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Entscheidungen

StPO

StrEG, Strafrechtsentschädigung, Strafaussetzung zur Bewährung, Teilvollstreckung nach Widerruf, Aufhebung des Widerrufsbeschlusses

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 28.08.2024 – 18 Qs 15/24

Leitsatz des Gerichts:

Wenn das Gericht die Aussetzung einer Strafe (§ 56 StGB) oder Maßregel (§ 67b StGB) oder eines Strafrestes (§ 57 StGB) oder des Maßregelvollzugs (§ 67 Abs. 2, § 67e StGB) widerruft, die Widerrufsentscheidung aber auf sofortige Beschwerde aufgehoben wird, gibt es für eine Teilvollstreckung zwischen Widerruf und Aufhebung keine Entschädigung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (StrEG).




In pp.

1. Die sofortige Beschwerde der Verurteilten gegen den Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 11.01.2024 wird als unbegründet verworfen.
2. Die Beschwerdeführerin hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

I.

Die Beschwerdeführerin wurde mit Urteil des Amtsgerichts Nürnberg vom 15.01.2020, rechtskräftig seit diesem Tag, Az.: 405 Ds 419 Js 65479/19, wegen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von 2 Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde (Bl. 1 ff.). Mit Beschluss vom selben Tag wurde die Frist zur Bewährung auf 3 Jahre von der Rechtskraft des Urteils an festgesetzt und der Angeklagten folgende Auflage erteilt: Die Angeklagte hat eine Zahlung in Höhe von 600,- € an [ ] oder 60 Stunden gemeinnützige Arbeit [ ] zu leisten (Bl. 4). In der Hauptverhandlung teilte die Angeklagte mit, dass sie an die Adresse B H umgezogen sei (vgl. hierzu Bl. 31). Seit dem 01.11.2019 war sie unter dieser Adresse gemeldet (Bl. 70).

Am 04.03.2020 teilte [ ] mit, die Verurteilte habe sich trotz zweimaliger Aufforderung nicht mit ihnen in Verbindung gesetzt, eine Zahlung sei ebenfalls nicht eingegangen (Bl. 8). Unter dem 07.04.2020 ging ein Schreiben des [ ] ein, wonach weder eine Zahlung eingegangen sei, noch sich die Verurteilte wegen Vermittlung in gemeinnützige Arbeit gemeldet habe. Diese sei am 04.03.2020 an ihre Auflage erinnert worden (Bl. 9).

Mit Verfügung vom 15.04.2020 wurde der Verurteilten mitgeteilt, dass beabsichtigt sei, die Strafaussetzung zur Bewährung aus dem Urteil vom 15.01.2020 zu widerrufen, da sie der Auflage nicht nachgekommen sei. Ihr wurde Gelegenheit zu einer mündlichen Anhörung am 08.05.2020, 08:40 Uhr oder zur schriftlichen Äußerung bis 04.05.2020 gegeben (Bl. 10). Das Schreiben wurde in die bulgarische Sprache übersetzt und der Verurteilten mittels Postzustellungsurkunde am 24.04.2020 durch Einlegung in den Briefkasten der Wohnung J N zugestellt.

Mit Verfügung vom 22.04.2020 beantragte die Staatsanwaltschaft N.-F., die Strafaussetzung zu widerrufen (Bl. 11).

Am 11.05.2020 erließ das Amtsgericht Nürnberg einen Beschluss, mit welchem die mit Urteil des Amtsgerichts Nürnberg am 15.01.2020 gewährte Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen und die Vollstreckung der festgesetzten Freiheitsstrafe angeordnet wurde (Bl. 12 f.). Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Verurteilte die ihr erteilten Auflagen gröblich und beharrlich nicht erfüllt habe, was Anlass zur Besorgnis der Begehung neuer Straftaten gebe. Sie habe den angesetzten Anhörungstermin unentschuldigt nicht wahrgenommen. Eine Verlängerung der Bewährungszeit oder eine Erweiterung der Auflagen würden nicht ausreichen. Dieser Beschluss wurde der Verurteilten am 20.05.2020 wiederum unter der Adresse J N zugestellt.

Am 16.06.2020 erhielt die Verurteilte die Ladung zum Strafantritt (Bl. 27). Am 19.06.2020 ging bei der Staatsanwaltschaft N.-F. ein auf den 18.06.2020 datiertes Schreiben der Verurteilten ein, in welchem diese der Entscheidung vom 11.05.2020 widersprach. Sie fügte hinzu, sie „habe in letzter Zeit keine Entscheidung per Post erhalten, Außer dass die Ausländeramt benachrichtigt“ werde. Mit Verfügung vom 24.06.2020 beantragte die Staatsanwaltschaft N.-F., im Hinblick auf dieses Schreiben, „die Beschwerde gegen den Beschluss vom 11.05.2020 als unzulässig zu verwerfen, soweit dort das Schreiben als Beschwerde gegen den Widerrufsbeschluss ausgelegt“ werde (Bl. 18.1). Am 26.06.2020 ging diese Verfügung mit Bewährungsheft bei dem Amtsgericht Nürnberg ein (Blatt 18). Mit Verfügung vom 29.06.2020, formlos hinausgegeben am gleichen Tage, gewährte das Amtsgericht der Verurteilten Gelegenheit zur Stellungnahme zum Antrag der Staatsanwaltschaft bis spätestens 10.07.2020 unter Hinweis darauf, die Beschwerde sei unzulässig (Bl. 18). Am 29.06.2020 stellte sich die Verurteilte und trat die Strafhaft in der JVA [ ] an (Bl. 21 und 77).

Unter dem 02.07.2020 ging per Fax eine Verteidigungsanzeige des Rechtsanwaltes [ ] ein, mit welcher er Rechtsmittel gegen alle Entscheidungen im Zusammenhang mit dem Widerruf der Strafaussetzung einlegte und sowohl Wiedereinsetzung in den vorigen Stand als auch Vollstreckungsaufschub beantragte (Bl. 19 f.). Die Verurteilte sitze seit dem 29.06.2020 in der JVA [ ] ein. Die Verurteilte sei seit dem 01.11.2019 mit alleinigem Wohnsitz in der B H gemeldet, was dem Gericht in der Hauptverhandlung auch mitgeteilt worden sei. Entsprechend sei auch die Gerichtskostenrechnung vom 03.02.2020 an die Anschrift der Verurteilten in B H gesendet worden. Die Vorsitzende ordnete mit Verfügung vom 03.07.2020 an, dieses Fax möge ihr mit der Akte vorgelegt werden (Bl. 20 Rückseite).

Mit Schriftsatz vom 05.07.2020 beantragte der Verteidiger Wiedereinsetzung in die Beschwerdefrist gegen den Beschluss vom 11.05.2020, legte Beschwerde gegen diesen ein und beantragte Vollstreckungsaufschub bzw. Aussetzung der Vollstreckung (Bl. 23 f.). Mit Verfügung vom 06.07.2020 gewährte das Amtsgericht dem Verteidiger Akteneinsicht (Bl. 20 R).

Am 13.07.2020 teilte der Verteidiger dem Amtsgericht telefonisch mit, die Verurteilte befinde sich in Haft. Am 14.07.2020 gelangte die Akte vom Verteidiger bei dem Amtsgericht in Rücklauf (Bl. 26).

Das Amtsgericht Nürnberg erließ nach mündlicher Anhörung der Staatsanwaltschaft N.-F. (Bl. 32) am 15.07.2020 einen Beschluss, mit dem der Verurteilten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt und der Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 11.05.2020 auf die Beschwerde hin aufgehoben wurde (Bl. 30 f.). Begründet wurde dies damit, dass der Widerrufsbeschluss der Verurteilten nicht unter ihrer Meldeadresse zugestellt worden sei. Das Schreiben sei sowohl als Antrag auf Wiedereinsetzung als auch als Beschwerde gegen den Widerrufsbeschluss vom 11.05.2020 auszulegen. „Auf die sofortige Beschwerde der Verurteilten“ sei der Widerrufsbeschluss aufzuheben, da eine ordnungsgemäße Anhörung der Verurteilten zum beabsichtigten Widerruf nicht erfolgt sei. Die Ladung zum Anhörungstermin sei nicht an ihre Meldeadresse gegangen. Am 15.07.2020 wurde die Verurteilte aus der Haft entlassen (Bl. 77). Der Rechtskraftvermerk auf dem Beschluss vom 11.05.2020 wurde am 05.08.2020 gestrichen (Bl. 12).

Unter dem 15.07.2020 beantragte der Verteidiger festzustellen, dass die Verurteilte für die Strafhaft vom 29.06.2020 bis 15.07.2020 aus der Staatskasse zu entschädigen sei, da diese sich aufgrund eines nicht wirksam zugestellten Bewährungswiderrufs für 17 Tage in Strafhaft befunden habe und deshalb gemäß §§ 1, 2 StrEG Anspruch auf Entschädigung bestehe (Bl. 33).

Unter dem 20.07.2020 beantragte die Staatsanwaltschaft N.-F., die Bewährungsauflage entfallen zu lassen (Bl. 32 R).

Mit Verfügung vom 23.07.2020 teilte das Amtsgericht dem Verteidiger mit, dass beabsichtigt sei, aufgrund der Strafhaft die Geld- bzw. Arbeitsauflage aus dem Beschluss vom 15.01.2020 entfallen zu lassen, und fragte an, ob der Antrag vom 15.07.2020 aufrechterhalten werde (Bl. 33 R).

Der Verteidiger erklärte mit Schriftsatz vom 31.07.2020 sein Einverständnis mit der Aufhebung der Geld- bzw. Arbeitsauflage und hielt an seinem Antrag auf Entschädigung fest (Bl. 37).

Das Amtsgericht erteilte unter dem 06.08.2020 einen Hinweis an den Verteidiger, dass ein Anspruch nach den §§ 1, 2 StrEG nicht bestehe (Bl. 37 R).

Mit Verfügung vom 10.08.2020 stellte die Staatsanwaltschaft N.-F. den Antrag, den Antrag vom 15.07.2020 zu verwerfen, da Ansprüche auf §§ 1, 2 StrEG nicht bestünden (Bl. 38).

Am 14.08.2020 lehnte das Amtsgericht Nürnberg den Antrag der Verurteilten, festzustellen, dass diese für die Strafhaft vom 29.06.2020 bis 15.07.2020 zu entschädigen ist, im Beschlusswege ab (Bl. 39). Zur Begründung führte das Amtsgericht aus, dass die Verurteilte weder durch eine strafrechtliche Verurteilung, § 1 StrEG, noch durch eine andere Strafverfolgungsmaßnahme, die abschließend in § 2 StrEG geregelt seien, einen Schaden erlitten habe. Der Beschluss wurde dem Verteidiger gegen Empfangsbekenntnis am 20.08.2020 zugestellt.

Hiergegen legte der Verteidiger mit Schriftsatz vom 20.08.2020, bei Gericht eingegangen am 20.08.2020, sofortige Beschwerde ein und begründete diese damit, dass der Beschluss unzureichend begründet sei und die Voraussetzungen der §§ 1, 2 StrEG vorlägen (Bl. 41 f.).

Mit Beschluss vom 07.09.2020 hob das Landgericht Nürnberg-Fürth den Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 14.08.2020 auf (Bl. 45 ff.). Zur Begründung führte es aus, dass eine Entschädigungsentscheidung erst dann getroffen werden könne, wenn über den Erlass der Strafe und damit auch abschließend über die sachliche Berechtigung der Vollstreckung befunden werde. Die Kammer wies darauf hin, das Amtsgericht habe über den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung zu entscheiden. Mit Verfügung vom 18.09.2020 wurde dieser zurückgenommen (Bl. 50 R).

Mit Verfügung vom 05.10.2020 nahm die Staatsanwaltschaft N.-F. den Antrag vom 20.07.2020 zurück, die Bewährungsauflage entfallen zu lassen (Bl. 51). Zwischen dem 14.10.2020 (Bl. 52) und dem 10.11.2020 (Bl. 62) zahlte die Verurteilte die Bewährungsauflage in Höhe von € 600.

Mit Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 15.02.2023 wurde der Verurteilten die Strafe gem. § 56g Abs. 1 StGB erlassen (Bl. 64).

Mit Schriftsatz vom 26.09.2023 bat der Verteidiger um Entscheidung über den Entschädigungsantrag vom 15.07.2020 (Bl. 39-2). Mit Verfügung vom 18.10.2023 beantragte die Staatsanwaltschaft N.-F., den Antrag der Verurteilten auf Entschädigung abzulehnen (Bl. 49-2). Mit Verfügung vom 23.10.2023 übersandte das Amtsgericht Nürnberg die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft vom 18.10.2023 an den Verteidiger mit der Anregung, den Antrag vom 26.09.2023 zurückzunehmen (Bl. 49-2 Rs.). Mit Schriftsatz vom 26.10.2023 teilte der Verteidiger mit, dass der Entschädigungsantrag nicht zurückgenommen werde (Bl. 50-2). Mit Schriftsatz vom 08.12.2023 fragte er nach dem Sachstand (Bl. 52-2).

Mit Beschluss vom 11.01.2024 lehnte das Amtsgericht Nürnberg den Antrag der Verurteilten vom 15.07.2020, festzustellen, dass diese für die Strafhaft vom 29.06.2020 bis 15.07.2020 zu entschädigen sei, ab (Bl. 54-2 f.). Die Begründung hierfür lautete wie im Beschluss vom 14.08.2020. Der Beschluss wurde dem Verteidiger am 16.01.2024 zugestellt.

Mit Schriftsatz vom 23.01.2024, eingegangen am gleichen Tage, legte der Verteidiger gegen den Beschluss vom 11.01.2024 sofortige Beschwerde ein und verwies zur Begründung auf seine vorangegangenen Schriftsätze (Bl. 62-2). Die §§ 1, 2 StrEG seien auf die vorliegende Sachverhaltskonstellation entsprechend anzuwenden.

Unter dem 27.02.2024 legte die Staatsanwaltschaft N.-F. die Akten dem Beschwerdegericht mit dem Antrag vor, die sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts Nürnberg vom 11.01.2024 zu verwerfen (Bl. 64-2).

II.

Die sofortige Beschwerde ist zulässig, aber unbegründet.

1. Die sofortige Beschwerde ist gemäß §§ 8 Abs. 3 Satz 1 StrEG, 311 StPO statthaft und innerhalb der Frist des § 311 Abs. 2 StPO eingelegt.

2. Die sofortige Beschwerde ist unbegründet.

Wer durch eine strafgerichtliche Verurteilung einen Schaden erlitten hat, wird aus der Staatskasse entschädigt, soweit die Verurteilung im Wiederaufnahmeverfahren oder sonst, nachdem sie rechtskräftig geworden ist, in einem Strafverfahren fortfällt oder gemildert wird, § 1 Abs. 1 StrEG. Unter dem Begriff der Verurteilung ist jede rechtsförmliche Feststellung einer strafrechtlichen Schuld zu verstehen (BeckOK StPO/Cornelius, 52. Ed. 1.7.2024, StrEG § 1 Rn. 1 m.w.N.).

a) Wenn das Gericht die Aussetzung einer Strafe (§ 56 StGB) oder Maßregel (§ 67b StGB) oder eines Strafrestes (§ 57 StGB) oder des Maßregelvollzugs (§ 67 Abs. 2, § 67e StGB) widerruft, die Widerrufsentscheidung aber auf sofortige Beschwerde aufgehoben wird, gibt es für eine Teilvollstreckung zwischen Widerruf und Aufhebung nach ganz herrschender Meinung keine Entschädigung nach dem StrEG (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 11.02.1993 – 1 Ws 92-93/93; LG Karlsruhe, Beschluss vom 23. Oktober 2023 – 11 O 19/23; MüKoStPO/Kunz, 1. Aufl. 2018, StrEG § 1 Rn. 29; Kunz, StrEG, 4. Auflage 2010, § 1 Rn. 29; a. A. OLG Köln, Beschluss vom 23. August 2002 – 2 Ws 372/02). Für Maßnahmen im Bereich der Strafvollstreckung kann nach den Regelungen des StrEG keine Entschädigung verlangt werden (vgl. KG, Beschluss vom 25. Februar 2005 – 5 Ws 67/05; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 5. Juni 1981 – 3 Ws 261/81; Meyer, StrEG, 10. Auflage 2017, § 1 Rn. 15, 15a). Die nachträglichen gerichtlichen Entscheidungen ergehen vielmehr im Rahmen der kriminalpolitischen Zielsetzungen, die das materielle Strafrecht mit dem Bewährungssystem verfolgt. Sie betreffen allein die Vollstreckung, nicht das Urteil (vgl. MüKoStPO/Kunz, 1. Aufl. 2018, StrEG § 1 Rn. 27). Während die Entschädigungspflicht des Staates nach § 1 StrEG voraussetzt, dass eine rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilung später in einem Strafverfahren wegfällt oder gemildert wird, zielt § 2 StrEG auf solche Fälle ab, in denen es trotz vorläufiger Strafverfolgungsmaßnahmen erst gar nicht zu einer Verurteilung gekommen ist. Beide Voraussetzungen liegen bei der Vollstreckung des rechtskräftigen Urteils nicht vor. Das gilt auch dann, wenn das der Strafvollstreckung entgegenstehende Hindernis der Strafaussetzung durch deren Widerruf beseitigt wird. Auch in diesem Fall handelt es sich um die Vollstreckung des rechtskräftigen auf Freiheitsstrafe lautenden Urteils, das weder durch den Widerruf der Strafaussetzung noch durch die Aufhebung dieses Widerrufs in seinem materiellen Inhalt berührt wird. Hinzukommt, dass § 2 StrEG abschließend aufzählt, welche Strafverfolgungsmaßnahmen zu einer Entschädigungspflicht des Staates führen. Die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe nach rechtskräftigem Widerruf der Strafaussetzung bis zu dessen späteren Wegfall zählt nicht dazu (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 11.02.1993 – 1 Ws 92-93/93; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 05.06.1981 – 3 Ws 261/81 für Sicherungshaftbefehl).

b) aa) Die Kammer hat diese Frage in ihrer Entscheidung vom 07.09.2020 (18 Qs 45/20) mangels Entscheidungserheblichkeit noch dahinstehen lassen (Bl. 48), schließt sich der herrschenden Meinung mit deren zutreffenden Argumenten aber an. § 1 Abs. 1 StrEG spricht ausdrücklich von einer strafgerichtlichen Verurteilung als schadenstiftendem Ereignis. Ein Beschluss über den Widerruf der Strafaussetzung nach den §§ 56f StGB; 453 StPO stellt aber kein Urteil im Sinne der §§ 260, 267, 268, 275 StPO und auch nicht einen diesem gleichstehenden (§ 410 Abs. 3 StPO) Strafbefehl dar.

bb) Der – umstrittene – Ansatz, § 1 Abs. 1 StrEG umfasse auch Fälle der Wiedereinsetzung und Rechtskraftdurchbrechung, rechtfertigt keine andere Betrachtung.
(A) Vertreten wird, von § 1 Abs. 1 StrEG würden alle Fälle umfasst, in denen die Rechtskraft nachträglich durchbrochen werde, weil das Gebot materieller Gerechtigkeit der Rechtskraftwirkung vorgehe (MüKoStPO/Kunz, 1. Aufl. 2018, StrEG § 1 Rn. 2). Auch bei einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei der Regelungsbereich von § 1 StrEG eröffnet (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, 66. Aufl. 2023, StrEG § 1 Rn. 2; BeckOK StPO/Cornelius, 52. Ed. 1.7.2024, StrEG § 1 Rn. 6.1; MüKoStPO/Kunz, 1. Aufl. 2018, StrEG § 1 Rn. 21; BayObLG, Beschluss vom 26. Februar 1986, RReg. 4 St 256/85; aA: Meyer, StrEG, 10. Auflage 2017, § 1 Rn. 11). Dafür, dass auch die Wiedereinsetzung in diesem Sinne umfasst sei, sprächen sowohl der Wortlaut von § 1 Abs. 1 StrEG, als auch der Sinn und Zweck des Gesetzes, den Ausgleich eines nicht gerechtfertigten Sonderopfers zu ermöglichen. Dem Beschuldigten, der einer durch das Verfahrensergebnis nicht gedeckten Strafverfolgungsmaßnahme ausgesetzt sei, werde im Allgemeininteresse, nämlich aus Gründen der Strafrechtspflege, ein Sonderopfer auferlegt. Dem Ausgleich der hierdurch verursachten Schäden diene die im StrEG normierte Staatshaftung. Hinsichtlich des dem Verurteilten auferlegten Sonderopfers bedeute es keinen Unterschied, ob die rechtskräftige Strafe nach Wiederaufnahme oder nach Wiedereinsetzung gemildert worden sei (BayObLG, Beschluss vom 26. Februar 1986, RReg. 4 St 256/85).

(B) (I) Bei rechtlich zutreffender Würdigung der Sach- und Rechtslage lag – entgegen der Annahme des Amtsgerichts im Beschluss vom 15.07.2020 (Bl. 30) – bereits kein Fall der Wiedereinsetzung und Rechtskraftdurchbrechung in diesem Sinne vor, weil bezogen auf den Beschluss vom 11.05.2020 (Bl. 12 ff.) und das Schreiben der Verurteilten vom 18.06.2020 (Bl. 17) keine Frist versäumt wurde (§ 44 StPO).

(1) Die Zustellung an die Verurteilte setzte die Beschwerdefrist des § 311 Abs. 2 1. Hs. StPO nicht in Lauf. Gemäß den §§ 37 Abs. 1 StPO, 180 Satz 1 ZPO kann ein Schriftstück in einen zu der Wohnung oder dem Geschäftsraum gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung eingelegt werden, die der Adressat für den Postempfang eingerichtet hat und die in der allgemein üblichen Art für eine sichere Aufbewahrung geeignet ist. Wohnt der Adressat nicht unter der Anschrift, liegen die Voraussetzungen der Ersatzzustellung nach den §§ 37 Abs. 1 StPO, 180 Satz 1 ZPO nicht vor und die Zustellung ist unwirksam (MüKoStPO/Valerius, 2. Aufl. 2023, StPO § 37 Rn. 61; KK-StPO/Schneider-Glockzin, 9. Aufl. 2023, StPO § 37 Rn. 26; BeckOK StPO/Larcher, 52. Ed. 1.7.2024, StPO § 37 Rn. 41). Ob eine Wohnung am Übergabeort existiert, richtet sich nicht danach, ob der Zustellungsempfänger tatsächlich an der angegebenen Anschrift wohnt und dort schläft, d. h. eine Wohnung des Adressaten an dem Ort, an dem zugestellt werden soll, i.S.d. Zustellvorschriften der §§ 178 ff. ZPO tatsächlich existiert und von dem Adressaten als Lebensmittelpunkt genutzt wird (OLG Hamm, Beschluss vom 13.04.2021 – III-5 Ws 102/21 und 103/21; AG Landstuhl, Beschluss vom 05.05.2021 – 2 OWi 4211 Js 90/21). Die Eigenschaft als Wohnung geht verloren, wenn sich während der Abwesenheit des Zustellungsempfängers auch der räumliche Mittelpunkt seines Lebens an einen neuen Aufenthaltsort verlagert (Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 05.12.2007 – 1 Ss 262/07). Die Zustellungsurkunde erbringt gemäß den §§ 37 Abs. 1 StPO, 418 Abs. 1 ZPO grundsätzlich vollen Beweis für die in ihr bezeugten Tatsache der Zustellung. Nach § 418 Abs. 2 ZPO ist jedoch der Beweis der Unrichtigkeit der bezeugten Tatsache zulässig. Dies erfordert die volle Überzeugung des Gerichts von der Unrichtigkeit der in der öffentlichen Urkunde bezeugten Tatsache (Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 14.05.2007 – 1 Ws 97/07). Die Erklärung des Zustellers, dass die Übergabe des Schriftstücks unter der Anschrift, in der der Betroffene wohnt, nicht möglich gewesen sei, ist ein beweiskräftiges Indiz dafür, dass der Adressat am Tag der Zustellung unter der Zustellungsanschrift gewohnt hat. Diese Indizwirkung der Ersatzzustellung und ihrer Beurkundung kann durch eine plausible und schlüssige Darstellung entkräftet werden, wobei das bloße Bestreiten, d. h. die schlichte Behauptung, unter der Zustellungsanschrift nicht zu wohnen, nicht genügt (KG Berlin, Beschluss vom 27.06.2019 – 5 Ws 61/19; OLG Hamm, Beschluss vom 12.11.2015 – III-3 Ws 379/15).

(2) Die Voraussetzungen der Ersatzzustellung nach den §§ 37 Abs. 1 StPO, 180 Satz 1 ZPO lagen nicht vor und die Zustellung war unwirksam. Weil die Beschwerdefrist des § 311 Abs. 2 1. Hs. StPO nicht in Lauf gesetzt wurde, versäumte die Verurteilte diese auch nicht und Anlass für eine Wiedereinsetzung bestand nicht. Tatsächlich hatte die Verurteilte bereits vor Erlass des Beschlusses (11.05.2020) am 01.11.2019 ihren Wohnsitz gewechselt und dieses dem Amtsgericht auch in der Hauptverhandlung vom 15.01.2020 mitgeteilt (Blatt 27). Während der Staatsanwaltschaft N.-F. ihre neue Anschrift offensichtlich bekannt war (anderenfalls ihr die Ladung zum Strafantritt nicht hätte zugestellt werden können), übernahm das Amtsgericht Nürnberg den Wohnungswechsel nicht in die Datenverarbeitung.

(3) Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass die – nach Anhörung der Staatsanwaltschaft (Bl. 32) – ergangene (weil nicht eigeninitiativ erlassen wirksame – vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 30.08.2022 – 3 Ws 319/22; OLG Hamm, Beschluss vom 10.06.2021 – III-4 Ws 85/21, III-4 Ws 104/21, 4 Ws 85/21, 4 Ws 104/21; a. A. wohl OLG Hamm, Beschluss vom 22.02.2017 – III-1 Ws 24/17, 1 Ws 24/17) Entscheidung des Amtsgerichts vom 11.05.2020 (Blatt 30) rechtlich nicht bedenkenfrei ist: Über den Antrag auf Wiedereinsetzung entscheidet das Gericht, das bei rechtzeitiger Handlung zur Entscheidung in der Sache selbst berufen gewesen wäre (§ 46 Abs. 1 StPO). Wird eine Rechtsmittelfrist versäumt, entscheidet das Rechtsmittelgericht (vgl. MüKoStPO/Valerius, 2. Aufl. 2023, StPO § 46 Rn. 2). Über die Wiedereinsetzung in die Frist für die sofortige Beschwerde nach § 311 Abs. 2 1. Hs. StPO hätte das Land- und nicht das Amtsgericht entscheiden müssen. Außerdem ist das Gericht zu einer Abänderung seiner durch Beschwerde angefochtenen Entscheidung nicht befugt (§ 311 Abs. 3 Satz 1 StPO). Der Sache nach änderte das Amtsgericht hier aber entgegen dieser Regelung seine Entscheidung selbst ab. Zuvor hatte das Amtsgericht – im Übrigen auf Antrag der Staatsanwaltschaft – offenbar die Absicht gehabt, die (sofortige) Beschwerde selbst zu verwerfen (Blatt 18). Zu einer Verwerfung der Beschwerde ist der Erstrichter aber ebenfalls nicht befugt (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Dezember 2010 – 2 ARs 289/10; KK-StPO/Zabeck, 9. Aufl. 2023, StPO § 306 Rn. 16; BeckOK StPO/Cirener, 52. Ed. 1.7.2024, StPO § 306 Rn. 15; MüKoStPO/Neuheuser, 2. Aufl. 2024, StPO § 306 Rn. 16).

(II) Von den Fällen, in denen – wie hier – Entscheidungen auf sofortige Beschwerde hin aufgehoben werden, unterscheidet sich die Wiedereinsetzung aber vor allem dadurch, dass der zugrundeliegende Titel in Wegfall gerät (vgl. MüKoStPO/Kunz, 1. Aufl. 2018, StrEG § 1 Rn. 21). In dem der vorgenannten Entscheidung des BayObLG (Beschluss vom 26. Februar 1986, RReg. 4 St 256/85) zugrundeliegenden Fall wurde der Angeklagte, der in dieser Sache auf Grund eines zunächst rechtskräftig gewordenen Strafbefehls bereits 180 Tage Ersatzfreiheitsstrafe verbüßt hatte, letztlich zur Geldstrafe von 60 Tagessätzen verurteilt. Nach Wiedereinsetzung und erneuter Hauptverhandlung wurde die im Strafbefehl (§ 410 Abs. 3 StPO) ausgesprochene Strafe gemildert. So liegt es hier aber nicht: Die durch das Amtsgericht (rechtlich nicht bedenkenfrei) gewährte Wiedereinsetzung berührte das Urteil vom 15.01.2020 als Vollstreckungstitel (§§ 449, 451 StPO) nicht, sondern lediglich den Widerrufsbeschluss vom 11.05.2020.

3. Soweit nach alledem eine Entschädigung nach dem StrEG auszuscheiden hat, kann hierdurch entstehenden Unbilligkeiten durch eventuelle Ansprüche aus Amtshaftung oder nach Art. 5 Abs. 5 EMRK Rechnung getragen werden (vgl. Meyer, StrEG, 10. Auflage 2017, § 1 Rn. 12).

III. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 473 Abs. 1 StPO.


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