Gericht / Entscheidungsdatum: AG Landstuhl, Beschl. v. 09.04.2025 - 2 OWi 53/25
Leitsatz des Gerichts:
Eine (potentielle) Relevanz der Falldatensätze der sog. "gesamten Messreihe" sowie der Statistikdatei für die Verteidigung eines Betroffenen im Bußgeldverfahren besteht nach derzeitigem Erkenntnisstand nicht.
2 OWi 53/25
Amtsgericht Landstuhl
Beschluss
In dem Bußgeldverfahren
gegen pp.
wegen Verkehrsordnungswidrigkeit
hier: Antrag des Verteidigers auf gerichtliche Entscheidung vom 12.03.2025 gegen Maßnahmen der Verwaltungsbehörde (§ 62 OWiG)
hat das Amtsgericht Landstuhl durch den Richter am Amtsgericht pp. am 09.04.2025 beschlossen:
1. Auf den Antrag des Verteidigers auf gerichtliche Entscheidung vom 12.03.2025 wird der Verwaltungsbehörde aufgegeben, dem Verteidiger die Gebrauchsanweisung zu dem bei der verfahrensgegenständlichen Messung zum Einsatz gekommenen Messgerät in der zum Zeitpunkt der Messung gültigen Fassung zur Verfügung zu stellen.
2. Der weitergehende Antrag wird als unbegründet verworfen.
3. Der Verteidiger hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen.
Gründe:
1. Der Antrag bedarf insoweit zunächst der Auslegung als der Verteidiger dem Wortlaut nach zwar ein Recht auf Einsicht in „Aktenbestandteile“ geltend macht, damit aber offenkundig einen Anspruch auf Überlassung von Unterlagen und Informationen meint, die zwar anlässlich des Verfahrens entstanden, von der Verwaltungsbehörde aber gerade nicht zum Aktenbestandteil gemacht worden sind. Hierbei handelt es sich entgegen der Auffassung des Verteidigers nicht um einen Fall der Akteneinsicht i.S.d. § 49 OWiG, sondern um einen aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK) resultierenden Überlassungsanspruch eigener Art (vgl. hierzu etwa BVerfGE 63, 45 (66 ff.); BVerfG, NJW 2021, 455 (458 f. Rn. 50 ff.); 2023, 2932 (2935 Rn. 45 ff.)).
2. Der in diesem Sinne verstandene Antrag des Verteidigers ist gem. § 62 Abs. 1 Satz 1 OWiG statthaft und auch im übrigen zulässig, hat in der Sache aber lediglich teilweise Erfolg.
2.1 Der auf Überlassung der Gebrauchsanweisung gerichtete Antrag ist begründet. Es entspricht allgemeiner Auffassung, dass der Betroffene ein Recht auf Überlassung der Gebrauchsanweisung zu dem bei der verfahrensgegenständlichen Messung zum Einsatz gekommenen Messgerät hat (vgl. statt vieler OLG Naumburg, DAR 2013, 37 f.; KG, VRS 124, 160 (162 f.); OLG Koblenz, ZfSch 2020, 412 f.; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 07.01.2021 ‒ 1 OWi 2 SsBs 98/20, BeckRS 2021, 155 (Rn. 15)).
2.2 Im Ergebnis zutreffend hat die Verwaltungsbehörde allerdings eine Herausgabe der Falldatensätze der sog. „gesamten Messreihe“ sowie der Statistikdatei abgelehnt.
Ein Anspruch auf Überlassung von Unterlagen, die sich nicht bei der Bußgeldakte befinden, setzt in materieller Hinsicht voraus, dass die Informationen, zu denen Zugang begehrt wird, in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang zu dem Bußgeldvorwurf stehen und eine (potentielle) Relevanz für die Verteidigung des Betroffenen aufweisen. Hieran fehlt es in Ansehung der Falldatensätze der gesamten Messreihe allerdings.
Aus dem Gebot der Gewährleistung eines fairen Verfahrens (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK) folgt, dass der Betroffene grundsätzlich jeder auch bloß theoretischen Aufklärungschance nachgehen kann, wohingegen die Bußgeldbehörden (und im späteren Verfahren auch die Gerichte) von einer weitergehenden Sachaufklärung gerade in Fällen standardisierter Messverfahren grundsätzlich entbunden sind. Es kommt deshalb für die Anerkennung eines Einsichtsrechts des Betroffenen in zur ihn betreffenden Messung zugehörige Unterlagen nicht darauf an, ob die Bußgeldbehörde (oder das Gericht) die in Rede stehende Information (nach Maßgabe des Aufklärungsgrundsatzes) zur Erlangung einer Überzeugung von dem vorgeworfenen Verstoß für erforderlich erachtet (BVerfG, NJW 2021, 455 (458 f. Rn. 57); NZV 2023, 414 (415 Rn. 46); VerfGH RP, Beschl. v. 27.10.2022 – VGH B 57/21, BeckRS 2022, 29859 (Rn. 33 f.)). Hieraus folgt allerdings nicht, dass dem Betroffenen nicht bei der Bußgeldakte befindliche Unterlagen, denen offensichtlich keine Bedeutung für dessen Verteidigung zukommt, zur Verfügung gestellt werden müssten. Anderenfalls bedürfte es des vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Erfordernisses einer „erkennbaren“ Relevanz für die Verteidigung nicht. Würde die Bejahung der Verteidigungsrelevanz ohne jedes inhaltliche Korrektiv der alleinigen Einschätzung des Betroffenen oder seines Verteidigers überlassen, wären Ausführungen zu einer – zumindest theoretischen – Aufklärungschance nicht erforderlich. Ein Überlassungsanspruch kann daher nur dann bestehen, wenn die Eignung der begehrten Information zur Aufdeckung eines Messfehlers jedenfalls nicht schlechthin ausgeschlossen ist (BGH, NZV 2022, 287 (288 Rn. 9); VerfGH RP, NStZ 2022, 236 (238 Rn. 46); Beschl. v. 27.10.2022 – VGH B 57/21, BeckRS 2022, 29859 (Rn. 33)).
Gemessen hieran hat der Betroffene keinen Anspruch auf Überlassung der Falldatensätze der gesamten Messreihe sowie der Statistikdatei. Die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) hat in einer öffentlich zugänglichen Stellungnahme vom 30.03.2020 plausibel und nicht auf ein bestimmtes Messgerät beschränkt erläutert, weshalb aus der Betrachtung der gesamten Messreihe sowie der Statistikdatei kein relevanter Erkenntnisgewinn zu erwarten ist (PTB, Der Erkenntniswert von Statistikdatei, gesamter Messreihe und Annulationsrate in der amtlichen Geschwindigkeitsüberwachung, Stand 30.03.2020, abrufbar unter: https://doi.org/10.7795/520.20200330). Diese Einschätzung hat die PTB in einer jüngeren Stellungnahme vom 13.12.2023 erneut bekräftigt und erläutert (PTB, Der Erkenntniswert von Statistikdatei, gesamter Messreihe und Annulationsrate in der amtlichen Geschwindigkeitsüberwachung, Stand 13.12.2023, abrufbar unter: https://doi.org/10.7795/520.20231214). Auf der Grundlage der überzeugenden Stellungnahmen der PTB ist demnach – jedenfalls nach derzeitigem Kenntnisstand – davon auszugehen, dass die Falldatensätze der gesamten Messreihe sowie die Statistikdatei keine (auch nur potentielle) Relevanz für die Verteidigung des Betroffenen haben.
Dieses Ergebnis entspricht auch der überwiegenden Auffassung in der obergerichtlichen Rechtsprechung (OLG Frankfurt a.M., NStZ-RR 2016, 320 (321 f.); BayObLG DAR 2021, 104 (106); OLG Koblenz ZfSch 2022, 289 (292 f.); OLG Zweibrücken, NZV 2022, 27 (29 Rn. 14) sowie Beschl. v. 02.06.2022 – 1 OWi 2 SsRs 19/21, BeckRS 2022, 15436 (Rn. 18); OLG Düsseldorf Beschl. v. 19.9.2022 – IV 4 RBs 118/22, BeckRS 2022, 45726 (Rn. 7 ff.); OLG Bremen, Beschl. v. 20.10.2023 – 1 ORbs 25/23, BeckRS 2023, 40005 (Rn. 36); OLG Oldenburg Beschl. v. 09.11.2023 – 2 ORbs 188/23 (785 Js 27970/23), BeckRS 2023, 31446 (Rn. 13 ff.); a.A. OLG Jena, NJ 2021, 217 (218 f.); OLG Stuttgart, NStZ-RR 2022, 60 (61); OLG Köln, Beschl. v. 30.05.2023 – 1 RBs 288/22, BeckRS 2023, 30556 (Rn. 25 ff.); offen gelassen durch BGH, NZV 2022, 287 f. sowie NStZ 2023, 619 ff.).
Die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 27.01.2025 (1 VB 173/21, veröffentlicht in BeckRS 2025, 604 (Rn. 38 ff.)) gibt zu einer anderweitigen Beurteilung keinen Anlass. Denn der Verfassungsgerichtshof hat in dieser Entscheidung lediglich beanstandet, dass das Tatgericht (in einem Beschluss nach § 62 OWiG) zunächst von einer Verteidigungsrelevanz der Falldatensätze der gesamten Messreihe ausgegangen war, aus der Nichtherausgabe derselben an den Verteidiger des Betroffenen durch die Verwaltungsbehörde jedoch – ohne explizite Aufgabe des zuvor vertretenen Rechtsstandpunkts – im weiteren Verfahrensverlauf keine Konsequenzen gezogen und den Betroffenen ungeachtet dessen wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung zu einer Geldbuße verurteilt hatte. In diesem Vorgehen hat der Verfassungsgerichtshof einen Verstoß gegen das Gebot der Gewährleistung eines fairen Verfahrens erblickt.
Soweit der Verfassungsgerichtshof in dem Beschluss ausführt, das Tatgericht habe durch seine Vorgehensweise den „Anspruch auf Zugang zu den im Zusammenhang mit dem festgestellten Geschwindigkeitsverstoß vorhandenen Informationen, auch wenn sich diese außerhalb der Verfahrensakte befinden“ missachtet, liegt darin nach Auffassung des Gerichts keine über den Einzelfall hinausgehende Entscheidung zur Verteidigungsrelevanz der Falldatensätze der gesamten Messreihe, zumal es sich dabei ohnehin um eine Tatfrage handelt (BGH, NZV 2022, 287 (288 Rn. 11)). Der Verfassungsgerichtshof hat in der Entscheidung auch ausdrücklich klargestellt, dass „nicht ausgeschlossen [ist], dass sich die Verteidigungsrelevanz der begehrten Informationen aufgrund künftiger Erkenntnisse anders darstellen kann“ (VerfGH BW, a.a.O. (Rn. 40 a.E.)). Für den Fall, dass der Verfassungsgerichtshof die Problematik der Verteidigungsrelevanz der gesamten Messreihe einer grundsätzlichen (verfassungsrechtlichen) Klärung hätte zuführen wollen, wäre zudem eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Argumentation der einen Zugangsanspruch verneinenden überwiegenden Auffassung in der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte (vgl. oben) sowie mit der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs Rheinland-Pfalz vom 27.10.2022 (VGH B 57/21) zu erwarten gewesen, der einen (aus der Verfassung folgenden) Anspruch auf Überlassung der Statistikdatei (sowie der sog. Case-List) mit inhaltlich auch auf die Frage der Verteidigungsrelevanz der Falldatensätze der gesamten Messreihe übertragbarer Argumentation abgelehnt hat (VerfGH RP, Beschl. v. 27.10.2022 – VGH B 57/21, BeckRS 2022, 29859 (Rn. 36 ff.)).
Selbst für den Fall, dass die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs Baden-Württemberg in dem Sinne zu verstehen sein sollte, dass nach dessen Auffassung (derzeit) ein unmittelbar aus der (Landes-) Verfassung folgender Anspruch auf Überlassung der Falldatensätze der gesamten Messreihe bestehen sollte, wäre das Gericht an diese Auffassung nicht gebunden. Es hält vielmehr an seiner zwischenzeitlich gefestigten Rechtsprechung fest, wonach eine (potentielle) Relevanz der Falldatensätze der gesamten Messreihe und der Statistikdatei für die Verteidigung eines Betroffenen – jedenfalls auf Grundlage der derzeitigen Erkenntnisse – auszuschließen ist. Hiervon abzugehen besteht weiterhin kein Anlass.
2.3 Der auf Herausgabe des Standort-Erstinbetriebnahmeprotokolls gerichtete Antrag geht ins Leere, denn die Gebrauchsanweisung für das verfahrensgegenständliche Messgerät (ES 3.0 im Stationärbetrieb) sieht die Erstellung eines solchen Protokolls nicht vor. Es ist gerichtsbekannt, dass aus diesem Grund zu der verfahrensgegenständlichen Messstelle auch tatsächlich kein solches existiert.
2.4 Der auf Herausgabe des Beschilderungsplans sowie des „Messfotos im originalen“ (womit die digitale Falldatei gemeint sein dürfte) gerichtete Antrag ist unbegründet, weil diese Unterlagen dem Verteidiger bereits zur Verfügung gestellt worden sind. Dem Verteidiger ist am 19.02.2025 von der Verwaltungsbehörde Einsicht in die Ermittlungsakte gewährt worden (Bl. 50 f. d.A.). Der Beschilderungsplan ist zu diesem Zeitpunkt bereits Aktenbestandteil gewesen (Bl. 17 d.A.). Die digitale Falldatei ist dem Verteidiger ebenfalls am 19.02.2025 ‒ zusammen mit der Ermittlungsakte ‒ zur Verfügung gestellt worden (Bl. 49 ff. und 68 d.A.).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 62 Abs. 2 Satz 2 OWiG i.V.m. § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.
Da angesichts der Antragsbegründung nicht davon auszugehen ist, dass der Verteidiger von der Antragstellung im Hinblick auf den erfolglosen Teil des Antrags abgesehen hätte, wenn die Entscheidung der Verwaltungsbehörde von vornherein dem Teilerfolg entsprochen hätte, ist es sachgerecht, ihm die Kosten des Antragsverfahrens aufzuerlegen (Euler, in: BeckOK-OWiG, 45. Ed. 01/2025, § 62 Rn. 31; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl. 2024, § 473 Rn. 26 m.w.N.)
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