Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Karlsruhe, Beschl. v. 10.03.2025 - 3 ORs 310 SRs 59/25
Eigener Leitsatz:
1. Zum Beginn der Strafantragsfrist bei Beleidigungen im Internet,
2. Eine Äußerung nimmt den Charakter als Schmähung erst dann an, wenn sie keinen irgendwie nachvollziehbaren Bezug mehr zu einer sachlichen Auseinandersetzung hat und es bei ihr im Grunde nur um das grundlose Verächtlichmachen der betroffenen Person als solcher geht. Es sind dies Fälle, in denen eine vorherige Auseinandersetzung erkennbar nur äußerlich zum Anlass genommen wird, um über andere Personen herzuziehen oder sie niederzumachen.
Oberlandesgericht Karlsruhe
3. STRAFSENAT
Beschluss
In dem Strafverfahren
gegen pp.
Verteidiger:
wegen Beleidigung
hier: Revision der Angeklagten
hat das Oberlandesgericht Karlsruhe - 3. Strafsenat - am 10. März 2025 beschlossen:
1. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts - Strafrichter - Mannheim-vom 18.06.2024 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Rechtsmittels - an eine andere strafrichterliche Abteilung des Amtsgerichts Mannheim zurückverwiesen.
Gründe:
I.
Das Amtsgericht - Strafrichter - Mannheim verurteilte die Angeklagte am 18.06.2024 wegen einer am 20.10.2022 begangenen Beleidigung zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu je 30 Euro.
Hiergegen legte die Angeklagte, vertreten durch Rechtsanwalt Kolivas, am 18.06.2024 Revision ein und begründete diese nach an den Verteidiger erfolgter Urteilszustellung am 17.07.2024 mit Schriftsatz vom selben Tag. Eine weitere Zustellung des Urteils erfolgte am 19.10.2024 an die Angeklagte selbst. Die Angeklagte stützt ihre Sprungrevision auf die Verletzung materiellen Rechts und erstrebt mit ihr einen Freispruch. Hilfsweise beantragt sie, die Sache an das Amtsgericht zurückzuverweisen. Die Generalstaatsanwaltschaft trägt mit Schrift vom 19.02.2025 auf Verwerfung der Revision als unbegründet an.
II.
Die Revision der Angeklagten ist zulässig und hat auch in der Sache (vorläufig) Erfolg.
1. Ein Verfahrenshindernis liegt entgegen der Auffassung des Verteidigers allerdings nicht vor. Insbesondere fehlt es nicht an einem gemäß § 194 Abs. 1 Satz 1 StGB erforderlichen innerhalb der Frist des § 77b StGB eingegangenen und gemäß § 158 Abs. 2 StPO formgerecht gestellten Strafantrag.
Zwar wurde der in der Hauptverhandlung verlesene Strafantrag erst am 09.01.2023 gestellt, während die per E-Mail durch den Geschädigten gestellte Strafanzeige bereits am 07.08.2022 eingegangen war. Wäre für den Fristbeginn der dreimonatigen Strafantragsfrist nach § 77b Abs. 1 StGB diese Strafanzeige entscheidend, so wäre die Frist am 09.01.2023 bereits abgelaufen gewesen. Allerdings beginnt der Lauf der Frist erst mit Kenntnis des Antragsberechtigten von der Tat und von der Person des Täters, § 77b Abs. 2 Satz 1 StGB. Hierzu müssen Tat und Tatbeteiligter so weitgehend konkretisiert sein, dass ein besonnener Mensch in der Lage ist zu beurteilen, ob er Strafantrag stellen soll (BGH, Beschluss vom 29.10.1998 - 5 StR 288-98 - , NJW 1999, 508, 509). Zwar muss dem Antragsteller nicht zwingend der vollständige Name des Täters bekannt sein. Allerdings muss jedenfalls eine hinreichende Individualisierbarkeit gegeben sein (BeckOK-Dallmeyer, StGB, 64. Edition, Stand: 01.02.2025, § 77b Rn. 4). Diese Voraussetzungen lagen vor dem 09.01.2023 nicht vor,
Anders als vom Verteidiger vorgetragen, sind die hierzu ergangenen Entscheidungen über die hinreichende Erkennbarkeit des Täters bei Verkehrsstraftaten (BayObLG, Beschluss vom 21.07.1993 - 2 StR RR 91/93 -, NStZ 1994, 86; OLG Stuttgart, Beschluss vom 16.03.1954 - Ws 392/53 -, NJW 1955, 73) nicht auf den vorliegenden Fall übertragbar. So ist in diesen Fällen eine gute Individualisierbarkeit bereits durch die Wahrnehmbarkeit eines einzigartigen Kfz-Kennzeichens gegeben. Eine solche Möglichkeit besteht bei einer Kommentierung von Beiträgen in sozialen Netzwerken im Internet gerade nicht. Diese ist gekennzeichnet durch die Nutzung von - nicht zwingend mit dem Klarnamen übereinstimmenden - Profilnamen. Häufig werden Abkürzungen, Verfremdungen des Namens oder gänzliche Fantasienamen kreiert. In vielen Fällen wird auch gezielt ein fremder Name benutzt. Allein durch die Kenntnis eines Profilnamens gelingt dem Anzeigeerstatter daher noch keine Individualisierung. Diese kann lediglich durch - den Ermittlungsbehörden vorbehaltene - Auskünfte des jeweiligen Plattformbetreibers und anschließende Provider-anfragen erfolgen. Selbst diese führen aufgrund falscher E-Mail-Adressen oder fehlender Zuordenbarkeit einer Mobiltelefonnummer zu einer bestimmten Person häufig nicht zu der Ermittlung eines Tatverdächtigen. Der Anzeigeerstatter hatte daher bei Kenntnis des Kommentars am 07.08.2022 noch keinerlei Kenntnis über die hinter dem Kommentar stehende Person und auch keine Möglichkeit, diese näher zu identifizieren.
Hinzu kommt, dass der Grund für die geringen Anforderungen an die Kenntnis des Täters in den beiden zitierten Entscheidungen auch darin liegt, dass bei Straßenverkehrsstraftaten die Kenntnis von Namen und Lebensumständen des dem Geschädigten meist unbekannten Täters für die Frage der Antragstellung ohne Bedeutung ist (so ausdrücklich OLG Stuttgart, a. a. 0.). Anders gelagert sind dagegen die Fälle im Internet eingestellter Kommentare. Hier wird für den Anzeigeerstatter häufig die Kenntnis des Namens des Täters relevant sein, da entsprechende Kommentare oft durch dem Geschädigten bekannte Personen eingestellt werden, die der Geschädigte möglicherweise nicht anzeigen will. Die Kenntnis des Namens wird für den Anzeigeerstatter daher in der Regel wichtig sein, um herausfinden zu können, ob es sich um eine ihm bekannte oder eine ihm fremde Person handelt. Bei Äußerungen, die wie hier das berufliche Umfeld des Geschädigten betreffen, wird dieses Interesse an der Identität des Täters häufig noch stärker sein. So kann allein bei Kenntnis des Namens herausgefunden werden, ob es sich bei dem Täter um eine dem Anzeigeerstatter eventuell aus dem beruflichen Umfeld bekannte Person handelt. Des Weiteren bleibt es bei Internet-Beiträgen oft nicht bei der einmaligen Einstellung eines Betrages, sondern es kommt zu wiederkehrenden Auseinandersetzungen einer Person mit einem bestimmten Thema. Auch insoweit kann der Anzeigeerstatter nur dann herausfinden, ob es sich bei dem Verfasser um eine Person handelt, die bereits einmal einen Text über ihn verfasst hat, oder eine Person, die er - auch aus diesem Zusammenhang - noch nicht kennt.
Die für Verkehrsstraftaten in der Rechtsprechung teilweise entwickelten Grundsätze sind damit auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar. Die Besonderheiten der Tatbegehung durch Kommentierungen im Internet berücksichtigend war dem Geschädigten erst zuzumuten, Strafantrag zu stellen, nachdem er von der Polizei nach Abschluss der hierzu getätigten Ermittlungen am 09.01.2023 über den ermittelten Klarnamen der Angeklagten informiert worden war. Der an diesem Tag vom Geschädigten unterzeichnete Strafantrag wurde somit form- und fristgerecht gestellt.
2. Die Revision führt jedoch auf die allgemeine Sachrüge hin zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache, da die Urteilsgründe lückenhaft sind und daher nicht auszuschließen ist, dass das Amtsgericht zu Unrecht von einer Erfüllung des Tatbestands der Beleidigung ausgegangen ist. Die getroffenen Tatsachenfeststellungen tragen den Schuldspruch nicht.
a) Nach den Feststellungen des Amtsgerichts hat die Angeklagte am 20.10.2022 gegen 10:57 Uhr als Nutzerin des Twitter-Accounts „pp." den Kinderarzt pp. mit den Worten „kinderspritzarzt Nummer 1, der keine Skrupel kennt" beleidigt und den Hashtag „#Genozid" angehängt, um ihre Missachtung auszudrücken. Dem Tweet habe sie einen auf BR24 veröffentlichten Beitrag über den Geschädigten mit dessen Bild beigefügt.
b) Auf der Grundlage dieser wenigen Feststellungen ist die Annahme des Amtsgerichts rechtsfehlerhaft, dass es sich hierbei um eine Äußerung handelt, die den Tatbestand des § 185 StGB erfüllt.
Ob einer Äußerung ein ehrverletzender Sinn beizumessen ist, ergibt sich stets erst aus ihrer Auslegung. Das BVerfG hat wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass bereits auf der Deutungsebene der in Rede stehenden Äußerung den verfassungsrechtlichen Anforderungen Rechnung zu tragen ist (BVerfG, Beschluss vom 06.09.2000 - 1 BvR 1056/95 -, NJW 2001, 61, 62; BVerfG, Beschluss vom 04.04.2024 - 1 BvR 820/24 -, NStZ-RR 2024, 168, 169). Um der verfassungsrechtlich gewährten Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG gerecht zu werden, hat der Tatrichter daher zunächst den Sinn der infrage stehenden Äußerung zu ermitteln. Neben dem Wortlaut der Äußerung sind hierbei der sprachliche Kontext und die gesamten für den Rezipienten erkennbaren Be-gleitumstände des konkreten Einzelfalls zu berücksichtigen (BVerfG, Beschluss vom 04.04.2024 - 1 BvR 820/24 -, NStZ-RR 2024, 168, 169). Gerade bei der Einordnung von Beiträgen in sozialen Medien als Beleidigung ist eine aussagekräftige Darstellung des Gesamtkontextes erforderlich, denn der Sinngehalt entsprechender Beiträge erschließt sich regelmäßig erst durch vollständige Kenntnis deren Inhalts. Bedeutend können sein: Rede und (reaktive) Gegenrede, die Teilung von Links, Verschlagwortungen durch Etablierung von Hashtags, die Anzahl von Einladungen und die Verwendung sog. „Emoticons" oder „Likes" (BayObLG, Beschluss vom 26.11.2020 - 202 StRR 86/20). Erweist sich die in Rede stehende Äußerung als mehrdeutig und lässt sie verschiedene Interpretationen zu, von welchen nicht jede strafrechtliche Relevanz erfährt, darf der Tatrichter nur dann von einer zur Verurteilung führenden Deutung ausgehen, wenn er alle anderen, nicht
strafbaren Auslegungsmöglichkeiten mit tragfähigen Gründen ausgeschlossen hat (BVerfG, Be-schluss vom 12.11.2002 - 1 BvR 232/97 -, NJW 2003, 660). Abzustellen ist hierbei auf das Verständnis eines durchschnittlichen Kundgabeempfängers. Maßgeblich ist damit weder die subjektive Absicht des sich Äußernden noch das subjektive Verständnis des von der Äußerung Betroffenen, sondern der Sinn, den die Äußerung nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Durchschnittspublikums hat (BVerfG, Beschluss vom 04.04.2024 - 1 BvR 820/24 -, NStZ-RR 2024, 168, 169).
Diesen Anforderungen hält das angegriffene Urteil nicht stand. Die Würdigung der in Frage stehenden Äußerungen durch die Beweiswürdigung im angegriffenen Urteil beschränkt sich auf die folgenden Textpassagen:
„Entgegen der Auffassung der Angeklagten dient der Inhalt des Tweets auch über eine kritische Meinungsäußerung deutlich hinaus.
Dies vor allem aufgrund der Formulierung ("Kinderspritzarzt Nr. 1, der keine Skrupel kennt", verbunden mit dem Hashtag „#Genozid9.
Insbesondere aufgrund dieser Kombination hat das Gericht keinen vernünftigen Zweifel daran, dass die Angeklagte in Beleidigungsabsicht gehandelt hat, d. h. den Geschädigten in der öffentlichen Meinung herabwürdigen wollte."
Diese dürftigen Ausführungen erfüllen nicht ansatzweise die o.g. Voraussetzungen, die an die erforderliche, dem Grundrecht auf Meinungsäußerungsfreiheit gerecht werdende Auslegung zu stellen sind. Das angegriffene Urteil setzt sich - worauf der Verteidiger zu Recht hinweist - vor allem nicht mit der bereits nach dem Wortlaut naheliegenden Auslegungsmöglichkeit auseinander, wonach die Angeklagte sich kritisch mit dem Thema der Impfung gegen COVID-19 bei Kindern auseinandergesetzt haben könnte. Der Kontext, in dem die Äußerung fiel, und die sonstigen Begleit-umstände fanden keinerlei Berücksichtigung. In diesem Zusammenhang hat das Amtsgericht ins-besondere nicht gewürdigt, dass die Angeklagte den Text unter dem Account-Namen „pp." einstellte. Diese Account-Bezeichnung könnte in der gebotenen Ge-samtschau einen Hinweis darauf bieten, dass die Angeklagte sich „streitig" mit einer aus ihrer Sicht problematischen Sachfrage auseinandersetzen wollte. Bereits diese Erörterungsmängel haben die Aufhebung des Urteils zur Folge.
Im Übrigen hätte das Amtsgericht es auch nicht bei dem Fazit belassen dürfen, dass die Äußerung der Angeklagten „über eine kritische Meinungsäußerung hinausging", sondern eine Abwägung zwischen den Beeinträchtigungen, die der persönlichen Ehre auf der einen und der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite drohen, vornehmen müssen, die ebenfalls vollständig fehlt.
Eine solche Abwägung wäre schließlich nur dann entbehrlich gewesen, wenn sich die Äußerung als Schmähung erwiesen hätte. Auch eine überzogene und selbst eine ausfällige Kritik machen jedoch für sich genommen eine Äußerung noch nicht zur Schmähkritik.
Eine Äußerung nimmt den Charakter als Schmähung erst dann an, wenn sie keinen irgendwie nachvollziehbaren Bezug mehr zu einer sachlichen Auseinandersetzung hat und es bei ihr im Grunde nur um das grundlose Verächtlichmachen der betroffenen Person als solcher geht. Es sind dies Fälle, in denen eine vorherige Auseinandersetzung erkennbar nur äußerlich zum Anlass genommen wird, um über andere Personen herzuziehen oder sie niederzumachen (BVerfG, Be-schluss vom 21.03.2022 - 1 BvR 2650/19 - juris Rn. 15; BayObLG, Beschluss vom 26.11.2020 -202 StRR 86/20). Bei der Beurteilung dieser Frage sind jedoch in der Regel ebenfalls Anlass und Kontext der Äußerung zu beachten (BVerfG NJW 2009, 3016, 3017), was das Amtsgericht, wie dargelegt, unterlassen hat.
Danach kann das Urteil keinen Bestand haben. Die im angegriffenen Urteil unterlassene Auslegung der der Angeklagten vorgeworfenen Äußerung ist eine Tatsachenwürdigung, die als solche nur dem Tatrichter zusteht. Der Senat vermag nicht auszuschließen, dass in einer neuen Haupt-verhandlung zum Gesamtkontext neue Feststellungen getroffen werden, die zu einem Schuld-spruch der Angeklagten nach § 185 StGB führen könnten. Eine eigene Sachentscheidung nach § 354 Abs. 1 SfP0 war dem Senat daher verwehrt. Das Urteil war vielmehr mit den zugrunde liegenden Feststellungen insgesamt aufzuheben und die Sache gemäß §§ 353 Abs. 2, 354 Abs. 2 Satz 1 StPO an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Mannheim zur neuen Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Rechtsmittels - zurückzuverweisen.
Einsender: RA G. Kolivas, Mannheim
Anmerkung: