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Entscheidungen

Haftfragen

Invollzugsetzung, Haftbefehl, Wiederholungsgefahr, Beschleunigungsgrundsatz

Gericht / Entscheidungsdatum: OLG Naumburg, Beschl. v. 22.01.2025 - 1 Ws 11/25

Eigener Leitsatz:

Grundsätzlich kann auch bei vermeidbaren erheblichen Verfahrensverzögerungen die erneute Anordnung des Vollzugs der Untersuchungshaft, insbesondere bei hinzutretender Wiederholungsgefahr, verhältnismäßig sein. Aber auch in diesen Fällen ist eine Analyse des konkreten Verfahrensablaufs vorzunehmen, wobei zu bedenken ist, dass Untersuchungshaftverfahren mit der größtmöglichen Beschleunigung durchzuführen sind und grundsätzlich Vorrang vor der Erledigung anderer Strafverfahren haben.


OLG Naumburg

BESCHLUSS

1 Ws 11/25

In der Strafsache

gegen

1.pp.

Verteidiger: Rechtsanwalt Dr. M. Müller, Leipzig, Rechtsanwalt Eifler, Schkeuditz,
2.pp.
3. pp,

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Naumburg am 22. Januar 2025 durch die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und den Richter am Amtsgericht beschlossen:

Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Beschluss des Landgerichts Halle – 3. große Strafkammer – vom 21. November 2024 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Landeskasse trägt die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen der Angeklagten pp und pp..

Gründe:

I.

Das Amtsgericht Halle erließ am 26. August 2021 gegen die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 jeweils Haftbefehl wegen des dringenden Tatverdachts des bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 12 Fällen im Tatzeitraum vom 29. März 2020 bis zum 1. Juni 2020 und stützte die Haftbefehle jeweils auf den Haftgrund der Fluchtgefahr.

Die Angeklagten befanden sich seit dem 25. Januar 2022 in Untersuchungshaft.

Die beiden Haftbefehle wurden auf Antrag der Staatsanwaltschaft Halle durch das Amtsgericht Halle mit Beschlüssen vom 11. Juli 2022 auf die Tatvorwürfe des bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 20 Fällen im Tatzeitraum vom 29. März 2020 bis zum 25. Januar 2022 erweitert.

Das Oberlandesgericht ordnete mit Beschluss vom 26. Juli 2022 die Fortdauer der Untersuchungshaft über die Dauer von 6 Monaten hinaus an.

Mit Anklageschrift vom 1. August 2022 erhob die Staatsanwaltschaft Halle u. a. gegen die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 Anklage wegen der sich bereits aus den Haftbefehlen er-gebenden Tatvorwürfen sowie wegen Geldfälschung und bezüglich des Angeklagten Pp. 1 wegen des Fahrens ohne Fahrerlaubnis.

Das Landgericht Halle – 3. große Strafkammer – ließ mit Beschluss vom 26. September 2022 die Anklage zur Hauptverhandlung zu und eröffnete das Hauptverfahren. Ferner ordnete es die Fortdauer der Untersuchungshaft an.

Die Hauptverhandlung begann am 17. Oktober 2022. Am 25. Januar 2024, dem 49. Verhandlungstag, setzte das Landgericht das Verfahren aufgrund einer längerfristigen Erkrankung einer beisitzenden Richterin aus. Ferner setzte es mit Beschlüssen vom selben Tag den Vollzug der Haftbefehle gegen die Anordnung von Meldeauflagen außer Vollzug. Die Angeklagten wurden am selben Tag aus Untersuchungshaft entlassen.

Seit dem 11. September 2024 befinden sich die Angeklagten in anderer Sache in Untersuchungshaft, nachdem das Amtsgericht Halle gegen sie Haftbefehle (395 Gs 506 Js 37414/24 (526 /24)) und 395 Gs 506 Js 37414/24 (527/24)) wegen des bandenmäßigen Handeltreibens mit 18 kg Cannabis in nicht geringer Menge in drei Fällen in dem Tatzeitraum vom 31. Juli 2024 bis zum 27. August 2024 erlassen hatte. Die Haftbefehle sind auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr gemäß § 112a Abs. 1 StPO gestützt worden.

Das Landgericht Halle – 3. große Strafkammer – hat mit Beschluss vom 21. November 2024 den Antrag der Staatsanwaltschaft Halle vom 24. September 2024 auf Wiederinvollzugsetzung der Haftbefehle des Amtsgerichts Halle in Verbindung mit den Beschlüssen des Amtsgerichts Halle vom 11. Juli 2022 gegen die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 abgelehnt.

Gegen diesen Beschluss richtet sich die Staatsanwaltschaft Halle mit ihrer Beschwerde vom 5. Dezember 2024, die am 9. Dezember 2024 bei dem Landgericht Halle eingegangen ist. Die 3. große Strafkammer des Landgericht Halle hat der Beschwerde ausweislich der Verfügung des Vorsitzenden vom 30. Dezember 2024 nicht abgeholfen und die Sache dem Oberlandesgericht zur Entscheidung vorgelegt.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat mit Zuschrift vom 13. Januar 2024 beantragt, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Haftbefehle wieder in Vollzug zu setzen. Den Angeklagten wurde hierzu rechtliches Gehör gewährt.

Ab dem 1. Januar 2025 fällt das hiesige Strafverfahren in die Zuständigkeit der 18. großen Strafkammer des Landgerichts Halle.

II.

Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Halle ist gemäß § 304 StPO zulässig, bleibt in der Sache aber ohne Erfolg.

Die Voraussetzungen für die Wiederinvollugsetzung der Haftbefehle gegen die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 gemäß § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO sind allerdings grundsätzlich gegeben.

Es liegen im Ausgangspunkt neu hervorgetretene Umstände vor, die den Vollzug der Untersuchungshaft für die Angeklagten erforderlich machen. Die den Angeklagten in dem neuen Strafverfahren und mit den dort ergangenen Haftbefehlen zur Last gelegten Umstände sind neu im Sine der genannten Vorschrift, denn es handelt sich um nach Erlass der Aussetzungsbeschlüsse bekannt gewordene Umstände, die so schwerwiegend sind, dass sie die Gründe der Haftverschonungsbeschlüsse in einem so wesentlichen Punkt erschüttern, dass keine Aussetzung bewilligt worden wäre, wenn sie bei der Entscheidung bereits bekannt gewesen wären (BVerfG, Beschluss vom 17. Dezember 2020, 2 BvR 1787/20; zitiert nach juris; Meyer-Goßner/Schmitt, a. a. O., § 116 Rn. 28).

1. Die allgemeinen Voraussetzungen der Untersuchungshaft gemäß § 112 StPO liegen für die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 vor.

a) Die Angeklagten sind der ihnen in den Haftbefehlen des Amtsgerichts Halle (Saale) in der Fassung vom 11. Juli 2022 (Az.: 397 Gs 506 Js 37493/20 (545/21) sowie 397 Gs 506 Js 37493/20 (544/21)) zur Last gelegten 20 Taten des bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gemäß den §§ 1, 3 Abs. 1, 30a Abs. 1 BtMG auch zurzeit noch dringend verdächtig. Der dringende Tatverdacht bestand bereits zur Zeit der Haftfortdauerentscheidung des Senats vom 26. Juli 2022 (1 Ws HE 14/22 und 1 Ws HE 15/22) und es ist nicht ersichtlich, dass sich an dem ihm zugrundeliegenden Tatsachen im Verlaufe der Durchführung der Hauptverhandlung vor der 3. großen Strafkammer bis zu ihrer Aussetzung etwas geändert hat.

b) Ferner besteht der Haftgrund der Wiederholungsgefahr gemäß § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO.

Diese ergibt sich daraus, dass die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 wenige Monate nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft in hiesiger Sache erneut in drei Fällen mit Cannabis in nicht geringen Mengen, nämlich mit 18 kg, Handel getrieben haben, um sich hierdurch eine laufende Einnahmequelle zu verschaffen (Verbrechen strafbar gemäß §§ 34 Abs. 4 Nr. 3 KCanG, 53 StGB).

Diese erneute Straffälligkeit begründet die Gefahr, dass die Angeklagten Pp. 1 und Pp.2 vor der rechtskräftigen Aburteilung im hier in Rede stehenden Verfahren weitere erhebliche Straftaten gleicher Art begehen werden. Aufgrund der großen Verkaufsmengen, die bereits Gegenstand des hiesigen Verfahrens sind, besteht durch die Wiederholungsgefahr die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der Rechtsordnung. Die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 haben nach ihrer Entlassung aus der Untersuchungshaft in hiesiger Sache bereits wenige Monate später angefangen, erneut mit Cannabis Handel zu treiben. Dadurch haben sie deutlich gemacht, dass sie trotz der langen Untersuchungshaft nicht gewillt sind, auf Einkünfte aus dem Handel mit Betäubungsmitteln zu verzichten.

Durch den illegalen Handel mit Cannabis werden aber hochrangige Rechtsgüter bedroht, denn Ziel des KCanG ist es insbesondere, den Gesundheits- und Jugendschutz zu gewährleisten, indem bestimmte Gruppen nicht legal Cannabis besitzen dürfen und die Konsumenten nur auf Eigenanbau, sei er privat oder durch Anbauvereinigungen, zurückgreifen sollen. Durch den Handel mit Cannabis im Kilogrammbereich – wie vorliegend 18 kg - wird dies jedoch umgangen. Demnach besteht durch Handlungen wie die, die den Angeklagten zur Last gelegt werden, durch zu hohe Wirkstoffgehälter, Verunreinigungen und synthetische Cannabinoide ein erhöhtes Gesundheitsrisiko für Cannabiskonsumenten (vgl. auch Bt-Drucks 20/8704 A).

c) Der nunmehrigen Annahme der Wiederholungsgefahr steht auch nicht die Subsidiaritätsklausel gemäß § 112a Abs. 2 StPO entgegen. Nach dieser Vorschrift findet § 112 a Abs. 1 StPO keine Anwendung, wenn die Voraussetzungen für den Erlass eines Haftbefehls nach § 112 vorliegen und die Voraussetzungen für die Aussetzung des Haftbefehls nach § 116 Abs.1, 2 StPO nicht gegeben sind. Die Haftgründe des § 112 Abs. 2 StPO können aber die Wiederholungsgefahr nur ausschließen, wenn der auf sie gestützte Haftbefehl vollzogen wird. Ist, wie vorliegend, der Vollzug des Haftbefehls gemäß § 116 Abs. 1, 2 StPO mit Auflagen ausgesetzt worden, und, wie vorliegend, die Wiederinvollzugsetzung wegen des Haftgrunds der Fluchtgefahr aus den im angefochtenen Beschluss dargelegten Gründen unverhältnismäßig, ist der Haftgrund der Wiederholungsgefahr relevant (vgl. auch Thüringer Oberlandesgericht, 1 Ws 457/10, Beschluss vom 29. November 2010; zitiert nach juris; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 112a Rn. 17).

2. Wie die Staatsanwaltschaft Halle und die Generalstaatsanwaltschaft geht auch der Senat im Ausgangspunkt davon aus, dass die Wiederinvollzugsetzung der Haftbefehle zur Abwendung der aus der Wiederholungsgefahr folgenden Beeinträchtigung der Rechtsordnung grundsätzlich erforderlich und geboten ist.

Die von der Staatsanwaltschaft beantragte Wiederinvollzugsetzung kann vorliegend allerdings schon aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht erfolgen, da das Verfahren in deutlicher Weise nicht mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt worden ist.

Das aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und Art. 5 Abs. 3 S. 1 und Art. 6 Abs. 1 EMRK folgende Beschleunigungsgebot gilt nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung auch dann, wenn der Haftbefehl nicht vollzogen wird, weil in anderer Sache z.B. Strafhaft oder Untersuchungshaft vollstreckt wird und daher für das anhängige Verfahren lediglich Überhaft notiert ist. Der Umstand, dass der Haftbefehl nicht vollstreckt wird, schwächt das Beschleunigungsgebot zwar ab, hebt es aber nicht auf. Vielmehr sind Zeiten, in denen der Haftbefehl nicht vollzogen wird, zu nutzen, um das Verfahren voranzutreiben und es so schnell wie möglich abzuschließen (KG Berlin, Beschluss vom 20. Oktober 2006, 5 Ws 569/09; OLG Hamm, Beschluss vom 25. Juni 2009, 3 Ws 219/09; KG Berlin, Beschluss vom 22. Februar 2019, 116 HEs 11/19 (4/19); zitiert nach juris).

Vorliegend ist bei der gebotenen Abwägung zu bedenken, dass die Verfahrensverzögerungen im vorliegenden Fall erheblich waren.

Nach der Außervollzugsetzung der Haftbefehle mit Beschluss vom 25. Januar 2024 ist das Verfahren nicht mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt worden bzw. nicht sachlich gefördert worden. Aus dem Vermerk des Vorsitzenden der 3. großen Strafkammer vom 30. Dezember 2024 ergibt sich dies eindrücklich. Nach der Aussetzung der Hauptverhandlung am 24. Januar 2024 hat es der Vorsitzende über Monate hinweg versäumt, mit den Verteidigern neue Termine zur Hauptverhandlung abzustimmen und eine neue Terminierung vorzunehmen. Dies hätte aber unmittelbar nach der im Januar 2024 erfolgten Aussetzung des Verfahrens erfolgen können und müssen.

In der gesamten ersten Jahreshälfte 2024 sind ausweislich des hier maßgeblichen Bandes XXI zur Förderung des Verfahrens und zur Neuterminierung keinerlei Aktivitäten seitens des Vorsitzenden der 3. großen Strafkammer entfaltet. Die Akten enthalten hier lediglich Kommunikation im Zusammenhang mit den Meldeauflagen der Außervollzugsetzungsbeschlüsse.

Mit Verfügung vom 9. Juli 2024 bat der Vorsitzende die Verteidiger um die Nennung von freien Nachmittagen für den Monat September 2024, da ein „Erörterungstermin“ geplant sei. Am 24. September 2024 fand ein Erörterungstermin statt, in dessen Ergebnis eine Verständigung gemäß § 257c StPO wohl nicht zu erwarten war. Auch danach entfaltete der Vorsitzende indes keinerlei Aktivitäten, dem Verfahren Fortgang zu geben.

Mit Verfügung vom 24. September 2024 beantragte die Staatsanwaltschaft die Wiederinvollzugsetzung der Haftbefehle gegen die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2. Auch danach finden sich in den Akten keinerlei Hinweise, auf die Vorbereitung der neuen Hauptverhandlung. Zudem entschied die 3. große Strafkammer des Landgerichts Halle über diesen Antrag erst mit Beschluss vom 21. November 2024. Nicht nachvollzogen kann auch, dass nach dem Eingang der Beschwerde bis zur Nichtabhilfeentscheidung nochmals 3 Wochen vergangen waren. Letztlich vergingen zwischen dem Antrag der Staatsanwaltschaft bis zur Weiterleitung der Akten im Beschwerdeverfahren 3 Monate. Im gesamten Zeitraum finden sich auch nicht im Ansatz Hinweise im Hinblick auf die Vorbereitung der neu durchzuführenden Hauptverhandlung.

Die gänzlich fehlende Verfahrensförderung im Zeitraum zwischen Ende Januar 2024 bis heute und die Nichtanberaumung von Hauptverhandlungsterminen stellt einen so schwerwiegenden Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot dar, dass dieser zur Unverhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft führt und einer Wiederinvollzugsetzung der Haftbefehle gegen die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 entgegensteht.

Dabei kann dahinstehen, ob für den gesamten Zeitraum eine derartige Überlastung der 3. großen Strafkammer bestand, dass die Durchführung der Hauptverhandlung in vorliegender Sache nicht möglich war, wobei die Hinweise des Vorsitzenden in seinem Vermerk vom 30. Dezember 2024 hierzu allerdings nur vage formuliert sind. Die Überlastung der Gerichte fällt nämlich – anders als unvorhergesehene Zufälle oder schicksalhafte Ereignisse – in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft (BVerfG, Beschluss vom 29. November 2005, 2 BvR 1373/05; zitiert nach juris).

Zutreffend weist die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Zuschrift daraufhin, dass auch bei vermeidbaren erheblichen Verfahrensverzögerungen durchaus eine erneute Anordnung des Vollzugs der Untersuchungshaft, insbesondere bei hinzutretender Wiederholungsgefahr, verhältnismäßig sein kann. Solche besonderen Umstände, wie in den von der Generalstaatsanwaltschaft zitierten Entscheidungen des Oberlandesgerichts Zweibrücken und des Oberlandesgerichts Jena dargelegt, sind vorliegend aber nicht gegeben. Das Oberlandesgericht Zweibrücken hatte über einen Fall zu entscheiden, in dem ein Haftbefehl wegen des Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot aufgehoben worden war und nach Durchführung der Hauptverhandlung ein neuer Haftbefehl erlassen worden war. Das Oberlandesgericht Jena erachtete die Haftfortdauer wegen Wiederholungsgefahr trotz schwerwiegender Verfahrensverzögerungen für rechtmäßig, nachdem die Hauptverhandlung noch innerhalb der Sechsmonatsfrist des § 121 Abs. 1 StPO beginnen konnte. Den genannten Entscheidungen ist nicht zu entnehmen, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aus § 120 Abs. 1 StPO für Haftbefehle, die auf den Haftgrund der Wiederholungsgefahr gestützt sind, nicht gilt. Bei der vorzunehmenden Abwägung zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit einerseits und dem Bedürfnis, eine wirksame Straf-verfolgung durchzuführen, ist zwar der Schutz der Allgemeinheit vor neuerlichen Straftaten zu bedenken, dieser Aspekt lässt aber das in Haftsachen geltende Beschleunigungsgebot nicht entfallen. Selbst bei schwersten Tatvorwürfen kann die Verletzung des Beschleunigungsgebots die Aufhebung des Haftbefehls erfordern (BVerfG, Beschluss vom 20. Oktober 2006, 2 BvR 1742/06; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 47. Auflage, § 120 Rn. 3c m. w. N.). Vorliegend ist im Rahmen der Gesamtabwägung zu bedenken, dass sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse des Staates mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft verstärkt (BVerfG, a. a. O.). Vor diesem Hintergrund ist im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch und dem Strafverfolgungsinteresse in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer abzustellen, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann. Nach diesen Grundsätzen ist eine Analyse des konkreten Verfahrensablaufs vorzunehmen, wobei die Untersuchungshaftverfahren mit der größtmöglichen Beschleunigung durchzuführen sind und grundsätzlich Vorrang vor der Erledigung anderer Strafverfahren haben (OLG Hamm, Beschluss vom 1. März 2012, 3 Ws 37/12 m. w. N.; zitiert nach juris).

Der Senat lässt ausdrücklich dahinstehen, ob die vom 17. Oktober 2022 bis zum 22. Januar 2024 an 48 Verhandlungstagen durchgeführte Hauptverhandlung mit der gebotenen Beschleunigung geführt worden ist; durchschnittlich 3 Hauptverhandlungstage pro Monat könnten allerdings dagegensprechen. Gegen die Beachtung des Beschleunigungsgebots könnte auch sprechen, dass die 3. große Strafkammer ihr Beweisprogramm seit Herbst 2023 grundsätzlich abgeschlossen hatte. Der letzte Zeuge, war bereits am 40. Verhandlungstag, dem 27. September 2023, vernommen worden.

Eine nicht hinzunehmende Untätigkeit im Hinblick auf die Organisation einer neuen Hauptverhandlung nach der am 25. Januar 2024 erfolgten Mitteilung über die Erkrankung einer beteiligten Richterin über das gesamte Jahr 2024 hinweg ist jedoch unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt hinnehmbar.

Der Senat verkennt nicht, dass die Straferwartung für die Angeklagten Pp. 1 und Pp. 2 erheblich sein dürfte. Allein der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft im Fall eines Geständnisses der Angeklagten eine Freiheitsstrafe in Höhe von circa 7 Jahren in Aussicht gestellt hat, zeigt dies. Bei einer Prognose zu der Strafzumessung dürfte derzeit von erheblicher Bedeutung sein, dass die Angeklagten dringend tatverdächtig sind, schon kurze Zeit nach der Haftentlassung erneut drei einschlägige Straftaten begangen zu haben. Die Straferwartung führt aber, wie ausgeführt, nicht dazu, das Beschleunigungsgebot entfallen zu lassen.

Sonstige Gesichtspunkte, die eine abweichende Entscheidung rechtfertigen könnten, sind nicht ersichtlich.

III.

Die Kostenfolge folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 467 StPO.


Einsender: RA T. Reuleke, Wernigerode

Anmerkung:


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