Gericht / Entscheidungsdatum: LG Hannover, Beschl. v. 05.02.2025 - 101 Qs 7/25
Eigener Leitsatz:
1. Wenn der Beschuldigte vor der Verfahrenseinstellung die Beiordnung eines Verteidigers beantragt hat, die Voraussetzungen der Bestellung vorlagen und die rechtzeitige Bescheidung aus rein justizinternen Gründen unterblieben ist, ist eine rückwirkende Pflichtverteidigerbeiordnung zulässig.
2. Eine Frist von zwei Wochen zwischen Eingang des Beiordnungsantrags bei der Polizei und dem Eingang bei der Staatsanwaltschaft ist zu lang.
Landgericht Hannover
Beschluss
22. große Strafkammer
101 Qs 7/25
In der Strafsache
gegen pp.
Verteidiger:
Rechtsanwalt
wegen räuberischen Diebstahls
hat die 22. große Strafkammer des Landgerichts Hannover am 5. Februar 2025 durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht, den Richter am Landgericht und die Richterin beschlossen:
Auf die sofortige Beschwerde des Beschuldigten wird der Beschluss des Amtsgerichts Hannover vom 10. Dezember 2024 (171 Gs 1893/24) aufgehoben.
Dem Beschuldigten wird Rechtsanwalt pp. als Verteidiger beigeordnet.
Die Landeskasse trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notendigen Auslagen des Beschuldigten.
Gründe:
I.
Die Staatsanwaltschaft Hannover führte gegen den Beschuldigten ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts einer räuberischen Erpressung aufgrund eines Geschehens am 5. September 2024. Nachdem er in einem Supermarkt von einer Angestellten auf einen mutmaßlichen Diebstahl angesprochen und ihm einer Tasche mit Tabakwaren abgenommen worden war, soll er die Angestellte geschubst haben, um wieder in Besitz der Tasche zu gelangen. Nach Identifikation des Beschuldigten als möglicher Täter übersandte die Polizeistation Altwarmbüchen diesem unter dem 12. September 2024 eine schriftliche Vorladung, auf der als Tatvorwurf räuberischer Diebstahl vermerkt war. Der Beschuldigte erschien laut Vermerk vom 30. September 2024 zum für diesen Tag vorgesehenen Termin nicht. Unter demselben Datum wurde der Vorgang der Staatsanwaltschaft Hannover übersandt, wo er am 8. Oktober 2024 einging. Zehn Tage danach wurde in den Akten vermerkt, dass ein Tatverdacht wegen räuberischen Diebstahls nicht vorliege, weil nicht ausgeschlossen werden könne, dass der Beschuldigte die Angestellte nur geschubst habe, um flüchten zu können. Soweit die Tat als Diebstahl und (versuchte) Nötigung angesehen werden könne, sei die Schuld als gering anzusehen. Danach wurde das Verfahren nach § 153 Abs. 1 StPO eingestellt.
Bereits am 24. September 2024 ging bei der Polizei unter der auf der schriftlichen Vorladung angegebenen Faxnummer ein Schreiben des Verteidigers ein, in dem dieser unter anderem im Namen des Beschuldigte seine Beiordnung als Verteidiger beantragte. Dieses wurde am 4. Oktober der Staatsanwaltschaft übersandt, wo es am 11. Oktober einging. Am 18. November wurde dieses Schreiben dem Amtsgericht zugeleitet, dass mit Beschluss vom 10. Dezember 2024 die beantragte Beiordnung abgelehnt hat. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde des Beschuldigten hat Erfolg.
1. Die sofortige Beschwerde ist nach § 142 Abs. 7 Satz 1 StPO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Sie ist fristgerecht (§ 311 Abs. 2 StPO) erhoben worden. Der Beschuldigte ist durch die angegriffene Entscheidung auch beschwert.
a) Dies ist der Fall, wenn die ergangene Entscheidung einen unmittelbaren Nachteil für den „Beschwerten" enthält, wenn seine Rechte und geschützten Interessen eine unmittelbare Beeinträchtigung erlitten haben (vgl. KK-StPO/Paul, 9. Aufl., vor § 296 Rn. 5 mwN). Dies muss sich grundsätzlich aus der Entscheidungs-formel, nicht nur aus den Gründen ergeben (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Oktober 2015 -1 StR 56/15, NStZ 2016, 560; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § Vor 296 Rn. 11). Die Beschwer muss auch zum Zeitpunkt der Entscheidung des Rechtsmittelgerichts vorliegen. Im Fall einer beantragten Verteidigerbeiordnung kann sie nach obergerichtlicher Rechtsprechung dadurch entfallen, dass das betroffene Ermittlungsverfahren endgültig eingestellt und damit eine Bestellung eines Verteidigers rechtlich unmöglich geworden ist (vgl. etwa OLG Frankfurt, Beschluss vom 21. Juli 2023 - 5a Ws 1/21, juris Rn. 9 f; OLG Hamburg, Beschluss vom 16. September 2020 - 2 Ws 112/20, juris Rn. 13 ff.). Grund hierfür ist der Umstand, dass die Beiordnung eines Pflichtverteidigers insoweit der prozessordnungsgemäßen Verfahrensführung dient, als dem Beschuldigten ein rechtskundiger Beistand gesichert werden soll. Dieser Zweck ließe sich durch eine rückwirkende Beiordnung eines Verteidigers nicht mehr erreichen. Anderen Zwecken, insbesondere dem Kosteninteresse des Beschuldigten oder des Verteidigers dient die Beiordnung hingegen grundsätzlich nicht (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 19. Dezember 1996 - 1 StR 76/96, BGHR StPO § 141). An diesen Grundsätzen hat sich auch nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Neureglung der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 nichts geändert (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 21. Juli 2023 - 5a Ws 1/21, juris Rn. 10).
Jedoch bedürfen diese Maßstäbe einer Einschränkung, wenn der Beschuldigte vor Verfahrenseinstellung die Beiordnung eines Verteidigers beantragt hat, die Voraussetzungen der Bestellung vorlagen und die rechtzeitige Bescheidung aus rein justizinternen Gründen unterblieben ist (vgl. OLG Nürnberg, Beschluss vom 6. November 2020 - Ws 962/20, juris Rn. 24; LG Karlsruhe, Beschluss vom 23. Januar 2024 - 4 Qs 56/23, juris Rn. 8). Denn für diesen Fall lässt sich die Ablehnung einer rückwirkenden Pflichtverteidigerbeiordnung vor dem Hintergrund von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2016/1919 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren (PKH-Richtlinie) nicht (mehr) rechtfertigen. Danach haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass Verdächtigen und beschuldigten Personen, die nicht über ausreichende Mittel zur Bezahlung eines Rechtsbeistands verfügen, Anspruch auf Prozesskostenhilfe haben, wenn es im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Die §§ 140 ff. StPO, die in ihrer aktuellen Fassung auch der Umsetzung der PKH-Richtlinie dienen, stellen zwar, wie Art. 4 Abs. 1 ausdrücklich zulässt, in erster Linie auf materielle Gesichtspunkt ab, nicht auf die Frage der Bedürftigkeit. Jedoch würde der Zweck der Richtlinie in Fällen wie dem vorliegenden vollständig unterlaufen werden, schiede eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung stets aus (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 67. Aufl. § 142 Rn. 20 mwN). Auch bliebe das Ansinnen des Gesetzgebers, die Beiordnung im Ermittlungsverfahren in erster Linie von einem Antrag des Beschuldigten abhängig zu machen, in der hier maßgeblichen Fallgruppe unberücksichtigt. Der Beschuldigte hätte keine Möglichkeit, die ihm von Gesetzes wegen zustehende Verteidigerbeiordnung zu erreichen, wenn die Justizbehörden trotz rechtzeitiger Antragsstellung untätig blieben. Zwar besteht nach Verfahrenseinstellung kein rechtliches Bedürfnis mehr für eine Verteidigung, doch würde der Beschuldigte jedenfalls faktisch dergestalt durch die verzögerte Sachbearbeitung belastet werden, dass er trotz Verfahrenseinstellung die Kosten seines Rechtsbeistandes selbst zu tragen hätte. Bei undifferenzierter Versagung einer Beiordnung nach Verfahrenseinstellung bestünde keinerlei Rechtsschutzmöglichkeit, obwohl gegen das im Interesse des Beschuldigten bestehende Gebot der unverzüglichen Entscheidung über einen rechtzeitig und begründeten Beiordnungs-antrag verstoßen wurde, das sich aus Art. 6 Abs. 1 der PKH-Richtlinie ergibt und durch § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO in nationales Recht umgesetzt wurde. Dies bedeutete, dass ein Beschuldigter in Ungewissheit über die nicht seinem Einfluss unterliegenden weitere Verfahrensweise entgegen der gesetzlichen Regelung im Ermittlungsverfahren in Fällen, in denen auf seinen Antrag zwingend ein Verteidiger zu bestellen wäre, stets damit rechnen müsste, dass die Beauftragung eines Verteidigers auch dann auf eigenes Kostenrisiko erfolgte, wenn das Ermittlungsverfahren später eingestellt würde. In Kenntnis dieser Rechtsfolge wäre gerade der unschuldige oder mit einer Verfahrenseinstellung aus Opportunitätsgründen rechnende Beschuldigte gehalten, von der Hinzuziehung eines Rechtsbeistandes abzusehen. Dies würde nicht nur der gesetzgeberischen Intention zuwiderlaufen, die Verteidigung des Beschuldigten auch schon in einem früheren Verfahrensstand als bislang zu gewährleisten (BT-Drucks. 19/13829, S. 3), sondern auch dem Gebot praktischer Wirksamkeit des europäischen Rechts widerstreiten (sog. effet utile, vgl. etwa EuGH, Urteil vom 24. Juli 2023 - C-107/23 PPU, juris Rn. 95 mwN). Die Verteidigerbestellung würde in Fällen wie dem vorliegenden weder von materiellen Voraussetzung noch von der Bedürftigkeit des Antragsstellers abhängen, sondern maßgeblich von der rechtzeitigen Bescheidung eines Antrages. Dies entspricht nicht dem Regelungskonzept der PKH-Richtlinie.
c) Nach diesen Maßstäben liegt eine Beschwer des Beschuldigten auch nach Abschluss des Ermittlungsverfahrens vor. Der Beiordnungsantrag wurde rechtzeitig noch vor dem in der Vorladung genannten Termin gestellt. Er wurde zur korrekten Tagebuchnummer unter der im Vorladungsschreiben genannten Faxnummer eingereicht. Anderweitig konnte der Antrag zu jenem Zeitpunkt nicht angebracht werden, weil dem Beschuldigten ein staatsanwaltschaftliches Aktenzeichen nicht nur unbekannt war, sondern mangels Übersendung des Vorgangs noch gar nicht vorhanden war. Eine Antragsstellung gegenüber der Staatsanwaltschaft oder beim zuständigen Gericht hätte danach zu weiteren Verzögerungen geführt. Bereits im genannten Schriftsatz drängte der Verteidiger des Beschuldigten auf eine Weiterleitung binnen einer Woche. Weitere Vorkehrungen zur zügigen Bearbeitung musste er nicht treffen. Aus welchen Gründen das Schreiben gleichwohl erst über eine Woche später an die Staatsanwaltschaft übersandt wurde und eine weitere Woche danach dort einging, ist nicht erkennbar. Die Kammer kann aber ausschließen, dass dies auf einem Versäumnis des Beschuldigten beruht.
Die Voraussetzungen der Pflichtverteidigerbestellung lagen nach § 140 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2 StPO vor. Zum Zeitpunkt der Antragsstellung musste der Beschuldigte damit rechnen, dass das Verfahren im ersten Rechtszug vor dem Schöffengericht stattfinden wird, weil ausweislich des Vorladungsschreibens gegen ihn wegen des Verdachts des räuberischen Diebstahls und damit wegen eines Verbrechens ermittelt wurde. Danach wäre im Falle der Anklageerhebung nach §§ 24, 25, 28 GVG die Zuständigkeit des Schöffengerichts eröffnet gewesen. Dem Antrag wäre danach gemäß § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO zu entsprechen gewesen. Dem Beschuldigten ist der Tatvorwurf durch das polizeiliche Schreiben eröffnet worden und er hat einen ausdrücklichen Antrag gestellt. Dass er zum Zeitpunkt einen Wahlverteidiger hatte, steht einer Beiordnung nicht entgegen, weil dieser die Niederlegung seines Wahlmandates angekündigt hat (vgl. KK-StPO/Willnow, 9. Aufl., § 141 Rn. 4). Unbeachtlich ist schließlich, dass der Beschuldigte noch nicht belehrt worden ist; dieses Belehrungs-erfordernis dient der Information über seine Rechte und nicht dazu, dessen Antrags-möglichkeiten in zeitlicher Hinsicht zu verkürzen.
2. Aus den vorgenannten Gründen ist das Rechtsmittel des Beschuldigten auch begründet.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von § 467 Abs. 1 StPO.
Einsender: RA J. R. Funk, Braunschweig
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