine Beschwer geltend machen, wenn der Antrag rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens angebracht wurde und über diesen allein aus Gründen, die in der Sphäre der Justiz liegen, zuvor nicht entschieden wurde, womit das Gebot aus § 141 Abs. 1 S. 1 StPO, wonach ein Pflichtverteidiger auf Antrag des Beschuldigten unverzüglich bestellt wird, keine Beachtung gefunden hat (vgl. Beschluss der hiesigen Kammer vom 21. Februar 2024 - 631 Qs 1/24; OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021 – 1 Ws 260/21, BeckRS 2021, 14711; OLG Nürnberg, Beschluss vom 6. November 2020 – Ws 962/20, Ws 963/20, BeckRS 2020, 35193, LG Hamburg, Beschluss vom 5. April 2022 - 612 Qs 6/22, BeckRS 2022, 23286; LG Hamburg, Beschluss vom 15. Juli 2021 - 622 Qs 22/21, BeckRS 2021, 20600; LG Hamburg, Beschluss vom 26. März 2021 - 604 Qs 6/21 -juris; LG Düsseldorf, Beschluss vom 29. Oktober 2021 - 17 Qs 33/21, BeckRS 2021, 36883; LG Kiel, Beschluss vom 16. September 2021 - 1 Qs 72/21; LG Stuttgart, Beschluss vom 21. September 2021 - 9 Qs 62/21; LG Aurich, Beschluss vom 05. Mai 2020 - 12 Qs 78/20, BeckRS 2020, 10940; LG Bochum, Beschluss vom 18. September 2020 - II-10 Qs 6/20, NStZ-RR 2020, 352, 353, LG Hechingen, Beschluss vom 20. Mai 2020 - 3 Qs 35/20, BeckRS 2020, 14359; LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 04. Mai 2020 - JKII Qs 15/20 jug, BeckRS 2020, 10878; LG Passau, Beschluss vom 15. April 2020 - 1 Qs 38/20, juris; ausführlich zum Meinungsstand Burhoff, StraFo 2023, 206 (213, 214)).

a) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs konnte nach der bis zum 12. Dezember 2019 geltenden Rechtslage ein notwendiger Verteidiger nicht bestellt werden, wenn dies erst nach Abschluss des Verfahrens beantragt wurde (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Juli 2009 – 1 StR 344/08 = NStZ-RR 2009, 348). Die Beiordnung erfolge im Strafprozess nicht im Kosteninteresse des Beschuldigten, sondern diene allein dem Zweck, die ordnungsgemäße Verteidigung in einem noch ausstehenden Verfahren zu gewährleisten. Dies entsprach auch der überwiegenden obergerichtlichen Rechtsprechung zur damaligen Rechtslage (vgl. nur OLG Celle, Beschluss vom 24. Juli 2012 – 2 Ws 196/12, BeckRS 2012, 20314 m.w.N.). Dabei sollte eine rückwirkende Bestellung eines notwendigen Verteidigers auch dann ausgeschlossen sein, wenn der Antrag rechtzeitig gestellt war, aber eine Entscheidung vor Abschluss des Verfahrens nicht ergangen war (vgl. nur OLG Braunschweig, Beschluss vom 18. Dezember 2014 – 1 Ws 343/14, BeckRS 2015, 2332).

b) Auf die neue, also ab Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 (BT-Drucks. 19/13829) am 13. Dezember 2019 gültige Rechtslage ist diese Ansicht mit dem vorgenannten Argument zum Teil übertragen worden (vgl. nur Hanseatisches Oberlandesgericht, Beschlüsse vom 17. Dezember 2024 - 1 Ws 115/24 - unter II.2.a und vom 16. September 2020 – 2 Ws 112/20 = StraFo 2020, 486). Eine Rückwirkung sei auf etwas Unmögliches gerichtet und könne eine notwendige Verteidigung des Beschuldigten in der Vergangenheit nicht gewährleisten. Eine Beiordnung erfolge insbesondere nicht im Kosteninteresse eines Beschuldigten oder um dem Verteidiger einen Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse zu verschaffen (vgl. OLG Brandenburg, Beschluss vom 9. März 2020 – 1 Ws 19/20, 1 Ws 20/20 = NStZ 2020, 625 (626)).

c) Nach einer vordringenden Ansicht kommt eine rückwirkende Bestellung eines notwendigen Verteidigers jedenfalls dann in Betracht, wenn die Voraussetzungen für die Bestellung eines notwendigen Verteidigers zum Zeitpunkt eines rechtzeitig hierauf gerichteten Antrages gegeben waren und die Bestellung allein aufgrund justizinterner Gründe unterblieben ist. Mit dem Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung habe der Gesetzgeber die Intention verbunden, nicht nur eine ordnungsgemäße Verteidigung zu gewährleisten, sondern gerade auch mittellose Beschuldigte von den Kosten ihrer Verteidigung freizustellen. Diese von der Richtlinie beabsichtigte Unterstützung und Absicherung der Verfahrensbeteiligten werde jedoch unterlaufen, wenn eine Pflichtverteidigerbestellung nur deswegen versagt werden könnte, weil die Entscheidung hierüber verzögert getroffen würde. Hierdurch würde dem Beschuldigten ferner die vom Gesetz gewährte Überprüfungsmöglichkeit der Beiordnungsversagung entzogen (vgl. nur OLG Nürnberg, Beschluss vom 6. November 2020 – Ws 962/20, juris; OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021 - 1 Ws 260/21, BeckRS 2021, 14711; LG Hamburg, Beschluss vom 05. April 2022 - 612 Qs 6/22, juris, jeweils m.w.N.).

d) Aus Sicht der Kammer ist der letztgenannten Ansicht zu folgen, sofern der Beschuldigte einen Antrag auf Bestellung eines notwendigen Verteidigers rechtzeitig angebracht hatte, in diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen für die Beiordnung eines notwendigen Verteidigers auch gegeben waren und die Entscheidung vor Verfahrensabschluss aus Gründen, die allein die Justiz zu verantworten hat, unterblieben ist.

Hierfür und zugleich gegen die Annahme, dass eine Beiordnung eines Verteidigers nach Abschluss des Verfahrens auch nach der Neufassung der §§ 140, 141 StPO generell nicht in Betracht kommen könne, sprechen die europarechtlichen Vorgaben der Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (nachfolgend „Richtlinie“), die bei der Auslegung der §§ 140, 141 StPO heranzuziehen sind. Artikel 4 Abs. 1 der Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten, es sicherzustellen, dass Verdächtige und beschuldigte Personen, die nicht über ausreichende Mittel zur Bezahlung eines Rechtsbeistands verfügen, Anspruch auf Prozesskostenhilfe haben, wenn es im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Artikel 3 der Richtlinie definiert, dass im Sinne der Richtlinie der Ausdruck „Prozesskostenhilfe“ die Bereitstellung finanzieller Mittel durch einen Mitgliedstaat für die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand bezeichnet, sodass das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand wahrgenommen werden kann. Die Vorgabe, dass finanzielle Mittel bereitzustellen sind, zeigt, dass die Richtlinie auch die Bezahlung des Rechtsbeistandes und damit zugleich die Freistellung des Beschuldigten von diesen Kosten als Regelungsziel vor Augen hatte, um den Zugang zu dem Rechtsrat und der Vertretung durch rechtskundige, berufsmäßig mit der rechtlichen Interessenwahrnehmung befasste Personen zu ermöglichen (vgl. LG Hamburg, Beschluss vom 5. April 2022 – 612 Qs 6/22, a.a.O.). Faktisch würde dies aber unterlaufen, wenn in den Fällen, in denen der Beschuldigte nach den Regelungen des Mitgliedsstaates berechtigterweise einen Rechtsbeistand hinzuziehen könnte, ihm dies allein deshalb versagt wird, weil die Entscheidung erst nach Einstellung des Verfahrens ergeht und die Versagung allein hierauf gestützt wird (vgl. LG Hamburg, Beschluss vom 5. April 2022 - 612 Qs 6/22, a.a.O. m. w. N.).

Die gegen die nachträgliche Bestellung eines notwendigen Verteidigers erhobenen Einwände, die Richtlinie sehe nicht ausdrücklich vor, dass der Beschuldigte in jedweder Phase des Verfahrens von den Kosten der Verteidigung freizustellen sei, insbesondere enthalte sie keine Vorgabe, dass eine Beiordnung auch nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens erfolgen könne, vielmehr beinhalte ein Anspruch auf Prozesskostenhilfe im Interesse der Rechtspflege nach Art 4 der PKH-Richtlinie, dass dies für das weitere Verfahren von Bedeutung sei, zudem habe der nationale Gesetzgeber insgesamt keinen Systemwandel beim Recht der notwendigen Verteidigung vollziehen wollen (vgl. Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschlüsse vom 17. Dezember 2024 - 1 Ws 115/24 - juris- unter II.2.a und vom 16. September 2020 – 2 Ws 112/20, BeckRS 2020, 27077 RdNr. 16), überzeugen aus Sicht der Kammer nicht. Zwar hat die Richtlinie die Mitgliedstaaten in Artikel 4 Abs. 2 der Richtlinie ermächtigt, eine Bedürftigkeitsprüfung, eine Prüfung der materiellen Kriterien oder beides vornehmen, um festzustellen, ob Prozesskostenhilfe nach Absatz 1 zu bewilligen ist. Artikel 4 Abs. 3 S. 1 der Richtlinie gibt dabei vor, dass, wenn ein Mitgliedstaat eine Prüfung der materiellen Kriterien vornimmt, er der Schwere der Straftat, der Komplexität des Falles und der Schwere der zu erwartenden Strafe Rechnung trägt, damit festgestellt werden kann, ob die Bewilligung von Prozesskostenhilfe im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Artikel 4 Abs. 3 S. 2 der Richtlinie benennt aber zwei Fallgruppen, in denen die materiellen Kriterien in jedem Fall als erfüllt gelten, nämlich dann, wenn ein Verdächtiger oder eine beschuldigte Person in jeder Phase des Verfahrens im Anwendungsbereich dieser Richtlinie einem zuständigen Gericht oder einem zuständigen Richter zur Entscheidung über eine Haft vorgeführt wird (Artikel 4 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 der Richtlinie) und dann, wenn sich der Beschuldigte in Haft befindet (Artikel 4 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 der Richtlinie). Auch wenn die Mitgliedsstaaten aufgrund der Richtlinie nicht dazu gehalten waren, ihre nationalstaatlichen Regelungen zu modifizieren, sofern diese, wie dies in der Strafprozessordnung der Fall ist, eine Prüfung der Bestellung eines Pflichtverteidigers anhand materieller Kriterien vorsieht, kann dies jedenfalls bei den benannten Fallgruppen nicht gegen die nachträgliche Bestellung angeführt werden, da die materiellen Kriterien hier erfüllt gelten, ohne dass die Richtlinie eine Ausnahme hiervon vorsieht.

Daneben spricht auch das Unverzüglichkeitsgebot, welches bei der Neufassung der Regelungen über die Bestellungen eines notwendigen Verteidigers in § 141 Abs. 1 StPO Eingang gefunden hat, für die Zubilligung einer Beschwer, wenn der Antrag nach Einstellung des Verfahrens allein mit diesem Argument abschlägig beschieden wurde. Die Bedeutung dieses Gebots zeigt sich in seiner prozessualen Ergänzung in § 142 Abs. 1 S. 2 StPO, wonach die Staatsanwaltschaft den Antrag mit einer Stellungnahme unverzüglich dem Gericht zur Entscheidung vorzulegen hat, sofern sie nicht in Fällen besonderer Eilbedürftigkeit nach Absatz 4 verfährt und selbst über die Bestellung entscheidet. Die Berechtigung des Beschuldigten, die Entscheidung über die Bestellung nach § 142 Abs. 7 StPO mit der sofortigen Beschwerde anzufechten, liefe in den Fällen ins Leere, wenn der Antrag aufgrund justizinterner Umstände erst beschieden wird, wenn das Verfahren bereits eingestellt wurde und dem Beschuldigten die Beschwerdeberechtigung mit diesem Argument versagt bliebe. Der Beschuldigte bliebe dann mit den Kosten des Verteidigers belastet, was bei zeitnaher Entscheidung nicht der Fall gewesen wäre, sofern die materiellen Voraussetzungen für die Beiordnung eines notwendigen Verteidigers gegeben waren.

Auch dies spricht für die Zuerkennung einer Beschwer, sodass im Ergebnis von einer Beschwerdeberechtigung auszugehen ist.

2. Die sofortige Beschwerde ist auch begründet. Das Amtsgericht hat den Beiordnungsantrag der Beschwerdeführerin zu Unrecht abgelehnt, da die Voraussetzungen zur Bestellung eines notwendigen Verteidigers zum maßgeblichen Bewertungszeitpunkt vorlagen.

a) Die Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers lagen zum Zeitpunkt des Antrages der Beschwerdeführerin nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vor, da sie sich in anderer Sache in Strafhaft befand. Sofern Haft oder Unterbringung vollstreckt werden, ist die Verteidigung in sämtlichen gegen die Beschuldigte geführten Strafverfahren notwendig (vgl. Willnow in Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 9. Aufl. (2023), § 140 RdNr. 13).

Daneben lagen auch die Voraussetzungen für eine Beiordnung nach § 140 Abs. 2 StPO vor, wegen der Unfähigkeit der Beschwerdeführerin, sich selbst zu verteidigen. Ausweislich des Gutachtens des Sachverständigen Dr. pp. vom 19. Dezember 2024 wurde bei der Beschwerdeführerin erstmals 2012/2013 die Diagnose einer Erkrankung an Schizophrenie gestellt, welche 2017 zur Bestellung eines Betreuers und Anordnung einer längerfristigen zivilrechtlichen Unterbringung auf der Grundlage eines Gutachtens des Sachverständigen Remmers geführt hatte. Die geschlossene Unterbringung wurde 2019 in der Ameos-Klinik in Heiligenhafen vollzogen, von dort erfolgte eine Verlegung in eine geschlossene, später offene Wohneinrichtung, aus der sie 2022 eine eigene Wohnung bezog. Letztmalig stabil Medikamente nahm die Beschwerdeführerin im Sommer 2023 ein. Auch unter Medikation konnte die Erkrankung ausweislich des Gutachtens indes nicht in Remission geführt werden. Der letzte bekannte stationär-psychiatrische Aufenthalt der Beschwerdeführerin fand für sechs Tage im August 2024 im Ameos-Klinikum Neustadt statt, mithin unmittelbar vor der vorliegend verfahrensgegenständlichen Tat. Der Sachverständige Dr. pp. gelangt in seinem Gutachten vom 19. Dezember 2024 für den Zeitraum sämtlicher dem Gutachtenauftrag zu Grunde liegender Vorwürfe, u.a. mehrere Diebstähle, begangen ab September 2023, mehrfache Leistungserschleichung, aber auch zwei Sachbeschädigungen in Form von Grafitti-Malereien, begangen am 18. Dezember 2023 und 15. Februar 2024, zu einer fortbestehenden chronifizierten schizophrenen Verfassung der Beschwerdeführerin und einer dadurch bedingten aufgehobenen Schuldfähigkeit wegen aufgehobener Steuerungsfähigkeit. Dies begründet ohne weiteres zugleich eine Unfähigkeit der Beschwerdeführerin, sich selbst zu verteidigen im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO, die - anders als ihre Haft - bis zur Verfahrenseinstellung andauerte.

b) Der Beschwerdeführerin Pp. ist aufgrund ihres Antrags nach § 141 Abs. 1 S. 1 StPO ein Pflichtverteidiger zu bestellen. Dem steht nicht entgegen, dass der Verteidiger der Beschwerdeführerin sich zunächst als Wahlverteidiger legitimiert hatte, da zusammen mit dem Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung zugleich die Erklärung des Verteidigers abgegeben wurde, das Wahlmandat für den Fall der Bestellung niederzulegen.

c) Die Entscheidung über die Pflichtverteidigerbestellung ist nicht unverzüglich im Sinne der §§ 141 Abs. 1 Satz 1, 142 Abs. 1 S. 1 und 2 StPO ergangen, weshalb eine rückwirkende Bestellung möglich ist.

Unverzüglich im Sinne des § 141 Abs. 1 S. 1 StPO bedeutet, dass die Pflichtverteidigerbestellung zwar nicht sofort, aber so bald wie möglich ohne schuldhaftes Zögern, mithin ohne sachlich nicht begründete Verzögerung erfolgen muss (vgl. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl. (2023), § 141 RdNr. 7). Vorliegend erfolgte die Entscheidung über die Bestellung nicht unverzüglich. Die Beschwerdeführerin beantragte über ihren Verteidiger mit dem am 7. September 2024 an die Polizei gerichteten Schreiben, mithin so, wie es § 142 Abs. 1 StPO vorsieht, die Beiordnung ihres Wahlverteidigers zum Pflichtverteidiger. Diesen Antrag leitete die Polizei zwar am 18. September 2024 an die Staatsanwaltschaft weiter, diese leitete die Akten indes nicht an das Amtsgericht weiter, sondern verfügte erst am 24. Januar 2025, mithin über vier Monate später, die Einstellung des Verfahrens nach § 154 Abs. 1 StPO.

Eine Entscheidung über die (Nicht-)Bestellung eines Pflichtverteidigers erging erst am 17. Februar 2025, nachdem der Verteidiger unter dem 28. Januar 2025 hieran erinnert hatte, weshalb im Ergebnis über den Antrag nicht unverzüglich entschieden wurde. Dies ist allein auf die Verfahrensabläufe innerhalb der Justiz zurückzuführen und von der Beschwerdeführerin nicht zu verantworten.

d) Die Ausnahmeregelung nach § 141 Abs. 2 S. 3 StPO, wonach in den Fällen des § 141 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 und Nr. 3 StPO die Bestellung unterbleiben kann, wenn beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen und keine anderen Untersuchungshandlungen als die Einholung von Registerauskünften oder die Beiziehung von Urteilen oder Akten vorgenommen werden sollen, greift hier nicht. Zum einen wurden nach dem Beiordnungsantrag noch Ermittlungsmaßnahmen mit Außenwirkung getätigt, nämlich seitens der Polizei unter dem 11. September 2024 eine Nachfrage an das Bezirksamt gerichtet, ob Strafantrag gestellt werde, weshalb die Voraussetzung des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO ab diesem Zeitpunkt nicht mehr vorlag. Zum anderen war die Pflichtverteidigerbestellung nicht von Amts nach den genannten Bestimmungen, sondern aufgrund des Antrages der vormaligen Beschuldigten veranlasst (vgl. LG Stade Beschluss vom 18. August 2023 – 2520 Js 18080/23, BeckRS 2023, 45308 Rn. 31).

3. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 467 Abs. 1 StPO.


Einsender: RA Dr. S. Ebrahim-Nesbat, Hamburg

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