Gericht / Entscheidungsdatum: VerfGH Baden-Württemberg, Urt. v. 27.01.2025 - 1 VB 173/21
Eigener Leitsatz:
1. Aus dem Recht auf ein faires Verfahren folgt für den Betroffenen grundsätzlich ein Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen, namentlich der digitalen Falldaten der Messreihe aller Fahrspuren mit Statistikdatei.
2. Die Verteidigung kann grundsätzlich jeder auch bloß theoretischen Aufklärungschance nachgehen.
1 VB 173/21
VERFASSUNGSGERICHTSHOF
FÜR DAS LAND BADEN-WÜRTTEMBERG
Im Namen des Volkes
Urteil
In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde
des Herrn pp.
- Beschwerdeführer -
verfahrensbevollmächtigt:
Rechtsanwälte
gegen
a) das Urteil des Amtsgerichts Stuttgart vom 17. März 2021 - 33 OWi 75 Js 130198/20 (2) - und
b) den Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 12. November 2021 - 4 Rb 23 Ss 736/21 -
hat der Verfassungsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg gemäß § 58 Abs. 1 VerfGHG ohne mündliche Verhandlung am 27. Januar 2025
durch die Richterinnen und Richter
pp.
für Recht erkannt:
Das Urteil des Amtsgerichts Stuttgart vom 17. März 2021 - 33 OWi 75 Js 130198/20 (2) - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg (LV) in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG) in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG sowie Art. 23 Abs. 1 LV (faires Verfahren).
Die Entscheidung wird aufgehoben und die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht Stuttgart zurückverwiesen.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 12. November 2021 4 Rb 23 Ss 736/21 - wird damit gegenstandslos.
Das Land Baden-Württemberg hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
A.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen seine Verurteilung im Bußgeldverfahren wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung sowie die Nichtzulassung seiner Rechtsbeschwerde. Vor und während des gerichtlichen Ordnungswidrigkeitenverfahrens begehrte der Beschwerdeführer erfolglos Zugang zu bestimmten Unterlagen und Messdaten des verwendeten Messgeräts TraffiStar S330. Dieses Messsystem speichert Rohmessdaten nicht dauerhaft und misst - anders als andere Systeme - bei mehrspurigen Straßen jede Fahrspur separat.
1. Der Beschwerdeführer soll mit seinem Pkw am 11. August 2020 auf der Bundesautobahn A8, die an der Messörtlichkeit zweispurig ausgebaut war, die zulässige Höchst-geschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 31 km/h überschritten haben. Im behördlichen Bußgeldverfahren beantragte der Beschwerdeführer über seinen Verfahrensbevollmächtigten mit Schriftsatz vom 11. September 2020 gegenüber dem Regierungspräsidium Karlsruhe, Zentrale Bußgeldstelle (im Folgenden: Bußgeldbehörde), Einsicht in die Ermittlungsakte, die ihm gewährt wurde. Mit weiterem Schreiben vom 6. Oktober 2020 beantragte der Beschwerdeführer darüber hinaus die Überlassung verschiedener, nicht bei der Akte befindlicher Daten und Unterlagen zur Geschwindigkeitsmessung, unter anderem „digitale Falldaten der gesamten Messreihe mit Statistikdatei/Logdatei, Public Key der Messanlage" und „vorhandene Wartungs-, Instandsetzungs- und Eichunterlagen der Messanlage inkl. ggf. vorhandener Lebensakte".
Mit Schreiben vom 12. Oktober 2020 gewährte die Bußgeldbehörde Einsicht in die Gebrauchsanweisung des Messgeräts und übersandte verschiedene Ausdrucke des Messfotos sowie Überprüfungsprotokolle der Verkehrspolizeiinspektion Ludwigsburg betreffend die Messstelle. Hinsichtlich der Messreihe wies sie darauf hin, dass die Übersendung der gesamten Messreihe nicht zulässig sei und diese ausschließlich in den Räumen der Zentralen Bußgeldstelle eingesehen werden könne. Eine gesetzliche Verpflichtung zur Erstellung einer Lebensakte eines Messgeräts bestehe nicht und die Polizei in Baden-Württemberg führe keine Lebensakten.
Mit Schriftsatz vom 15. Oktober 2020 stellte der Verfahrensbevollmächtigte hinsichtlich der nicht überlassenen Daten und Unterlagen einen Antrag auf gerichtliche Ent-scheidung gemäß § 62 OWiG, in welchem ausgeführt wurde, weshalb die beantragten Unterlagen aus Sicht der Verteidigung zur Prüfung des Tatvorwurfs benötigt würden.
Mit Bußgeldbescheid vom 21. Oktober 2020 verhängte die Bußgeldbehörde gegen den 'Beschwerdeführer eine Geldbuße von 120 Euro aufgrund der Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften von 120 km/h um 31 km/h. Eine vorherige Entscheidung über den Antrag nach § 62 OWiG erfolgte nicht. Gegen den Bußgeldbescheid legte der Beschwerdeführer Einspruch ein und begründete diesen. Die Bußgeldbehörde half dem Einspruch nicht ab und gab das Verfahren am 11. Dezember 2020 an die Staatsanwaltschaft Stuttgart ab.
2. Das Amtsgericht Stuttgart gab dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 62 OWiG mit Beschluss vom 11. Januar 2021 in Bezug auf die digitalen Falldaten der gesamten Messreihe mit Statistikdatei/Logdatei und Public Key, die Reparatur- und Wartungsunterlagen der Messanlage für den Zeitraum zwischen letzter Eichung und gegenständlichem Messzeitpunkt, die Bauartzulassung sowie den Beschilderungsplan statt und wies den Antrag im Übrigen zurück.
Am 21. Januar 2021 übersandte die Bußgeldbehörde dem Verfahrensbevollmächtigten des Beschwerdeführers eine DVD, auf welcher sich die digitalen Falldaten der gesamten Messreihe, der Public Key, die Wartungsprotokolle und der Beschilderungs-plan befinden sollten, sowie eine Kopie der Bauartzulassung. Dieser leitete die erhaltenen Daten an einen privaten Sachverständigen weiter, welcher ihn am 24. Februar 2021 darauf hinwies, dass die Daten unvollständig seien. Insbesondere sei die übersandte Messreihe nicht vollständig, da der Datenträger nur Messungen auf dem vom Beschwerdeführer befahrenen Fahrstreifen, nicht jedoch die der übrigen Fahrstreifen enthalte und die Statistikdatei sowie der Beschilderungsplan fehlten.
In der Hauptverhandlung am 17. März 2021 beantragte der (unterbevollmächtigte) Terminsvertreter des Verfahrensbevollmächtigten des Beschwerdeführers mit begründetem schriftlichem Antrag, die noch fehlenden Messunterlagen und Messdaten, unter anderem „digitale Falldaten der gesamten Messreihe (auch der anderen Fahrspuren) mit Statistikdatei/Logdatei", der Verteidigung zur Verfügung zu stellen und das Verfah-ren auszusetzen, bis die Verteidigung die Unterlagen erhalten habe und diese gegebenenfalls durch einen technischen Sachverständigen habe überprüfen können. Weiterhin stellte er einen Beweisantrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens, unter anderem da es bei dem verwendeten Messgerät zu abweichenden Geschwindigkeiten kommen könne, wenn ein Fahrzeug auf mehreren Fahrstreifen gemessen werde. Das Amtsgericht lehnte den Antrag auf Verfahrensaussetzung durch Beschluss ab, da keine Gründe hierfür vorgetragen oder ersichtlich seien. Eine Beiziehung der begehrten Daten und Unterlagen sei nicht angezeigt. Das Gericht könne eine Einsicht in die begehrten Unterlagen nicht gewähren. Den Beweisantrag lehnte das Amtsgericht gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG mit der Begründung ab, die beantragte Beweisaufnahme erscheine zur Wahrheitserforschung nicht erforderlich. Bei dem gegenständlichen Messverfahren handele es sich um ein standardisiertes Messverfahren im Sinne der obergerichtlichen Rechtsprechung. Es würden keine Umstände vorgetragen, die Zweifel an der gegenständlichen Messung im Einzelfall begründen würden.
3. Mit angegriffenem Urteil vom 17. März 2021 verurteilte das Amtsgericht Stuttgart den Beschwerdeführer wegen einer fahrlässigen Ordnungswidrigkeit des Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 31 km/h zu einer Geldbuße von 120 Euro.
Dabei ging das Amtsgericht nach Toleranzabzug von 5 km/h von einer vorwerfbaren Geschwindigkeit von 151 km/h aus und damit von dem Wert, der auch dem Bußgeldbescheid zugrunde gelegt worden war. Nach durchgeführter Beweisaufnahme hätten sich keinerlei Zweifel an der Ordnungsgemäßheit der Messung ergeben. Bei dem gegenständlichen Messverfahren mit dem Messgerät TraffiStar S330 handele es sich um ein standardisiertes Messverfahren. Zweifel an der Richtigkeit dieser im standardisierten Messverfahren durchgeführten Messung hätten sich im Rahmen der Beweisaufnahme nicht ergeben. Aus den Eichscheinen für die Messstelle und den WVZ-Anbindungsrechner für die Geschwindigkeitsüberwachung folge, dass die Messanlage zum Messzeitpunkt ordnungsgemäß und gültig geeicht gewesen sei. Aus dem Messprotokoll gehe hervor, dass die Messanlage entsprechend der Bedienungsanleitung des Herstellers sowie der Bauartzulassung und deren Nachträgen der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt aufgestellt und betrieben worden sei. Aus den Log-Dateien der Wechselverkehrszeichenanlagen folge, dass die für die Messanlage maßgeblichen Wechselverkehrszeichenanlagen zum Tatzeitpunkt für alle Fahrspuren für Pkw eine zulässige Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h angezeigt hätten und daher ebendiese Geschwindigkeitsbegrenzung bestanden habe. Zweifel daran, dass die Wechselverkehrszeichen zum Tatzeitpunkt ordnungsgemäß funktioniert hätten und die vorgenannte Geschwindigkeit für den Betroffenen gut sichtbar angezeigt gewesen sei, hätten sich nicht ergeben.
4. Der Beschwerdeführer stellte am 18. März 2021 Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gegen das Urteil und begründete diesen mit Schriftsatz vom 2. Juni 2021. Zur Begründung des Zulassungsantrags stützte sich der Beschwerdeführer im Wesentlichen darauf, dass durch die Verwertung des Messergebnisses und Anwendung der Grundsätze des standardisierten Verfahrens im Falle des verwendeten Messgeräts, welches Rohmessdaten nicht speichere, die Verteidigung unzulässig beschränkt, ein Beweismittel trotz eines Verwertungsverbots verwendet sowie der Betroffene in dem Recht auf ein faires Verfahren verletzt worden sei. Ferner sei durch die Nicht-überlassung der begehrten (und vorhandenen) Messunterlagen und die Nichtaussetzung des Verfahrens der Betroffene im Recht auf ein faires Verfahren und auf rechtliches Gehör verletzt worden sowie die Verteidigung in unzulässiger Weise beschränkt worden. Auch sei die Ablehnung des Beweisantrags rechtsfehlerhaft und gehörswidrig und verletze die Aufklärungspflicht. Die Rechtsbeschwerde sei gemäß § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG zuzulassen. Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes umfasse die Garantie rechtlichen Gehörs auch, dass ein Betroffener im Falle eines standardisierten Messverfahrens vor Gericht konkrete Anhaltspunkte für Messfehler vortragen könne. Durch die Nichtüberlassung von Messunterlagen werde dem Betroffenen von vornherein die Möglichkeit genommen, sich zur Richtigkeit der Messung Gehör beim Gericht zu verschaffen. Jedenfalls sei unter dem Gesichtspunkt des fairen Verfahrens die Zulassung der Rechtsbeschwerde analog § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG gerechtfertigt. Die Rechtsbeschwerde sei darüber hinaus gemäß § 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG zuzulassen. Die Verwertbarkeit eines Messergebnisses im Rahmen eines standardisierten Messverfahrens, obwohl die zugrundeliegenden Rohmessdaten nicht gespeichert worden seien, sei im Gerichtsbezirk zum maßgeblichen Zeitpunkt der Rechtsmitteleinlegung noch nicht geklärt gewesen.
5. Die Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart beantragte mit Stellungnahme vom 19. Oktober 2021, die Rechtsbeschwerde nicht zuzulassen. Zulassungsgründe im Sinne des § 80 OWiG lägen nicht vor. Die Aufhebung des Urteils wegen Versagung des rechtlichen Gehörs komme nur in solchen Fällen in Betracht, in denen es sich aufdränge und nicht zweifelhaft erscheine, dass ein Urteil einer Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht nicht standhalten würde. Andere (ggf. verletzte) Verfahrensgrundsätze seien einer Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht gleichgestellt und könnten daher grundsätzlich nicht mit einem Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG gerügt werden. Ob eine analoge Anwendung vertretbar sei, wenn der Grundsatz des fairen Verfahrens verletzt sei, könne hier dahinstehen, da die Beanstandung weder unter dem Gesichtspunkt der Gehörsverletzung noch der Verletzung des Anspruchs auf ein faires Verfahren durchdringe. Es sei ferner nicht geboten, die Rechtsbeschwerde zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG) zuzulassen. Insbesondere in der Rechtsprechung sei hinreichend geklärt, dass die Nichtüberlassung von Unterlagen keine Gehörsverletzung begründe. Weiter sei obergerichtlich geklärt, dass die Verwertbarkeit der Ergebnisse von Geschwindigkeitsmessungen im standardisierten Verfahren nicht von der Speicherung von Rohmessdaten abhänge. Auch sei mittlerweile hinreichend in der Rechtsprechung über den Anspruch des Betroffenen auf Zugang zu den nicht bei der Akte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen zu dem ihn betreffenden Messvorgang entschieden. Dabei nahm die Generalstaatsanwaltschaft auf den Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 3. August 2021 im Verfahren 4 Rb 12 Ss 1094/20 Bezug.
Der Beschwerdeführer nahm hierzu nochmals mit Schriftsatz vom 8. November 2021 Stellung und führte in Bezug auf die Zulassung der Rechtsbeschwerde ergänzend aus, dass der zuständige Einzelrichter in dem Verfahren, in welchem der genannte Beschluss vom 3. August 2021 ergangen sei, ausgeführt habe, die Frage einer Einsicht in die nicht bei den Akten befindliche gesamte Messreihe des Tattages sei höchstrichterlich noch nicht geklärt, was zur Zulassung der Rechtsbeschwerde führen müsse. Es sei mit dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes nicht vereinbar, dass die zum Zeitpunkt der Einlegung des Zulassungsantrags gegebenen Zulassungsgründe durch die zwischenzeitliche Klärung der Frage in einem anderen Verfahren entfielen und hierdurch das Rechtsmittel seine Aussicht auf Erfolg verliere.
6. Mit angegriffenem Beschluss vom 12. November 2021, der dem Beschwerdeführer am 20. November 2021 zuging, verwarf das Oberlandesgericht Stuttgart den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde als unbegründet. Zur Begründung verwies es auf die zutreffenden Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft, die auch durch die Gegenvorstellung des Rechtsbeschwerdeführers vom 8. November 2021 nicht entkräftet würden. Auch nach Auffassung des Senats liege ein Zulassungsgrund nicht vor. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes schaffe einen solchen nicht. Unterschiedliche Entscheidungen in Einzelfällen im Bereich des Bagatellordnungsunrechts seien vom Gesetzgeber bewusst in Kauf genommen worden und verstießen nicht gegen den aus Art. 3 Abs. 1 GG folgenden Gleichbehandlungsgrundsatz.
7. Eine Anhörungsrüge wurde gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart nicht erhoben.
Mit seiner am 17. Dezember 2021 beim Verfassungsgerichtshof eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 LV i.V.m. Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG), des An-spruchs auf rechtliches Gehör (Art. 2 Abs. 1 LV i.V.m. Art. 103 Abs. 1 GG), auf effektiven Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 LV i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 23 Abs. 1 LV) und auf den gesetzlichen Richter (Art. 2 Abs. 1 LV i.V.m. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG).
1. Der Beschwerdeführer habe vorliegend einen Anspruch auf Überlassung der im Aussetzungsantrag bezeichneten Unterlagen gehabt, so dass das Amtsgericht ohne Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren kein Urteil habe sprechen dürfen, bevor dem Beschwerdeführer die Unterlagen zur Verfügung gestanden hätten. In Bezug auf die Verteidigungsrechte bei Messverfahren im Straßenverkehr habe das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden, dass der Beschuldigte ein Recht auf möglichst frühzeitigen und umfassenden Zugang zu Beweismitteln und Ermittlungsvorgängen sowie auf die Vermittlung der erforderlichen materiell- und prozessrechtlichen Informationen habe, ohne die er seine Rechte nicht wirkungsvoll wahrnehmen könne. Hierzu gehöre auch der Zugang zu den bei den Ermittlungsbehörden anlässlich des Verfahrens entstandenen Beweismitteln und Ermittlungsvorgängen, die dem Gericht durch die Verfolgungsbehörde nicht vorgelegt worden seien und deren Beiziehung seitens des Fachgerichts unter Aufklärungsgesichtspunkten nicht für erforderlich erachtet werde. In dem Antrag auf Aussetzung der Hauptverhandlung seien die nach Mitteilung der Verteidigung nicht vorgelegten Unterlagen im Einzelnen bezeichnet gewesen. Diese erfüllten auch die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Kriterien; sie stünden in ausreichendem Zusammenhang mit dem Tatvorwurf und hätten - wie im Antrag auf gerichtliche Entscheidung vorgetragen - Relevanz für die Verteidigung.
2. Ein Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren bestehe zudem darin, dass das Amtsgericht das Messergebnis verwertet und seinem Urteil zugrunde gelegt habe, obwohl dieses mangels Speicherung der Rohmessdaten nicht ausreichend hätte über-prüft werden können. Bestehe dem Grunde nach ein Einsichtsrecht in die (Roh-)Mess-daten, würden im Falle der Vernichtung solcher Beweismittel - ob durch das Messgerät selbst oder einen späteren händischen Eingriff des Messbeamten oder der Verwaltungsbehörde - notwendige Verteidigungsrechte unterlaufen und der Grundsatz der Waffengleichheit konterkariert.
3. Schließlich habe das Amtsgericht durch Ablehnung des Beweisantrags auf Einholung eines technischen Sachverständigengutachtens den Anspruch auf rechtliches Gehör sowie das Recht auf ein faires Verfahren verletzt. Der Beweisantrag habe mit der gegebenen Begründung von Verfassungs wegen nicht abgelehnt werden dürfen. Für die Verletzung rechtlichen Gehörs genüge bereits, dass die Nichtberücksichtigung bzw. Ablehnung des Beweisantrags im Prozessrecht keine Stütze finde.
4. Das Oberlandesgericht Stuttgart habe dadurch, dass es die Rechtsbeschwerde nicht zugelassen und die Sache nicht gemäß § 80a Abs. 3 Satz 1 OWiG auf den Senat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen habe, den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz und auf den gesetzlichen Richter verletzt. Die Nichtzulassung der Rechtsbeschwerde sei unter mehreren Gesichtspunkten nicht vertretbar. Unter anderem sei die Verneinung von klärungsbedürftigen Rechtsfragen nicht vertretbar. Vom Bundesverfassungsgericht sei explizit offengelassen worden, welche Unterlagen vom Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Akte befindlichen Informationen umfasst seien und welche Folgen eine Nichtspeicherung bzw. Nichtaufbewahrung dieser Unterlagen habe. Ob sich das Einsichtsrecht auf weitere Daten einer Messreihe einschließlich Statistikdatei erstrecke, sei deshalb weiterhin umstritten. Zwar sei die Frage, ob sich das Einsichtsrecht auf die nicht bei den Akten befindlichen Daten der Messreihe erstrecke, durch den Beschluss des Oberlandesgerichts vom 3. August 2021 grundsätzlich geklärt. Als entscheidender Zeitpunkt für das Bestehen von Zulassungsgründen sei hier aber auf die Einlegung des Zulassungsantrags, also vor Klärung der Frage durch den Senat abzustellen. Bei § 543 Abs. 2 ZPO erkenne die bundesgerichtliche Rechtsprechung von dem Grundsatz, dass maßgebender Zeitpunkt für das Vorliegen der Zulassungsvoraussetzungen der der Entscheidung des Revisionsgerichts sei, eine Ausnahme an, wenn die Erfolgsaussichten für die Zulassung einer Revision durch eine nach Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde er-folgte Entscheidung des Revisionsgerichts in anderer Sache entfallen seien. Diese Grundsätze seien auf § 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG übertragbar.
Das Ministerium der Justiz und für Migration Baden-Württemberg sowie das Ministerium für Verkehr Baden-Württemberg wurden am Verfahren beteiligt.
Der Verfassungsgerichtshof hat die Verfahrensakten des Amtsgerichts Stuttgart und des Oberlandesgerichts Stuttgart beigezogen.
B.
Die Verfassungsbeschwerde ist wegen Verstoßes gegen den aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Grundsatz des fairen Verfahrens (Art. 2 Abs. 1 LV i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG sowie Art. 23 Abs. 1 LV) durch das amtsgerichtliche Urteil aufgrund der versagten Einsicht in die vom Amtsgericht im Beschluss vom 11. Januar 2021 zugesprochenen und von der Bußgeldbehörde nicht herausgegebenen Unterlagen, namentlich die digitalen Falldaten der Messreihe aller Fahrspuren mit Statistikdatei, zulässig (I.) und begründet (II.). Ob darüber hinaus ein weiterer Verfassungsverstoß anzunehmen wäre, kann dahingestellt bleiben
(III.).
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.
1. Sie wurde mit am 17. Dezember 2021 beim Verfassungsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg eingegangenem Schriftsatz vom 9. Dezember 2021 fristgerecht innerhalb eines Monats nach Zugang der verfahrensabschließenden Entscheidung des Oberlandesgerichts Stuttgart am 20. November 2021 eingelegt, § 56 Abs. 2 VerfGHG.
Da eine Verfassungsbeschwerde nach § 55 Abs. 2 VerfGHG erst nach Erschöpfung des fachgerichtlichen Rechtswegs zulässig ist, bestimmt in der Regel die Mitteilung der letztinstanzlichen Entscheidung den Beginn der Monatsfrist; das gilt auch, wenn neben der letztinstanzlichen Entscheidung auch Entscheidungen der Vorinstanzen oder vorangegangene Behördenentscheidungen angegriffen werden (vgl. zur gleichlautenden Regelung im BVerfGG: BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 26.6.2007 - 1 BvR 1877/01 -, Juris Rn. 9; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 25.11.2008 - 1 BvR 848/07 -, Juris Rn. 27). Offensichtlich unzulässige Rechtsbehelfe, die nicht zu dem nach § 55 Abs. 2 VerfGHG zu erschöpfenden Rechtsweg gehören, sind allerdings nicht geeignet, den Beginn der Monatsfrist hinauszuschieben (st. Rspr. des BVerfG, vgl. Beschluss des Ersten Senats vom 25.11.2008 - 1 BvR 848/07 - Juris Rn. 33; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4.6.2018 - 1 BvR 1180/17 -, Juris Rn. 5). Offensichtlich unzulässig und deshalb aussichtslos ist ein Rechtbehelf vor den Fachgerichten aber jeweils nur dann, wenn der Beschwerdeführer aus der Sicht einer verständigen Prozesspartei nach dem Stand von Rechtsprechung und Lehre zum Zeitpunkt der Einlegung seines Rechtsbehelfs über dessen Unzulässigkeit und mangelnde Erfolgsaussichten nicht im Ungewissen sein konnte (VerfGH, Beschluss vom 14.8.2022 - 1 VB 10/19 -, Juris Rn. 27; st. Rspr. des BVerfG, vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 30.6.2009 - 1 BvR 893/09 -, Juris Rn. 16; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 11.2.2009 - 1 BvR 3582/08 -, Rn. 13).
Hiernach begann die einmonatige Frist mit Zustellung der Entscheidung des Oberlandesgerichts über den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde. Denn auch wenn das Oberlandesgericht diesen mangels Vorliegens von Zulassungsgründen verworfen hat, so ist nicht ersichtlich, dass das eingelegte Rechtsmittel von vornherein aussicht-los war und nicht zu einer Nachprüfung des amtsgerichtlichen Urteils und damit einer Korrektur der geltend gemachten Rechtsverletzung durch das Oberlandesgericht hätte führen können. Denn zum Zeitpunkt seiner Einlegung war die Entscheidung des Ober-landesgerichts in dem anderen Verfahren, aufgrund derer die Generalstaatsanwaltschaft und ihr folgend das Oberlandesgericht das Bestehen einer klärungsbedürftigen Rechtsfrage und damit den Zulassungsgrund der Fortbildung des Rechts ablehnten, noch nicht ergangen, so dass von der Zulassung der Rechtsbeschwerde auszugehen gewesen wäre.
2. Auch wahrt die Verfassungsbeschwerde die Anforderungen an die Erschöpfung des Rechtswegs und die materielle Subsidiarität (§ 55 Abs. 2 Satz 1 VerfGHG). Nach ständiger verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung muss der Beschwerdeführer nach dem Grundsatz der Subsidiarität über die Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinne hinaus alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreifen, um die Korrektur der geltend gemachten Rechtsverletzung durch die Fachgerichte zu erwirken oder eine Rechtsverletzung zu verhindern (VerfGH, Urteil vom 16.1.2023 - 1 VB 38/18 -, Juris Rn. 27 m.w.N.).
a) Zwar hat der Beschwerdeführer gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts keine Anhörungsrüge nach § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 356a StPO erhoben. Eine solche war jedoch weder zur Rechtswegerschöpfung noch aus Subsidiaritätsgründen erforderlich, da mit der Verfassungsbeschwerde keine (eigenständige) Gehörsverletzung durch das Oberlandesgericht, sondern lediglich eine vom Amtsgericht begangene und durch das Rechtsbehelfsgericht nicht geheilte Gehörsverletzung gerügt wird. Für solche sog. perpetuierte Gehörsverstöße ist die Anhörungsrüge nicht statthaft (vgl. BVerfG, der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 7.2.2023 - 2 BvR 1057/22 -, Juris Rn. 24) und daher auch nicht Zulässigkeitsvoraussetzung für eine später erhobene Verfassungsbeschwerde.
b) Des Weiteren hat der Beschwerdeführer die Anforderungen an die materielle Subsidiarität erfüllt, indem er im Rahmen des Ordnungswidrigkeitenverfahrens seinen Anspruch auf Informationszugang rechtzeitig und in hinreichendem Maße verfolgt hat. So hat er die Herausgabe bzw. Zugänglichmachung der von ihm für erforderlich gehaltenen Daten bereits gegenüber der Verwaltungsbehörde beantragt und nach Ablehnung der Herausgabe durch diese einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 62 Abs. 1 Satz 1 OWiG gestellt. Auch im gerichtlichen Verfahren hat er - nach Feststellung der Unvollständigkeit der von der Verwaltungsbehörde übermittelten Daten - sein Einsichtsbegehren in der Hauptverhandlung und nach Erlass des amtsgerichtlichen Urteils weiterverfolgt.
Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet.
Das Urteil des Amtsgerichts Stuttgart vom 17. März 2021 verletzt den Beschwerdeführer in seinem Recht auf ein faires Verfahren, indem das Amtsgericht dessen Antrag auf Einsichtnahme in die digitalen Falldaten der Messreihe aller Fahrspuren mit Statistikdatei abgelehnt hat.
1. Wie das Bundesverfassungsgericht in mehreren Kammerbeschlüssen festgestellt hat, folgt aus dem Recht auf ein faires Verfahren grundsätzlich ein Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12.11.2020 - 2 BvR 1616/18 -, Juris Rn 49 ff.). Hierbei handelt es sich nicht um eine Frage der gerichtlichen Aufklärungspflicht, sondern der Verteidigungsmöglichkeiten des Betroffenen (BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 28.4.2021 - 2 BvR 1451/18 -, Juris Rn. 5, und vom 4.5.2021 - 2 BvR 277/19 und 2 BvR 868/20-, jeweils Juris Rn. 5). Der Verfassungsgerichtshof hat sich mit Urteil vom 16. Januar 2023 dem angeschlossen (VerfGH, Urteil vom 16.1.2023 - 1 VB 38/18 - Juris Rn. 32-36):
a) Zu den wesentlichen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens zählt das Recht auf ein faires Verfahren (BVerfG, Beschluss vom 3.6.1969 - 1 BvL 7/68 -, BVerfGE 26, 66, 71, Juris Rn. 22). Als ein unverzichtbares Element der Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens und daran anknüpfender Verfahren gewährleistet es dem Betroffenen, prozessuale Rechte und Möglichkeiten mit der erforderlichen Sachkunde selbständig wahrzunehmen und Übergriffe der rechtsstaatlich begrenzten Rechtsausübung staatlicher Stellen oder anderer Verfahrensbeteiligter angemessen abwehren zu können (vgl. hierzu sowie zum Folgenden: BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12.11.2020 - 2 BvR 1616/18 -, Juris Rn. 32 - 35, jeweils m.w.N.). Der Anspruch auf ein faires Verfahren ist durch das Verlangen nach verfahrensrechtlicher „Waffengleichheit" von Ankläger und Beschuldigtem gekennzeichnet und dient damit in besonderem Maße dem Schutz des Beschuldigten, für den bis zur Verurteilung die Vermutung seiner Unschuld streitet. Dabei enthält das Recht auf ein faires Verfahren keine in allen Einzelheiten bestimmten Ge- oder Verbote; vielmehr bedarf es der Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten. Eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren liegt erst dann vor, wenn eine Gesamtschau auf das Verfahrensrecht - auch in seiner Auslegung und Anwendung durch die Fachgerichte -ergibt, dass rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen worden sind oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben worden ist (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 12.1.1983 - 2 BvR 864/81 -, BVerfGE 63, 45, 61, Juris Rn. 51).
Im Rechtsstaat darf der Betroffene nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein; ihm muss die Möglichkeit gegeben werden, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 18.10.1983 - 2 BvR 462/82 -, BVerfGE 65, 171, 174 f., Juris Rn. 15). Dabei wendet sich das Gebot zur fairen Verfahrensgestaltung nicht nur an die Gerichte, sondern ist auch von allen anderen staatlichen Organen zu beachten, die auf den Gang eines Strafverfahrens Einfluss nehmen, demgemäß auch von der Exekutive, soweit sie sich rechtlich gehalten sieht, bestimmte Beweismittel nicht freizugeben (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 26.5.1981 - 2 BvR 215/81 -, BVerfGE 57, 250, 283, Juris Rn. 75). Ein rechtsstaatliches und faires Verfahren fordert daher „Waffengleichheit" zwischen den Verfolgungsbehörden einerseits und dem Beschuldigten andererseits. Der Beschuldigte hat deshalb ein Recht auf möglichst frühzeitigen und umfassenden Zugang zu Beweismitteln und Ermittlungsvorgängen und auf die Vermittlung der erforderlichen materiell- und prozessrechtlichen Informationen, ohne die er seine Rechte nicht wirkungsvoll wahrnehmen könnte (vgl. BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30.3.2004 - 2 BvR 1520/01 -, BVerfGE 110, 226, 253, Juris Rn. 103). Aus dem Recht auf ein faires Verfahren folgt hiernach, dass der Beschuldigte eines Strafverfahrens neben der Möglichkeit, prozessual im Wege von Beweisanträgen oder Beweisermittlungsanträgen auf den Gang der Hauptverhandlung Einfluss zu nehmen, grundsätzlich auch das Recht hat, Kenntnis von solchen Inhalten zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlung entstanden sind, aber nicht zur Akte genommen wurden (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 12.1.1983 - 2 BvR 864/81 -, BVerfGE 63, 45, 66, Juris Rn. 63 ff.). Dadurch werden seine Verteidigungsmöglichkeiten erweitert, weil er selbst nach Entlastungsmomenten suchen kann, die zwar fernliegen mögen, aber nicht schlechthin auszuschließen sind. Während so regelmäßig dem Informationsinteresse des Beschuldigten genügt ist, ist gleichwohl gewährleistet, dass der Ablauf des gerichtlichen Verfahrens nicht durch eine sachlich nicht gebotene Ausweitung der Verfahrensakten unverhältnismäßig erschwert oder sogar nachhaltig gefährdet wird (BVerfG a.a.O., Rn. 65).
Die möglicherweise außerhalb der Verfahrensakte gefundenen entlastenden Informationen können von der Verteidigung zur fundierten Begründung eines Antrags auf Bei-ziehung vor Gericht dargelegt werden. Der Beschuldigte kann so das Gericht, das von sich aus diese Informationen nicht beizieht, auf dem Weg des Beweisantrages oder Beweisermittlungsantrages zur Heranziehung veranlassen (vgl. BVerfG a.a.O., Rn. 68 ff.).
b) Diese für das Strafverfahren geltenden Grundsätze können auf das Ordnungswidrigkeitenverfahren übertragen werden (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12.11.2020 - 2 BvR 1616/18 -, Juris Rn. 53 f.). Die technische Komplexität der bei Geschwindigkeitsmessungen zum Einsatz kommenden Messmethoden und die bei standardisierten Messverfahren verringerten Anforderungen an die Beweiserhebung und die Urteilsfeststellungen der Fachgerichte lassen das Bedürfnis der Betroffenen am Zugang zu weiteren die Messung betreffenden Informationen nachvollziehbar erscheinen. Wenn der Betroffene demnach geltend macht, er wolle sich selbst Gewissheit darüber verschaffen, dass sich aus den dem Gericht nicht vorgelegten In-halten keine seiner Entlastung dienenden Tatsachen ergeben, wird ihm die durch seinen Verteidiger vermittelte Einsicht grundsätzlich zu gewähren sein. Hieraus folgt allerdings kein unbegrenztes Recht auf Zugang zu außerhalb der Akten befindlichen Informationen, vielmehr müssen diese hinreichend konkret benannt sein und einen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeiten-vorwurf aufweisen. Entscheidend ist, ob der Betroffene eine Information verständiger Weise für die Beurteilung des Ordnungswidrigkeitenvorwurfs für bedeutsam halten darf. Die Verteidigung kann grundsätzlich jeder auch bloß theoretischen Aufklärungschance nachgehen, wohingegen die Bußgeldbehörden und schließlich die Gerichte von einer weitergehenden Aufklärung gerade in Fällen standardisierter Messverfahren grundsätzlich entbunden sind. Es kommt deshalb insofern nicht darauf an, ob die Bußgeldbehörde oder das Gericht die in Rede stehende Information zur Überzeugung von dem Verstoß für erforderlich erachtet (BVerfG a.a.O. Rn. 57).
2. Das Amtsgericht hat vorliegend nicht beachtet, dass aus dem Recht auf ein faires Verfahren für den Beschwerdeführer grundsätzlich ein Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen, vorliegend namentlich den digitalen Falldaten der Messreihe aller Fahrspuren mit Statistikdatei, folgt. Dieser Anspruch verpflichtet nicht etwa das Gericht, die geforderten Unterlagen aufgrund seiner Aufklärungspflicht beizuziehen und zu prüfen, sondern entspringt allein dem Recht des Betroffenen, die Grundlagen des gegen ihn erhobenen Vorwurfs einzusehen und selbst zu prüfen.
Zwar wies das Amtsgericht Stuttgart zunächst mit Beschluss vom 11. Januar 2021, mit welchem es über den Antrag auf gerichtliche Entscheidung des Beschwerdeführers nach § 62 Abs. 1 Satz 1 OWiG entschied, die Bußgeldbehörde an, dem Verteidiger des Beschwerdeführers die fraglichen Unterlagen zur Einsichtnahme zur Verfügung zu stellen, und wahrte damit das Zugangsrecht des Beschwerdeführers. Allerdings erfolgte die Zurverfügungstellung der Daten durch die Bußgeldbehörde am 21. Januar 2021 nur unvollständig, was der Beschwerdeführer durch den von ihm beauftragten Sachverständigen am 24. Februar 2021 erfuhr und in der Hauptverhandlung am 17. März 2021 rügte. Den dort vom Beschwerdeführer gestellten Einsichts- und Aussetzungsantrag wies das Amtsgericht mit der Begründung zurück, dass eine Beiziehung der begehrten Daten und Unterlagen nicht angezeigt sei und eine Einsicht in die begehrten Unterlagen „von hier aus" nicht gewährt werden könne. Diese Behandlung ging am eigentlichen Begehren des Beschwerdeführers, nämlich die bei der Bußgeld-behörde vorhandenen Daten und Unterlagen von dieser zu erhalten und sie eigenständig durch einen Sachverständigen überprüfen zu lassen (so ausdrücklich auch im An-trag vom 17. März 2021), anstelle sie zum Bestandteil der Verfahrensakten und zum möglichen Gegenstand einer gerichtlichen Beweisaufnahme zu machen, vorbei. Im Ergebnis missachtete das Amtsgericht dadurch den vom Bundesverfassungsgericht aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens hergeleiteten Anspruch auf Zugang zu den im Zusammenhang mit dem festgestellten Geschwindigkeitsverstoß vorhandenen In-formationen, auch wenn sich diese außerhalb der Verfahrensakten befinden.
Soweit in der Stellungnahme des Ministeriums für Verkehr zur Verfassungsbeschwerde Zweifel an der Verteidigungsrelevanz der digitalen Falldaten der anderen Fahrspur sowie der Statistikdatei vorgebracht werden, greifen diese nicht durch. Die Verteidigung kann grundsätzlich jeder auch bloß theoretischen Aufklärungschance nachgehen (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12.11.2020 2 BvR 1616/18 -, Juris Rn. 57). Angesichts des durch ein Privatgutachten untermauerten Vorbringens des Beschwerdeführers im fachgerichtlichen Verfahren, auf das die Verfassungsbeschwerde verweist, zu unterschiedlichen Messergebnissen bei Fahr-zeugen, die auf zwei Fahrstreifen gemessen wurden, erscheint eine derartige Aufklärungschance nicht ausgeschlossen. Im Übrigen ergibt sich aus den angegriffenen Entscheidungen nicht, dass die fraglichen Daten nicht verteidigungsrelevant wären. Vielmehr hat selbst das Amtsgericht deren Verteidigungsrelevanz bei Erlass des Beschlusses vom 11. Januar 2021 als gegeben angesehen und ist von dieser Auffassung auch nicht erkennbar abgerückt. Jedenfalls erfolgte die Zurückweisung des Aussetzungsantrags aus anderen Gründen. Allerdings ist nicht ausgeschlossen, dass sich die Verteidigungsrelevanz der begehrten Informationen aufgrund künftiger Erkenntnisse anders darstellen kann.
Da die Verfassungsbeschwerde bereits wegen Verstoßes gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens aus Art. 2 Abs. 1 LV i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG sowie Art. 23 Abs. 1 LV infolge der Nichtherausgabe von bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Messunterlagen Erfolg hat und das amtsgerichtliche Urteil deshalb verfassungswidrig ist, bedarf es keiner Entscheidung über die weiteren Rügen des Beschwerdeführers. Insbesondere bedarf es keiner weiteren Prüfung der gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts vorgebrachten Einwände. Selbst wenn diese Rügen durchgreifen würden, wäre dennoch - schon aus Gründen der weiteren Tatsachenaufklärung - eine Zurückverweisung an die erste Instanz angezeigt.
C.
Hiernach ist festzustellen, dass das Urteil des Amtsgerichts Stuttgart vom 17. März 2021 - 33 OWi 75 Js 130198/20 (2) - den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf ein faires Verfahren aus Art. 2 Abs. 1 LV i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG sowie Art. 23 Abs. 1 LV verletzt (§ 59 Abs. 1 Satz 1 VerfGHG). Die angegriffene Entscheidung ist aufzuheben und die Sache an das Amtsgericht Stuttgart zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen (§ 59 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. § 55 Abs. 2 Satz 1 VerfGHG). Der Beschluss des Oberlandesgerichts vom 12. November 2021, mit dem der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde verworfen wurde, wird dadurch gegenstandslos. Der Ausspruch über die Erstattung der notwendigen Auslagen folgt aus § 60 Abs. 3 VerfGHG.
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