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Entscheidungen

StPO

Pflichtverteidiger, rückwirkende Bestellung, Eröffnung des Tatvorwurfs, Akteneinsicht an den Beschuldigten

Gericht / Entscheidungsdatum: LG Stuttgart, Beschl. v. 17.01.2025 - 3 Qs 3/24

Eigener Leitsatz:

1. Die Eröffnung des Tatvorwurfs an den Beschuldigten setzt einen förmlichen Akt der Strafverfolgungsbehörden voraus, es genüg nicht, dass der Betroffene auf sonstige Art und Weise von einem Tatverdacht Kenntnis erhält. Regelmäßig wird der Verfolgungswille der Staatsanwaltschaft im Sinn von § 141 Abs. 1 S. 1 StPO durch die förmliche Bekanntgabe des Ermittlungsverfahrens manifestiert.
2. Zur Frage, ob und wann in der Gewährung von Akteneinsicht an den Verteidiger die Eröffnung des Tatvorwurfs an den Beschuldigten zu sehen ist.


3 Qs 3/24

Landgericht Stuttgart

3. Große Strafkammer

Beschluss
vom 17. Januar 2025

in dem Ermittlungsverfahren gegen

wegen versuchten Diebstahls

Die Beschwerde des Beschuldigten gegen den Beschluss des Amtsgerichts Stuttgart vom 31.01.2024 (Gz.: 213 Gs 900/24) wird als unbegründet verworfen.

Von der Auferlegung von Kosten und Auslagen auf den Beschuldigten im Beschwerdeverfahren wird abgesehen.

Gründe:

Gegen den ehemaligen Beschuldigten und drei weitere Beschuldigte wurde ein Ermittlungsverfahren wegen eines am 17.03.2023 in 73660 Urbach begangenen versuchten Privatwohnungseinbruchsdiebstahls gemäß §§ 244 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 4, 22, 23 Abs. 1 StGB geführt. Der ehemalige Beschuldigte, der von Beginn des Ermittlungsverfahrens an unbekannten Aufenthalts war, war in Verdacht geraten, weil im Fluchtfahrzeug eines Mitbeschuldigten der serbische Reisepass des ehemaligen Beschuldigten aufgefunden wurde. Eine im Rahmen eines Personenfeststellungsverfahrens durchgeführte SIENA-Anfrage vom 21.03.2023 ergab nach Ergebnismitteilung der serbischen Behörden vom 05.04.2023 eine Identifizierung eines serbischen Staatsangehörigen unter den genannten Personalien mit dem Geburtsnamen M. auf den der genannte Reisepass Nr. pp. am 02.02.2023 ausgestellt wurde. Weiter wurde mitgeteilt, dass diese Person letztmalig am 07.01.2023 aus Kroatien in der EU nach Serbien eingereist und letztmals am 24.02.2023 von Serbien nach Rumänien in die EU ausgereist war. Im Übrigen war der ehemalige Beschuldigte durch das Ausländeramt Köln bereits seit 03.08.2020 wegen eines Verstoßes gegen das Aufenthaltsgesetz zur Aufenthaltsermittlung ausgeschrieben. Eine am 29.03.2023 in Auftrag gegebene Untersuchung des aufgefundenen serbischen Reisepasses beim Krimimaltechnischen Institut des Landeskriminalamts Baden-Württemberg ergab nach dem Bericht vom 04.04.2023 eine Bewertung des Dokuments als echt. Einer Anregung auf Beantragung eines Haftbefehls gegen den ehemaligen Beschuldigten durch die Kriminalpolizei Waiblingen vom 27.03.2023 kam die Staatsanwaltschaft Stuttgart wegen eines nicht als vorliegend erachteten dringenden Tatverdachts nicht nach. Mit Abschlussverfügung bezüglich aller Beschuldigten vom 09.01.2024 stellte die Staatsanwaltschaft Stuttgart das Ermittlungsverfahren gegen den ehemaligen Beschuldigten mangels hinreichenden Tatverdachts gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein. In der Begründung wurde insbesondere aufgeführt, dass nicht hätte geklärt werden können, wie der Reisepass in das Fluchtfahrzeug gelangt sei. Auf den sichergestellten Werkzeugen hätten auch keine daktyloskopischen und/oder DNA-Spuren aufgefunden werden können, die zu einer Überführung des ehemaligen Beschuldigten hätten führen können.

Rechtsanwalt Pp. beantragte - erstmals - mit an die Staatsanwaltschaft Stuttgart gerichtetem Schriftsatz vom 28.03.2023, ihn dem damaligen Beschuldigten als Pflichtverteidiger beizuordnen, wobei er darauf hinwies, dass ihm die Familie seines Mandanten ausgerichtet habe, dass dieser dies möchte, ihm Akteneinsicht zu gewähren und ihm eine Besuchserlaubnis zu erteilen; dies wiederholte er mit Schriftsatz vom 21.04.2023. Bereits zuvor hatten sich am 18., 19. und 20.03.2023 mehrfach Rechtsanwälte bzw. Rechtsanwältinnen beim Polizeirevier Schorndorf gemeldet und erkundigt, ob der damalige Beschuldigte am 17,03.2023 vorläufig festgenommen worden sei. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart teilte Rechtsanwalt Pp. mit Schreiben vom 26.04.2023 mit, es werde derzeit kein Anlass für einen Beiordnungsantrag gesehen, und eine Besuchserlaubnis könne nicht erteilt werden, da der damalige Beschuldigte nicht in Haft sei; Akteneinsicht werde aufgrund der laufenden Ermittlungen nicht gewährt, jedoch vorgemerkt. Mit Schriftsatz vom 05.05.2023 bestand Rechtsanwalt Pp. mit ausführlicher Begründung auf der Gewährung von Akteneinsicht. Er teilte insoweit auch mit, dass der damalige Beschuldigte von den gegen ihn geführten Ermittlungen Kenntnis habe und auch davon ausgehe, dass ein Haftbefehl gegen ihn bestehe. Am 07.06.2023 beantragte Rechtsanwalt Pp. erneut nunmehr beim Amtsgericht Stuttgart namens und im Auftrag des damaligen Beschuldigten seine Beiordnung als Pflichtverteidiger sowie die Gewährung von Akteneinsicht. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart lehnte mit Verfügung vom 22.06.2023 die Gewährung von Akteneinsicht mit der Begründung einer möglichen Gefährdung des Untersuchungszwecks im Sinn von § 147 Abs. 2 S. 1 StPO weiterhin ab. Mit Beschluss vom 07.08.2023 lehnte das Amtsgericht Stuttgart den Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung ab. Das Amtsgericht Stuttgart begründete dies damit, dass zwar ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 StPO vorliege, die Voraussetzungen des § 141 Abs. 1 StPO jedoch nicht gegeben seien, da dem damaligen Beschuldigten der Tatvorwurf noch nicht eröffnet worden sei. Gegen diesen Beschluss legte Rechtsanwalt Pp. mit Schriftsatz vom 11.08.2023 sofortige Beschwerde ein, welche er damit begründete, dass der damalige Beschuldigte auf sonstige Art und Weise von dem Tatverdacht gegen ihn Kenntnis erlangt habe.

Das Landgericht Stuttgart verwarf durch Beschluss vom 21.08.2023 die sofortige Beschwerde als unbegründet und teilte dabei die Auffassung des Erstgerichts. Nach Abschluss der polizeilichen Ermittlungen und Vorlage der vollständigen Akte an die Staatsanwaltschaft Stuttgart wurde Rechtsanwalt Pp. aufgrund deren Verfügung vom 29.11.2023 am 07.12.2023 Akteneinsicht gewährt. Mit undatiertem Schriftsatz, eingegangen bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart am 20.12.2023, stellte Rechtsanwalt Pp. sodann wiederum einen Antrag auf seine Beiordnung als Pflichtverteidiger. Er führte zur Begründung aus, dass er die Akte an seinen Mandanten weitergeleitet habe, so dass dieser nunmehr über den Vorwurf informiert sei, und deshalb lägen spätestens jetzt die Voraussetzungen für die Beiordnung vor. Nachfolgend erging am 09.01.2024 die Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft Stuttgart bezüglich des damaligen Beschuldigten gemäß § 170 Abs. 2 StPO mangels hinreichenden Tatverdachts, worüber Rechtsanwalt Pp. mit Schreiben der Staatsanwaltschaft Stuttgart vom 10.01.2024 in Kenntnis gesetzt wurde. Gleichzeitig wies die Staatsanwaltschaft Stuttgart darauf hin, dass aus ihrer Sicht dem damaligen Beschuldigten der Tatvorwurf nicht im Sinn des § 141 Abs. 1 StPO durch die Gewährung von Akteneinsicht eröffnet worden sei. Rechtsanwalt Pp. beantragte daraufhin mit am 23.01.2024 bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart eingegangenem undatiertem Schriftsatz als Begehren seines Mandanten unter Beibehaltung seiner Auffassung und Berücksichtigung der erfolgten Einstellung nunmehr seine nachträgliche Beiordnung als Pflichtverteidiger. Mit Verfügung vom 24.01.2024 legte die Staatsanwaltschaft Stuttgart die Akten dem Amtsgericht Stuttgart zur Entscheidung vor und trat dem Antrag von Rechtsanwalt Pp. mit der weiteren Begründung entgegen, dass eine nachträgliche Pflichtverteidigerbestellung im vorliegenden Fall nicht möglich sei. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die jeweiligen Schreiben Bezug genommen.

Das Amtsgericht Stuttgart lehnte mit Beschluss vom 31.01.2024 den Antrag von Rechtsanwalt Pp., rückwirkend als Pflichtverteidiger für den ehemaligen Beschuldigten bestellt zu werden, ab. Dieser Beschluss wurde Rechtsanwalt Pp. am 06.02.2024 zugestellt. Rechtsanwalt Pp. legte namens und im Auftrag des ehemaligen Beschuldigten gegen diesen Beschluss am 13.02.2024 sofortige Beschwerde ein. Auf die Gründe des Beschlusses sowie die Begründung im Beschwerdeschriftsatz im Einzelnen wird Bezug genommen. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart beantragte mit Vorlageschreiben vom 15.02.2024, die sofortige Beschwerde zu verwerfen.

Die gemäß § 142 Abs. 7 S. 1 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige (§ 311 Abs. 2 StPO) sofortige Beschwerde ist unbegründet.

Die Voraussetzungen für eine - rückwirkende - Bestellung von Rechtsanwalt Pp. zum Pflichtverteidigers für den ehemaligen Beschuldigten sind im vorliegenden Fall nicht gegeben.
Es lag zwar ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 68 Nr. 1 JGG i. V, m. § 140 Abs. 1 Nr. 1 u. Nr. 2 StPO und § 68 Nr. 5 JGG, § 109 Abs. 1 JGG vor.

Vorliegend kommt auch grundsätzlich eine rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers in Betracht. Eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung nach Verfahrensabschluss war nach der überwiegenden Rechtsprechung zur früheren Rechtslage unzulässig, und zwar auch dann, wenn der Beiordnungsantrag rechtzeitig gestellt wurde, aber versehentlich nicht über ihn entschieden wurde, selbst bei grob fehlerhafter Sachbehandlung (zum Ganzen KK-StPO/Willnow, 9. Aufl. 2023, StPO § 142 Rn. 16 mwN; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, StPO, 67. Aufl. 2024, § 142 Rn. 19 mwN; BGH NStZ-RR 2009, 348). Dies wurde damit begründet, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers diene der ordnungsgemäßen Verteidigung eines Angeklagten sowie der Gewährleistung eines ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs und erfolge nicht im Kosteninteresse eines Angeklagten oder im Interesse eines Verteidigers an einem Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse. Das Ziel einer effizienten Verteidigung könne nachträglich nicht mehr erlangt werden. Die rückwirkende Bestellung führe demnach nicht zu einem Mehr an Rechtsschutz des Angeklagten, sondern lediglich zur Schaffung eines Kostenanspruchs des Rechtsanwalts gegenüber der Staatskasse. Es ist allerdings zweifelhaft, ob diese Judikatur nach dem Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 zur Umsetzung von Art. 4 der RL 2016/1919/EU (PKH-Richtlinie) aufrechterhalten bleibt. Art. 4 PKH-RL verlangt, beschuldigten Personen, die nicht über ausreichende Mittel zur Bezahlung eines Rechtsbeistands verfügen, Anspruch auf Prozesskostenhilfe zu gewähren, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist (vgl. BT-Drs. 19/13829, 21). Hiernach wird teilweise die Auffassung vertreten, auch nach der Umsetzung der PKH-Richtlinie diene die Bestellung des Pflichtverteidigers nicht dem Kosteninteresse des Betroffenen oder seines Verteidigers, sondern verfolge allein den Zweck, im öffentlichen Interesse dafür zu sorgen, dass ein Betroffener in schwerwiegenden Fällen rechtskundigen Beistand erhalte und der ordnungsgemäße Verfahrensablauf gewährleistet sei. Ein Interesse der Rechtspflege an der Beiordnung nach Verfahrensabschluss gebe es nicht, auch nicht, wenn die Bestellung wesentlich verzögert worden sei (zum Ganzen KK-StPO/Willnow aaO mwN). Nach anderer Auffassung sei die Intention des Gesetzgebers und der PKH-RL nicht nur, eine ordnungsgemäße Verteidigung zu gewährleisten, sondern gleichermaßen, mittellose Beschuldigte von den Kosten ihrer Verteidigung freizustellen. Dies spreche dafür, eine rückwirkende Bestellung für zulässig zu erachten, wenn trotz Vorliegens der Voraussetzungen der §§ 140, 141 StPO über den Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung nicht entschieden worden sei (zum Ganzen Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt aaO mwN). Nach der neuen Rechtsprechung des OLG Stuttgart (OLG Stuttgart, Beschluss vom 15.12.2022 -4 Ws 529/22 -, juris StraFo 2023, 234) im Anschluss an die neue Rechtsprechung des OLG Bamberg (OLG Bamberg, Beschluss vom 29.04.2021 - 1 Ws 260/21 - , BeckRS 2021, 14711 = NStZ-RR 2021, 315) ist es ausnahmsweise möglich und geboten, rückwirkend auf den Zeitpunkt der Antragstellung einen Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung vorliegen und der Beiordnungsantrag noch vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, der Antrag aber vor Verfahrensabschluss aus justizinternen Gründen nicht verbeschieden wurde. Nach der Rechtsprechung des OLG Nürnberg zur neuen Rechtslage ist die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers ebenfalls möglich, wenn dessen Bestellung eine wesentliche Verzögerung erfahren hat (OLG Nürnberg, Beschluss vom 06.11.2020 Ws 962/20 - , juris = StV 2021, 153). In der Begründung wird von dieser Rechtsprechung insbesondere ausgeführt, Prozesskostenhilfe bedeute in diesem Zusammenhang die Bereitstellung finanzieller Mittel für die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand, so dass das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand wahrgenommen werde könne (Art. 3 PKH-RL). Geregelt sei nunmehr, dass nicht nur die tatsächliche Verteidigung, sondern auch die Bezahlung des Rechtsbeistands gesichert werden solle. Ziel und Zweck der Regelung sei eine effektive Unterstützung und Absicherung der Verfahrensbeteiligten. Dieser Zweck würde unterlaufen, wenn eine Pflichtverteidigerbestellung nur deswegen versagt werden könne, weil über den Antrag nicht vor Abschluss des Verfahrens entschieden werde. Nicht ohne Grund habe der Gesetzgeber auch in § 141 Abs. 1 S. 1 StPO das Unverzüglichkeitsgebot geschaffen. In der Vorschrift komme der besondere Beschleunigungsbedarf zum Ausdruck, den der Gesetzgeber für eine Pflichtverteidiger-bestellung sehe. Die Kammer schließt sich der letztgenannten Ansicht und insoweit der Rechtsprechung des OLG Stuttgart an. Dies entspricht vorliegend im Ergebnis im Übrigen auch einer im Jugendstrafverfahren vertretenen Meinung, zumindest dort eine im abgeschlossenen Verfahren erforderlich gewesene Bestellung im Fall eines verspätet beschiedenen Antrags auch noch nachträglich vorzunehmen (Eisen-berg/Kölbel-Kölbel, JGG, 24.Aufl. 2023, § 68a Rn. 15 mwN).

Die Voraussetzungen des § 141 Abs. 1 S. 1 StPO liegen jedoch nicht vor, weil dem ehemaligen Beschuldigten der Tatvorwurf nicht eröffnet wurde. Die Kammer vertritt wie bereits im Beschluss vom 21.08.2023 weiterhin die Auffassung, dass die Eröffnung des Tatvorwurfs einen förmlichen Akt der Strafverfolgungsbehörden voraussetzt und es nicht genügt, dass der Betroffenen auf sonstige Art und Weise von einem Tatverdacht Kenntnis erhält. Die Neuregelung der Verteidigerbestellung erfordert auch unter Berücksichtigung der Gesetzgebungsmaterialien keine abweichende richtlinienkonforme Auslegung (zum Ganzen KK-StPO/Willnow, 9. Aufl. 2023, StPO § 141 Rn. 3 mwN; offen gelassen BGH, Beschluss vom 09.02.2023 - StB 3/23 -, juris = NStZ 2023, 686 mwN). Regelmäßig wird der Verfolgungswille der Staatsanwaltschaft im Sinn von § 141 Abs. 1 S. 1 StPO durch die förmliche Bekanntgabe des Ermittlungsverfahrens manifestiert. Relevant ist, wie sich das Verhalten des ermittelnden Beamten nach außen, insbesondere in der Wahrnehmung des Beschuldigten, darstellt (zum Ganzen Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, StPO, 67. Aufl. 2024, § 141 Rn. 3 mwN; BGH, Beschluss vom 09.02.2023 - StB 3/23 - , juris = NStZ 2023, 686 mwN). Die Bestellung eines Pflichtverteidigers setzt gemäß § 141 Abs. 1 S. 1 StPO voraus, dass die betreffende Person Beschuldigter in einem Strafverfahren ist und die Strafverfolgungsbehörde ihr durch amtliche Mitteilung oder auf sonstige Art und Weise die Einleitung gegen sie gerichteter Ermittlungen zur Kenntnis gebracht hat. Vor der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens sowie im Zeitraum noch nicht offen geführter Ermittlungen ist für eine Pflichtverteidigerbestellung kein Raum (zum Ganzen BGH, Beschluss vom 06.08.2024 StB 45/24 - , juris mwN). Anträge auf Pflichtverteidigerbestellung, die ohne vorangegangene förmliche Mitteilung lediglich aufgrund von Mutmaßungen über Ermittlungen gestellt werden, sind unzulässig (KK-StPO/Willnow, 9. Aufl. 2023, StPO § 141 Rn. 3 mwN; Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, StPO, 67. Aufl. 2024, § 141 Rn. 3 mwN; BGH, Beschluss vom 06.08.2024 -StB 45/24 -, juris mwN). In der Gewährung von Akteneinsicht an Rechtsanwalt Pp. lag im vorliegenden Fall keine Eröffnung des Tatvorwurfs gegenüber dem ehemaligen Beschuldigten im Sinn des § 141 Abs. 1 S. 1 StPO. Ein Verteidiger bzw. Beschuldigter hat gemäß § 147 Abs. 1, Abs. 4 S. 1 StPO grundsätzlich ein Akteneinsichtsrecht. Dieses kann gemäß § 147 Abs. 2 S. 1 StPO vor Abschluss der Ermittlungen nur versagt werden, soweit der Untersuchungszweck gefährdet werden könnte. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart gab dem Antrag von Rechtsanwalt Pp. auf Akteneinsicht unter Verweis hierauf zunächst nicht statt, teilte diesem aber mit, die Akteneinsicht werde vorgemerkt. Rechtsanwalt Pp. wiederholte den Akteneinsichtsantrag in der Folge mehrfach mit zum Teil ausführlicher Begründung seines Rechts auf Akteneinsicht. Nach Vorlage der Akte durch die Polizei nach Abschluss deren Ermittlungen wurde Rechtsanwalt Pp. dann durch die Staatsanwaltschaft Stuttgart Akteneinsicht gewährt. Hierdurch wurde, wie sich aus dem geschilderten Verfahrensablauf ergibt, dessen Recht auf Akteneinsicht stattgegeben. Dagegen war seitens der Staatsanwaltschaft Stuttgart vorliegend nicht beabsichtigt, dem ehemaligen Beschuldigten dadurch den Tatvorwurf zu eröffnen. Es erfolgte mit der Gewährung von Akteneinsicht auch in der Wahrnehmung des ehemaligen Beschuldigten - keine Manifestation eines Verfolgungswillens der Staatsanwaltschaft Stuttgart. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart wies Rechtsanwalt Pp. hierauf - wenngleich nachträglich - ausdrücklich hin. Unabhängig hiervon ergibt sich dies ebenfalls aus dem Gang des Verfahrens. Die vorangegangenen polizeilichen Ermittlungen gegen den ehemaligen Beschuldigten hatten sich in Feststellungen zu dessen Person und der Untersuchung dessen Reisepasses auf Echtheit sowie einem augenscheinlichen Vergleich von Lichtbildern von seiner Person mit von einem Zeugen gefertigten Videoaufnahmen von den Tätern und Wahllichtbildvorlagen bei eventuellen Zeuginnen, die zu keinem Ergebnis geführt hatten, erschöpft. Einer polizeilichen Anregung auf Beantragung eines Haftbefehls gegen den ehemaligen Beschuldigten kam die Staatsanwaltschaft Stuttgart nicht nach. Kurze Zeit nach Erledigung des Akteneinsichtsgesuchs von Rechtsanwalt Pp. stellte die Staatsanwaltschaft Stuttgart das Ermittlungsverfahren gegen den ehemaligen Beschuldigten ohne weitere Ermittlungen oder Erkenntnisse gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 74, 109 Abs. 2 JGG.


Einsender: RA T. Schlepps, Dortmund

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